Systematische Fehleinschätzungen seit 30 Jahren? "Unsere" Sicherheitsbehörden und der rechte Terrorismus
von , veröffentlicht am 13.11.2011Seit Jahren werden Bürgerrechte und -freiheiten mit Warnungen vor linkem und islamistischen Terrorismus eingeschränkt und die Politik, sei sie sozial- oder christdemokratisch geführt, folgte auch regelmäßig den Warnungen der Sicherheitsbehörden. Zugleich wurde, wie jetzt offenbar wird, der Terrorismus von rechts seitens der Sicherheitsbehörden systematisch und in gefährlicher Weise unterschätzt und kleingeredet.
Schon der bis heute folgenschwerste Terroranschlag in Deutschland, der auf das Oktoberfest am 26.09.1980 (13 Tote, 211 Verletzte) wurde von Polizei und Politik zum Attentat eines verwirrten Einzeltäters umdefiniert, statt in die bestehenden Verbindungen zur rechtsextremen Szene zu ermitteln (SPON-Artikel)
Und heute kaum mehr fassbare Ermittlungsäußerungen wurden zu den Mordanschlägen auf Kleingewerbetreibende und auf Bewohner der Kölner Südstadt abgegeben. In der FASZ (S. 3) von heute heißt es zum Ermittlungsstand zu den Mordanschlägen im Jahr 2006:
"Es wurde über Schutzgelderpressung spekuliert, über Geldwäsche, Menschenhandel und über eine Verstrickung der türkischen Drogenmafia, Verbrechen unter ausländischen Verbrechern (...) einen rechtsradikalen Hintergrund schloss die Polizei zu diesem Zeitpunkt aus, eine entsprechende Gruppierung könnte kein politisches Kapital aus den Morden schlagen, außerdem begingen Überzeugungstäter zu viele Fehler, hieß es damals".
Wenn diese Darstellung zutrifft, beunruhigt sie zutiefst: Aus den Einschätzungen der Polizei spricht eine vorurteilsbehaftete Vorprägung in zwei Richtungen: Sind Ausländer Opfer, verdächtigt man primär andere Ausländer, und Täter mit rechter Gesinnung werden zugleich verharmlost: Sie könnten nicht Täter sein, weil sie im allgemeinen zu dumm seien.
Ganz anders und ziemlich schnell wurde in diesem Oktober angesichts von Brandanschlägen auf die Bahn vor einer neuen Terror"dimension" und "Eskalation" von links gewarnt:
Verkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) sprach als erster von "verbrecherischen terroristischen Ansätzen einer neuen Dimension". Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) sagte, der Linksextremismus eskaliere zum Linksterrorismus. Der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt warnte: "Das ist beginnender Linksterrorismus, auch wenn dies aus der politischen Perspektive der Regierung noch nicht erkannt oder anders bewertet wird." (Quelle)
Die jetzt verspätete Aufklärung rechtsterroristischer Taten wird, so kann man nur hoffen, auch zur Beendigung der systematischen Unterschätzung rechter Terrorgefahr beitragen. Und auch peinliche sowie gefährliche Fahndungspannen der Verfassungsschutzbehörden in rechtsextremen Kreisen sollten abgestellt werden.
Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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12 Kommentare
Kommentare als Feed abonnierenMalte S. kommentiert am Permanenter Link
Tja, vor rund 12 Jahren schrieb mir meine Lehrerin im Leistungskurs Politische Weltkunde "Stammtischgelaber" neben die Klausur - ich hatte in einem Aufsatz "dargelegt", dass die Rechte Szene nicht nur aufgrund einiger Aufmärsche oder populärer Aktionen gefährlich sei, sondern auch weil sie gut geschützte Netzwerke habe. Aber der Lehrplan gab (und gibt wohl noch immer) kritischen Umgang mit der Gesellschaft halt nicht vor.
Leserin kommentiert am Permanenter Link
Ich finde die Bezeichnung als "Rechtsterrorismus" hier völlig übertrieben. Da hat sich jetzt nach jahrelangem Umherirren durch einen Zufall herausgestellt, dass diese Mordserie von Rechtsextremisten begangen wurde und plötzlich soll es Terrorismus sein, während man vorher lieber davon ausging, dass es Auseinandersetzungen im kriminellen (Ausländer) Millieu sind.
So schlimm die neun Opfer der Mordserie und die tote Polizistin auch sind - in Anbetracht der Opferzahl und der Tatsache, dass man jahrelang nicht wusste, was der Hintergrund ist, wer dahinter steckt und was damit bezweckt werden soll, ist die plötzliche Bezeichnung als "Terrorismus" reine Panikmache und wieder sehr CSU/CDU-typisch. Jetzt bleibt eigentlich nur noch abzuwarten, bis der obligatorische Dauerruf nach weiteren Kompetenzen bei der TK-Überwachung kommt-frei nach dem Motto "Hätten wir da mehr Befugnisse, dann hätten wir den Rechtsterrorismus schon viel früher entdeckt. Da er eine erhebliche Gefahr für die innere Sicherheit darstellt, benötigen wir spätestens jetzt unbedingt weitergehende Befugnisse ...".
Ich möchte die Gefahren und das Potenzial des Rechtsextremismus nicht beschönigen. Aber zwischen Rechtsextremismus, den man zweifelos nicht unterschätzen darf und "bekämpfen" muss, da er anderfalls zu Terrorismus werden kann, und Rechtsterrorismus besteht nach meinem Verständnis ein erheblicher Unterschied.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Sehr geehrte Leserin,
ich sympathisiere durchaus mit Ihrer Ansicht, man solle bei den Reaktioenn nicht übertreiben. Aber übertrieben oder nicht: In Relation zu den Äußerungen zu linkem oder islamistischem "Terror" erscheinen die neun Morde und weiteren Anschläge schon "terroristischer". Man stelle sich vor, es habe sich nicht um Imbissbesitzer gehandelt, sondern um neun Politiker oder andere "Prominente" - glauben Sie nicht, dass die Reaktion von Polizei, Verfassungsschutz und Politik eine ganz andere gewesen wäre?
Wenn allerdings jetzt von "neuer" Dimension des Terrors gesprochen wird, haben die Politiker, die solches äußern, wieder etwas missverstanden: Offenbar ist doch diese Serie seit 5 Jahren vorbei. Jetzt noch darauf zu reagieren ist defintiv zu spät.
Beste Grüße
Henning Ernst Müller
Leserin kommentiert am Permanenter Link
Sehr geehrter Prof. Müller,
Sie haben natürlich Recht, dass die Reaktion eine andere gewesen wäre, wenn die Opfer eine "größere Bedeutung" gehabt hätten. Ich habe allerdings allgemein mit der zu häufigen Klassifizierung als "Terror" meine Schwierigkeiten. Wenn man, wie ein großer Teil Politiker oder Strafverfolgungsbehörden, sobald die Gefahr mehrerer Opfer oder größerer Schäden besteht, immer sofort den Begriff Terror heranzieht, dann ist er für diese Situation nicht verkehrt. Insoweit liegt das Problem in der langsam beinahe inflationären Verwendung dieses Begriffs.
Wenn sich das Begriffsverständnis von der Ursprungsbedeutung zum einen stetig weiter entfernt, andererseits aber stets als Rechtfertigung für immer gravierendere Einschränkungen von Rechten und zur Panikmache herangezogen wird, empfinde ich das als sehr problematisch. Das massenweise Inbrandsetzen von Autos in Großstädten birgt erhebliches Gefährdungspotenzial und sorgt für erheblich Schäden. Diese Fälle oder die Bahnanschläge in Berlin jedoch immer sehr schnell als Terrorismus zu qualifizieren und dann später genauso schnell zurückzurudern, wenn sich herausstellt, dass es dann doch manchmal nur ein unzufriedener Arbeitsloser, einige Jugendliche etc. waren, sind für mich das Problem.
Hier war es dann mal umgekehrt, dass man jahrelang von "normalen" Morden im Millieu ausgegangen ist. Nachdem man dann zufällig, wie von Ihnen freundlicher Weise noch mal verdeutlicht, mehrere Jahre nach Ende der Serie herausfindet, dass die Taten von Rechtsextremisten begangen wurden, wird daraus ein (aktueller) Rechtsterrorismus gemacht. Selbst wenn die Bekennerschreiben damals noch abgeschickt worden wären, hätte dies zumindest nach meiner Ansicht noch keine Bezeichnung als Terrorismus, sondern nur als gewaltsamer Extremismus, verdient. Einfach weil der Wirkungsgrad, die Opferauswahl und insbesondere fehlende Forderungen insoweit die Bezeichnung Rechtsterrorismus nicht rechtfertigen.
Beste Grüße
von einer Leserin
MeinName kommentiert am Permanenter Link
Terrorismus will Angst und Schrecken verbreiten mit öffentlich wirksamen Anschlägen und Tötungen, um eine (staatliche) Autorität oder die Zivilbevölkerung zu etwas zu zwingen oder in ihrem Verhalten im eigenen Sinne zu beeinflussen - am Beispiel der von mittelamerikanischen Diktatoren oder südamerikanischen Großgrundbesitzern unterhaltenen Todesschwadronen wird klar, dass Terrorismus nicht selbst so verstandenen "Widerstandskämpfern" vorbehalten ist und es keine besonders artikulierten oder publizierten Forderungen braucht, wenn die terroristische Handlung als solche die Botschaft klar genug transportiert ("wer sich für Landreformen engagiert, wird umgebracht - das spricht sich herum" oder "wer sich als Punk oder Farbiger in unserer 'national befreiten Zone' auf die Straße wagt, wird hergeklatscht oder totgetreten" und auch "wer als Ausländer einen kleinen Laden besitzt, soll sich seines Lebens nicht sicher sein"). Wenn Glatzköpfe mit ihren Schlägertrupps (unterstützt durch Wegschauen der Stadtväter und Polizeiorgane) dafür sorgen können, dass sich Bewohner derselben Stadt tagsüber in Kellern verstecken müssen, weil sie "anders" aussehen, ist die Grenze von "simpler" rechtsextremer Gewalt zum Terrorismus überschritten.
Wollen Sie die veröffentlichte Meinung ("Wirkungsgrad") entscheiden lassen, wer sich terrorisiert zu fühlen hat? Die RAF hat mit (verglichen mit der dreistelligen Opferzahl rechtsextremistischer Gewalt seit 1990) relativ wenigen Morden (34 Tote) ein immenses Echo erreicht, aber nicht weil sie große Teile der Bevölkerung zum Anschlagsziel hatte, sondern weil die kleine Elite im Fadenkreuz eben prominent war und beste Kontakte ins Medienbusiness hatte. Ein "Normalo" hatte von der RAF selbst so gut wie nichts zu befürchten, die Bedrohung war abstrakt und wurde vor allem durch die Medien suggeriert. Die nun aufgeklärte Mordserie ließ jedoch mehrere Tausend Kleingewerbetreibende sich fragen, ob sie die nächsten sein würden. Nur weil Sie das in ihrer heilen Welt nicht mitbekommen, weil es nicht im Boulevard breitgetreten wird, bedeutet es nicht, dass diese Mordserie keine terroristische Wirkung entfaltet hätte.
Schauen Sie doch einfach mal die unterschiedlichen Definitionen von Terrorismus im Wikipedia-Artikel nach - so gut wie alle davon passen auf die Morde (nicht dagegen auf abgefackelte Autos oder blockierte Bahnstrecken).
Wie "ausgewählt" muss denn ein Opfer sein, um von Ihnen als "Terrortoter" akzeptiert zu werden? Augenfarbe? Monatseinkommen? Prominenz? Da kann ich nur noch den Kopf schütteln (und ich möchte lieber nicht wissen, was die Angehörigen der über 20 von der RAF umgebrachten Polizisten, Fahrer und Zollbeamten oder gar der "aktuellen" Mordopfer von Ihnen halten).
Richard kommentiert am Permanenter Link
Aktuell zu überdenken wäre die Praxis der V-Leute in rechtsextremen Organisationen. Die nachrichtendienstliche Begeisterung, über menschliche Quellen zu verfügen, scheint sich hier, wie schon an anderen Stellen (Oktoberfest-Anschlag, verschiedene RAF-Morde), als Ermittlungshindernis zu erweisen. Hinsichtlich etwaiger Verbotsverfahren ist sie es ohnehin. Zudem hat der Umgang mit der islamistischen Szene in den letzten zehn Jahren gezeigt, dass man auch sehr gut mit einem weit weniger engmaschigen Netz von V-Leute zurecht kommt.
bombjack kommentiert am Permanenter Link
Zudem anscheinend auch diese V-Leute auch munter mitspielen wenn nur die Hälfte aus dem Artikel hier http://www.welt.de/politik/deutschland/article13715153/Die-moegliche-Ver... stimmt....und wenn die Gruppen zu einem Großteil von Mitarbeitern und Zuträgern vom Verfassungsschutz und Co. durchsetzt sind, wirft das die Frage auf wie weit geht dort die logistische Unterstützung (Stichwort: Pässe) bzw. kämen diese Typen auch so leicht an Sprengstoff (TNT, Sprengkapseln und Co.) wenn da keine informellen Mitarbeiter dabei wären, die anscheinend über die nötigen Kontakte verfügen um an das Material (was zum Teil ja schon illegal ist) zu kommen?
Noch kritischer wird in meinen Augen wenn man sich diverse aufgeflogene Aktionen ansieht wie z.B. das Celler Loch, die Person Peter Urbach oder die Plutonium-Affäre, wo Behörden involviert waren und sich mal überlegt, wie die Reaktion gewesen wäre, wenn das nicht aufgeflogen wäre.....auch der neue Fall um dem es bei dem obigen Artikel geht wird z.B. mit Nagelbombenanschlag am 9. Juni 2004 in Köln in Verbindung gebracht.
Interessanter weise wird dieser Anschlag in diversen Vorschlägen zur Verschärfung der Abgabepraxis von Chemikalien an Privatpersonen als Begründung für eben diese Verschärfungen gebracht die Bürgerrechte beschneiden. Mir drängt sich da der Begriff "Gladio" und die "Strategie der Spannung" gerade zu auf....
bombjack
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Lesenswert ist ein Kommentar von Holger Schmitt (hier), dessen Kernaussagen ich für zutreffend halte:
1. Die Fakten sprechen nicht für einen "neuen" Rechtsterrorismus, sondern für einen Terrorismus, der schon vor Jahren existierte. Ob derzeit noch mehr "Zellen" im Untergrund agieren, ist unbekannt.
2. Die entscheidende Frage ist, warum die zwischen 2000 und 2007 begangenen Taten von den Sicherheitsbehörden nicht als Taten dieser Gruppe erkannt und verfolgt wurden, trotz großen Ermittlungsaufwands und trotz der Infiltration der rechten Szene durch Verfassungsschutzbehörden, die offenbar wenig erfolgreich war. Schmitt:
3. Man kann es sogar so ausdrücken: Gerade der jetzt von Frau Merkel und diversen Innenministern lautstark vorgetragene Hinweis auf einen "neuen" Rechtsterrorismus lenkt von den Versäumnissen ab, die den "alten" bzw. schon vor Jahren längst etablierten Rechtsterrorismus betreffen. Schmitt:
4. Schließlich kritisiert auch Schmitt eine falsche Prioritätensetzung bei der Terrorismusabwehr:
egal kommentiert am Permanenter Link
Dazu passt:
"Nach Informationen der „Bild“-Zeitung stellten Sicherheitsbeamte in den Trümmern des Hauses sogenannte „legale illegale Papiere“ sicher. So werden von Geheimdiensten für Spionagezwecke ausgestellte Ausweispapiere bezeichnet."
(http://www.welt.de/politik/deutschland/article13715153/Die-moegliche-Ver...)
Falls das zutrifft, waren sie wohl V-Leute.
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Nun wird sogar eine Verwicklung eines hessischen "Verfassungsschützers" in einen rassistischen Mordanschlag für möglich gehalten - Meldung der FAZ.
MeinName kommentiert am Permanenter Link
es ist mittlerweile fraglich, ob "Fehleinschätzungen" als Bezeichnung ausreicht:
http://www.mdr.de/nachrichten/zwickauer-trio146_zc-e9a9d57e_zs-6c4417e7.html
Zur Erinnerung: die Mordserie mit 10 Toten begann erst im Jahr 2000 ...
Prof. Dr. Henning Ernst Müller kommentiert am Permanenter Link
Ein erhellendes Interview auf SPON mit dem "Extremismusforscher" Bernd Wagner, der das Nazi-Aussteigerprogramm "Exit" mitbegründete.
Wagner schildert im Interview, wie seine Warnungen weitgehend ignoriert wurden:
Insgesamt lesenswertes Interview.