Münchener Staatsanwaltschaft klagt erst einmal das Gewaltopfer an und stellt das Verfahren gegen die Täter ein

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 04.10.2011

Bernd Kastner berichtet heute in der Süddeutschen über einen Fall, der Dank des OLG München noch einmal glimpflich ausgegangen ist. StA und Generalstaatsanwaltschaft waren mit oberflächlichen polizeilichen Ermittlungen zufrieden, und klagten das von einem Supermarktinhaber zusammengeschlagene Opfer wegen Ladendiebstahls und falscher Verdächtigung an.

Was war passiert? Zwei Markt-Mitarbeiter, der 41-jährige Chef und ein 23-jähriger Verkäufer, behaupteten, der "Dieb" habe versucht abzuhauen. Dabei sei er gegen eine Wand gerannt und habe sich am Kopf verletzt. Eine Nachbarin, die vom Balkon aus das Geschehen beobachtet haben will, bestätigte dies. Abdul M. erzählt eine andere Geschichte: Er sei in den Hinterhof des Markts gebeten worden, wo ihm ein Mitarbeiter angeboten habe, nicht die Polizei zu verständigen, wenn er 500 Euro Strafe zahle. M. aber wollte die Sache durch die Polizei klären lassen.

(...) Der Verkäufer habe ihn festgehalten, während der Chef ihm mit einem Knüppel in die Kniekehlen und auf den Kopf geschlagen habe. Stark blutend alarmierte M. die Polizei, ein Krankenwagen brachte ihn in die Klinik. Diagnose: eine acht Zentimeter lange Kopfplatzwunde, ein Schädelhirntrauma, ein Hämatom an der Kniekehle, Pulsieren im Kopf, Angstgefühle, Schlaflosigkeit. (Quelle)

Obwohl die konkreten Verletzungen des Opfers auf anderes hinwiesen, glaubten Polizei und Staatsanwaltschaft den Beteuerungen der  Täter, das Opfer sei ein Ladendieb, der bei der Flucht gegen eine Wand gelaufen sei.  Ein beantragtes rechtsmedizinisches Gutachten wurde mehrfach abgelehnt, das Verfahren gegen die Täter eingestellt. Glücklicherweise wurde es einer der seltenen Fälle, in denen ein Klageerzwingungsverfahren erfolgreich betrieben wurde: 

Das OLG hat auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der beiden Entlastungszeugen: Die Nachbarin sei offenbar eine Bekannte des Beschuldigten; und der Verkäufer hätte nicht als Zeuge, sondern als Beschuldigter geführt werden müssen, belehrt das OLG die Staatsanwaltschaft. Schließlich soll dieser den vermeintlichen Ladendieb gehalten haben, während der Chef zugeschlagen habe.

Erst jetzt forderte die Staatsanwaltschaft die Kripo auf, weitere Zeugen zu vernehmen; erst jetzt wurden Fotos vom Tatort angefertigt; erst jetzt wurde geklärt, wie die Nachbarin zu den Schlägern steht. Und siehe da: In einer Vernehmung gab die Frau zu, gelogen zu haben, M. sei mit Brettern geschlagen worden. (...)

Knapp zwei Jahre nach der Tat erging erneut Anklage, nun gegen den Supermarkt-Chef und den Verkäufer. Vor dem Amtsgericht gestanden die Angeklagten nun die Schläge, verurteilt wurde der eine zu einem Jahr, der andere zu neun Monaten Haft auf Bewährung. Sie verpflichteten sich, dem Opfer 1500 Euro zu zahlen.

Wenn die Darstellung in der SZ zutrifft,  fast schon peinliche Ermittlungen, eines Rechtsstaats unwürdig. Aber, laut Staatsanwaltschaft:

Zum jeweiligen Zeitpunkt sei jede Entscheidung nachvollziehbar gewesen. Den Vorwurf, schlampig ermittelt zu haben, kommentieren die Ermittler nicht.

Hoffentlich ein bedauerlicher Einzelfall.

 

 

 

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7 Kommentare

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Keineswegs ein Einzelfall, sondern in der Praxis eher die Regel denn die Ausnahme. Wenn sich Bürger wechselseitig beschuldigen, Straftaten begangen zu haben, muß sich die Staatsanwaltschaft entscheiden, wessen Geschichte sie für glaubhafter hält.  Dabei scheint es einige Grundregeln zu geben:

 

1. Wer zuerst Anzeige erstattet (und wenn auch nur Minuten früher), ist Zeuge, der Angezeigte ist Beschuldigter. Ihm ist fortan nicht mehr zu glauben. Seine Geschichte ist eine "Schutzbehauptung" eines überführten Straftäters.

 

2. Ist einer der Anzeigeerstatter vorbestraft, ist dem anderen zu glauben. Sind beide oder ist keiner vorbestraft, gilt Regel Nr. 1.

 

Auch Nothelfern kann man als Anwalt oftmals nur empfehlen, künftig von zivilcouragierten Eingriffen zugunsten von Verbrechensopfern Abstand zu nehmen. Denn oftmals sieht sich der Nothelfer sodann in der Rolle des Angeklagten. Ein (typischer) aktueller Fall aus meiner Praxis: Ein Mann verprügelt auf offener Straße eine Frau. Der Mandant eilt der Frau zur Hilfe, schubst den Angreifer beiseite, wodurch dieser unsanft auf den Hinterkopf fällt (unstreitiger Sachverhalt).

 

Preisfrage: Wer wird angeklagt?

Antwort:  Natürlich der Nothelfer, da dieser die Grenzen der erlaubten Nothilfe überschritten habe. Einstellung des Verfahrens gegen den Frauenprügler, da man ihn noch als Zeugen benötigt. Am Ende Einstellung des Verfahrens gegen meinen Mandanten nach § 153 Abs. 2 StPO.

 

Notwehr und Nothilfe gibt es im deutschen Strafrecht praktisch nicht mehr. Die Grenzen der Notwehr sind praktisch immer überschritten. Das Schulbeispiel zur Notwehr, nämlich das (gerechtfertigte) Diebstahlsopfer, das wegen 10 Euro auf den fliehenden Täter schießt,  ist praxisfern.  In der Praxis würde das Verfahren gegen den Dieb eingestellt, der sich wehrende Bestohlene würde wegen (nicht gerechtfertigten) versuchten Totschlags angeklagt.

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Sehr geehrter Herr Blumenthal,

danke für Ihren Kommentar:

Allerdings hatte im obigen Fall (wohl) das Opfer die Polizei als Erster benachrichtigt.

Zur Notwehr habe ich gerade einen weiteren Beitrag eingestellt, hier.

Dem Dieb wegen zehn Euro hinterherzuschießen würde aber wohl zu Recht als nicht mehr gebotene Notwehr angesehen (krasses Missverhältnis).

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Ein bedauerlicher Einzelfall von tausenden.
Die deutsche Justiz ist für die vielen vielen tausend bedauerlicher Einzelfälle nunmal berüchtigt...

Wurden in München nicht auch die Geschwister Scholl hingerichtet?

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Werter Herr Blumenthal!

In Ihrer Täter-Opfer-Entscheidungsfindung vermisse ich den Sonderfall Polizei.

Die Polizei kann grundsätzlich NIE Täter sein. Auch ein evtl. erbrachter Videobeweis (auch schon mal in HD-Qualität), der zu einer anderen Auffassung kommt, kann diesen Grundsatz nicht kippen. Auch  wenn Regel Nr. 1 für das vermeintliche Opfer sprechen würde wird dessen Anzeige eingestellt und Anklage nach § 113 StGB erhoben.

 

Aber was beschäftigen wir uns hier mit diesen bedauerlichen Einzelfällen...

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@non nomen, @Herr Kress,

Jeder Einzelfall hat seine Bedeutung und sollte analysiert werden. Evtl. systematische Fehler zu erkennen und abzustellen wäre dann eine wichtige Konsequenz. Deshalb ist auch die Beschäftigung mit Einzelfällen bedeutsam.

Zeit, Ort und Hintergrund der Hinrichtung der Geschwister Scholl sind hingegen m.E. für diese Debatte weniger relevant. Verurteilt wurden sie vom "Volksgerichtshof" (Näheres dazu hier).

Das Geschwisterpaar Hans und Sophie Scholl wurde am 18. Februar 1943 beim Auslegen von Flugblättern an der Münchner Universität von deren Hausmeister Jakob Schmid überrascht und bei der Gestapo denunziert. Bereits am 22. Februar 1943 wurden sie vom Volksgerichtshof unter der Leitung von Roland Freisler zum Tod verurteilt und noch am selben Tage im Gefängnis München-Stadelheim mit der Guillotine enthauptet. Ihr Grab befindet sich auf dem dortigen Friedhof am Perlacher Forst (Grab Nr. 73-1-18/19).

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Geschwister_Scholl

Die Justiz biegt es sich eben zurecht, wie es gerade am besten passt. Und sie kann dabei ganz furchtbar sein. Und -wenn sie will- auch furchtbar schnell.

 

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@Prof. Dr. Müller

 

Deshalb habe ich es ja bei einem versuchten Totschlag belassen. Im übrigen kann uns "Schmidhäuser-Jünger" diese ungerechtfertigte Einschränkung des Notwehrrechts nicht überzeugen. ;-)   Völlig zurecht gilt das Notwehrrecht als "John-Wayne-Prinzip" des deutschen Strafrechts: erst schießen, dann fragen.

 

Wer will auch beurteilen, ab welchen Wert eine lebensgefährliche Notwehrhandlung verhältnismäßig ist? Sind 10,- Euro Beute ausreichend? Oder darf man erst ab einem Wert von 1000,- Euro schießen?  Woher soll der in Notwehr Handelnde, vom uneingeschränkten Notwehrrecht ausgehend, die jeweils maßgebliche Wertgrenze kennen? Wer bestimmt den Wert der Beute nachträglich? Ein Sachverständiger im Gerichtsverfahren? Macht sich der in Notwehr handelnde daher leider strafbar, wenn der Sachverständige die Beute auf einen Wert von 987,35 Euro taxiert und der vermeintliche Grenzwert nicht überschritten ist? Wie verhält es sich mit Gegenständen, die keinen hohen Sachwert, aber einen großen ideellen Wert haben, etwa die Tagebücher der Vorfahren oder Ihr in Jahren der Forschung erstelltes Manuskript für eine neue Publikation?

 

Solche Abwägungen führen aus meiner Sicht zu völlig unkalkulierbaren Ergebnisen und einer Abwertung des Notwehr und Nothilferechts. Auch deshalb greifen die Menschen trotz aller Appelle an die Zivilcourage bei Mißhandlungen und Schlägereien nicht ein. Die Gefahr selbst verletzt und am Ende sogar noch angeklagt zu werden, ist viel zu groß.

 

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