Strafverfolgung VOR der Tat - steht "Precrime" in den USA vor der Verwirklichung?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 11.10.2011

Spiegel-Online berichtet heute mit Anspielungen auf den Spielberg-Film "Minority Report" mit Tom Cruise (2002) - basierend auf  dem gleichnamigen Roman von Philip K. Dick (1956) - das US-Heimatschutzministerium sei dabei, ein System zu entwickeln, um Verbrechen vor deren Verübung zu detektieren und zu verhindern. Zitat (SPON):

Das Electronic Privacy Information Center (Epic) hat eine entsprechende Anfrage im Rahmen des amerikanischen Freedom of Information Act gestellt, der jedem US-Bürger Zugang zu Behördendokumenten zusichert. Die nun veröffentlichten Informationen zeigen, dass die entsprechenden Daten durch eine "Future Attribute Screening Technology" (FAST) genannte Technik erbracht werden sollen (PDF).

Demnach soll FAST verdächtige Personen erkennen, indem Kriterien wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Atemfrequenz und Herzschlag ausgewertet werden. Anhand dieser Daten soll FAST "unlautere Absichten" vor einer möglichen Tat erkennen. Auch Video- und Tonmitschnitte sollen dem System als Informationsquellen dienen. Dabei soll es keine Rolle spielen, ob der potentiell Verdächtige bereits früher mit dem Gesetz in Konflikt geraten ist.

Ob, wie und wann das System bereits getestet wurde oder noch wird, ist unklar. Allerdings sind als mögliche Einsatzorte Flughäfen oder Großveranstaltungen, wie Sportereignisse oder Konzerte denkbar. Offensichtlich haben bereits im vergangenen Jahr Labortests stattgefunden, deren Erfolgsrate allerdings bei 78 Prozent gelegen haben soll.

Steht der Traum der Kriminalisten, der Alptraum der Kriminologen und der Anhänger des Mottos "Die Gedanken sind frei" also kurz vor seiner Verwirklichung?

Aus dem vom Spiegel zitierten Bericht des DHS aus dem Jahr 2008, der sich insb. mit Datenschutzproblemen befasst,  und aus  einem Artkel im "New Scieintist" lässt sich ziemlich gut nachvollziehen, worum es sich bei FAST tatsächlich handelt. Offenbar geht es darum, die Eingangs- und Durchgangskontrollen an Flughäfen oder Veranstaltungen/Stadien effektiver zu machen, indem man Techniken, die aus dem guten alten Lügendetektor stammen, aus der Ferne nutzt. Die Möglichkeit, bestimmte Körperdaten aus der Entfernung abzugreifen und als "malintent" ("böse Absicht")  zu deuten, das ist die Neuigkeit.

(1) A remote cardiovascular and respiratory sensor to measure heart rate and respiration, which allows for the calculation of heart rate, heart rate variability, respiration rate, and respiratory sinus arrhythmia.
(2) A remote eye tracker, which is a device that uses a camera and processing software to track the position and gaze of the eyes (and, in some instances, the entire head) of a subject. Most eye trackers will also provide a measurement of the pupil diameter.
(3) Thermal cameras that provide detailed information on the changes in the thermal properties of the skin in the face will help assess electrodermal activity and measure respiration and eye movements.
(4) A high resolution video that allows for highly detailed images of the face and body to be taken so that image analysis can determine facial features and expressions and body movements, and an audio system for analyzing human voice for pitch change.
(5) Other sensor types such as for pheromones detection are also under consideration. (Quelle)

Also: Neben äußerlich erkennbaren Körpermerkmalen (Alter, Geschlecht, Begleitung, Kleidung, Hautfarbe), neben dem Gepäckröntgen, den Metalldetektoren, Nacktscannern, den Drogenhunden, der Biometrie, der Kontrolle von Pässen und Eintrittskarten soll mit FAST nun z. B. auch noch die Atemfrequenz und der Pulsschlag, der Lidschlag, die Hauttemperatur, die Stimme und evtl. auch noch der Körpergeruch von Personen mit Sensoren gemessen und ausgewertet werden, während sie eine Kontrollstelle passieren. Zitat (New Scientist):

140 paid volunteers walked through a pair of trailers kitted out with a battery of FAST sensors, including cameras, infrared heat sensors and an eyesafe laser radar, called a Bio-Lidar, that measures pulse and breathing rate from a distance.
Some subjects were told to act shifty, be evasive, deceptive and hostile. And many were detected. "We're still very early on in this research, but it is looking very promising," says DHS science spokesman John Verrico. "We are running at about 78% accuracy on mal-intent detection, and 80% on deception."

Mit der FAST-Technik will man so Menschen herausfiltern, an denen man aufgrund von diesen Körperdaten "Nervosität" bemerkt, das ist praktisch der Lügendetektor als Nacktscanner. Die Vorstellung ist unangenehm genug, und  es lässt sich leicht denken, dass künftig solche Screening-Techniken heimlich z B. auch bei Beschuldigtenvernehmungen oder bei Vorstellungsgesprächen einsetzbar werden (also praktisch ein heimlicher Polygrapheneinsatz) oder sogar in Einkaufszentren und Innenstädten für "Sicherheit" sorgen sollen. Aber es ist natürlich etwas anderes als Gedankenlesen. "Precrime" in Film und Roman sieht anders aus. Und momentan erwecken bei mir die Möglichkeiten des Staats- oder Zuckerbergtrojaners (namens facebook) noch größere Befürchtungen. Im Vergleich damit  ist die Lügendetektor-Technik eher "Old School" und ermöglicht  alles andere als "sichere Vorhersagen". Nochmal der New Scientist:

But is it going to make a real difference? Or will bad guys learn to play the system and render it another piece of what expert Bruce Schneier dubs "security theatre".
Given that the FAST approach is not much different to the long established - and long established as unreliable - polygraph, that certainly seems plausible.

 

 

 

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9 Kommentare

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Dazu ganz konkret auch die gestrige Sendung auf 3SAT

"Späher, Scanner und Sensoren:
Überwachungskameras, die selbständig Alarm schlagen und Systeme, die voraussehen, was passieren wird - Eine neue Generation hochentwickelter Sicherheitstechnik soll uns künftig vor Terror und Gewalt schützen."

Demzufolge wird auch in Europa an genannten Technologien geforscht.

Der Beitrag ist momentan noch in der 3SAT Mediathek abrufbar:

 

http://www.3sat.de/mediathek/mediathek.php?obj=27047&mode=play

 

 

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Ja, vielen Dank!

Mit Überwachung und Kontrolle ist sehr viel Geld zu verdienen, kein Wunder, dass in dem Bereich mit großer Energie geforscht und "erfunden" wird. Und wenn erst einmal überall diese Herzfrequenz-, Lidschlag- und Stimmsensoren an die vorhandenen Videoüberwachungskameras angeschlossen sind und "ungewöhnliche"  Daten automatisch an die Polizei senden, dann wird es wirklich sehr ungemütlich.

Computer mag man beliebig viele bauen können, Beamte nicht. Die Behörden werden früher oder später an der Datenflut ersticken, die ihnen automatische Überwachungssysteme, "Staatstrojaner", usw., übermitteln.  Denn die Auswertung muß letztlich immer ein Mensch vornehmen. Und ein Mensch kommt auch nicht um die unangenehme Aufgabe herum, einen Bericht zu verfassen, etc.

 

Schon heute sehen wir die Auswirkungen: die Staatsanwaltschaften haben irgendwann die Verfolgung von Strafanzeigen wegen Urheberrechtsverletzungen aus File Sharing eingestellt, weil die Musik- und Filmindustrie sie mit tausenden von Strafanzeigen bombadiert hat. Die Auswertung beschlagnahmter Computer bei der Polizei dauert inzwischen 6 bis 12 Monate, weil immer größere Festplatten kaum noch in angemessener Zeit gespiegelt und ausgewertet werden können. Selbst Computer "ersticken" an der Masse des Materials, das ihnen zur Auswertung vorgelegt wird. Staatsanwälte und Richter können kaum noch das Material sichten, das entweder DVDs oder meterlange Leitzordner füllt.

 

 

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@Sabine:

Die Hoffnung, ein Überwachungssystem würde sich wegen der immensen Datenflut sozusagen von selbst erledigen, gab es schon einmal. Dem Alptraum vom "großen Bruder" und "1984" wurde damals entgegengehalten, es wäre viel zu aufwändig, teuer und zeitraubend so viele Daten zu speichern und zu verwalten, weshalb man diese Gefahr nicht so ernst zu nehmen brauche. Fakt ist, dass heute jeder Heimcomputer Datenmengen verwaltet und in Millisekunden durchsucht, die  in den frühen 80ern in den Rechenzentren des BKA gespeichert waren. Um diese Daten zu "rastern" dauerte es früher schon mal etliche Stunden. Wenn ein Sozialforscher seine Untersuchungsdaten auswerten wollte, musste er sich im Uni-Rechenzentrum Rechenzeit reservieren. Heute macht er das mit einem Mausklick und es dauert vielleicht einige Sekunden oder Minuten.

Natürlich müssen irgendwann Menschen entscheiden, aber die Technik kann hier viel vorbereiten und das ist auch der ganze Sinn dieses Kontrollstellenansatzes: die Mengen an heutogen Flugpassagieren lassne sich "per Hand" gar nicht mehr effektiv kontrollieren, deshalb sollen diese Daten erhoben und vom Computer gefiltert werden, so dass nur die potentiell "Bösen" persönlich kontrolliert werden müssen. In der automatischen Datenerhebung sehe ich andere Probleme als Sie: Es werden personenbezogene Daten gesammelt, die missbraucht werden können, es wird ein allg. Gefühl der Überwachung erzeugt, die Maschinen und die, die sie einsetzen (Polizei, Zoll, Geheimdienste) übernehmen immer mehr fakstische, kaum noch kontrollierbare Macht - da wird auch einfach das BVerfG zur Seite geschoben.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Das wird sicher „lustig“ wenn dann am Flughafen in der Kontrolle alle Leute mit Flugangst, die deshalb nervös sind, schneller atmen, erhöhten Herzschlag haben, usw. als Terroristen ausgefiltert werden…

In Europa gibt es ein ähnliches Forschungsprojekt namens INDECT, das meines Wissens etwas mehr auf die Überwachung öffentlicher Plätze auf „verdächtige Personen“ als auf Einlasskontrollen abziehlt.

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Ich hoffe mal, dass man nicht nur schöne neue Welten sehen, sondern auch die Kehrseite. TNT ist z.B. in Sprays gegen hohen Blutdruck enthalten, was weiss ich welche Spuren von was an meinem Gepäck sind!

Ich hoffe sehr, dass sich die Behindertenverbände gegen diese Scanner aussprechen.

Mein Sohn ist Autistist, er verhält sich immer auffällig.

Muss eine Frau mit Brustprothese diese immer abnehmen und vorzeigen damit sie kontrolliert werden kann?

Was ist überhaupt mit Prothesen, Implantaten, wodurch unterscheiden die sich von Messern (aus Keramik) und dgl.?

Letzlich führt es doch dazu, dass Behinderte immer und überall diffamiert werden.

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Die Sache mit dem Körpergeruch ist ja nicht neu. Die Stasi (MfS) der DDR hatte eines der größten Geruchskonserven Archive in der Welt. Nun wird das ganze dann elektonisch gespeichert.

 

Im übrigen sind die Amis dann auch nicht mehr weit von Rassentheorien entfernt. Nur dieses Mal sind es die Moslems und nicht die Juden.....

Geschichte wiederholt sich - beständig

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Ich wurde  aufmerksam gemacht auf einen Aufsatz von Ralf Kölbel und Susanne Selter von der Uni Bielefeld (Hostile Intent - the Terrorist's Achilles Heel? Observations on Pre-Crime Surveillance by Means of Thought Recognition, European Journal of Crime, Criminal Law and Criminal Justice 18, 2010, S. 237), die ausführlich  Projekte zum technischen Erkennen von "böser Absicht" in den USA und Europa beschreiben und als Teil einer neuen "Kontrollkultur" analysieren.

Aus ihrem Fazit:

"SPOT and FAST are the warning signals of a completely uninhibited precaution-hubris, which accepts
no normative bounds, but only the limitations of the technically feasible. After
all, if not even thinking remains absolutely private, what domains for freedom
and privacy will be left? Many regard the freedom of the thought as one of the big
topics of the 21st century. The fact that various vehement approaches are being
developed to abolish this freedom, proves the urgency of our discussion."

Dem kann man nur zustimmen.

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