Lebenswelten junger Muslime in Deutschland: Innenminister gibt Ergebnisse der eigenen Studie verzerrt wieder (mit Updates)

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 01.03.2012

Will man ein Muster dafür haben, wie wissenschaftliche Studienergebnisse durch Politik und Medien missbraucht werden und in fast bösartiger Weise gegen ihre Intention wiedergegeben werden, dann gibt es jetzt erneut ein treffendes Beispiel. Die Studie "Lebenswelten junger Muslime in Deutschland" (von W. Frindte, K. Boehnke, H. Kreikenbom, W. Wagner - um es gleich zu sagen, ich kenne keinen der Autoren persönlich, bin auch mit keinem wissenschaftlcih verbandelt) wurde heute auf dem Internetportal des BMI veröffentlicht. Sie ist über 700 Seiten stark und sehr detailliert. Die Forscher haben sich besonders bemüht, die vielfältigen interdisziplinären methodischen Zugangswege, die sie verfolgt haben, und die wesentlichen Ergebnisse ihrer Studie in mehreren Stufen kurzgefasst hervorzuheben, um auch Nichtexperten einen nachvollziehbaren Einblick in diese Forschungen und deren Ergebnisse zu bieten. Sie kommen in einem abschließenden Kapitel auch zu differenzierten Handlungsempfehlungen an Politik und Gesellschaft.

Nun kann man sicherlich an etlichen Stellen einhaken und über methodische Fragen streiten, an anderen Stellen Ergebnisse herausstellen, diese relativieren, kritisieren oder als banal rezensieren. Aber was Innnenminister Friedrich und was die Presse heute mit dieser Studie anstellen, das hat sie wirklich nicht verdient:

Der Innenminister missbraucht die von seinem eigenen Ministerium herausgegebene Studie dazu, seine offenbar nicht durch die Lektüre der Studie beeinflussten Vorurteile in der "Bild" zum Besten zu geben. Ein weiterer Unionspolitiker, Herr Uhl, tut das Gleiche in der NOZ.

Kein Wunder, dass andere Politiker dies wiederum zum Anlass nehmen, die Studie (wahrscheinlich ebenso ungelesen) gleich ganz als überflüssig zu verwerfen, so etwa ein Sprecher der FDP, wiederum in der NOZ.

Journalisten, wie nicht anders zu erwarten, schauen ebenfalls nicht in die Studie selbst, sondern entnehmen deren Inhalt hauptsächlich diesen Politiker-Worten - wieder mal ein Negativ-Beispiel ist die erste Berichterstattung auf Spiegel-Online (Update 17.45 Uhr, SPON bringt jetzt einen differenzierteren Artikel, Update 2.3. 13.00 Uhr: Aber Roland Reuß in der SZ hat sich bis heute nicht die Mühe gemacht, die Studie anzuschauen)

Man könnte fast verzweifeln über so viel Ignoranz.

Im Kern betreiben Friedrich und diese Presseorgane genau das, was  die Forscher in ihrer Studie als eine Ursache einer möglichen Radikalisierung beschreiben - nämlich die von Muslimen als ungerecht empfundene pauschale Identifizierung des  Islam mit Gewaltneigung und Terrorismus.

Um nur ein Missverständnis herauszustellen: Diese Studie ist keine kriminologische Studie zum Gewaltverhalten von Menschen, in ihr werden keine Handlungen erforscht. Sie ist vielmehr eine Studie zur Akkulturation/Integration, zu kulturellen und emotionalen Einstellungsunterschieden junger Muslime in Deutschland und zu ihrer Mediennnutzung. Sie verweist stark auf die komplexen und insbesondere miteinander interagierenden Ursachen und Wirkungen der festgestellten Einstellungsunterschiede zu Demokratie und Integration - die Kausalitäten verlaufen dabei zweiwegig, vom Islam zur nichtmuslimischen Umgebung und zugleich umgekehrt von der umgebenden Gesellschaft zu den Muslimen in dieser Gesellschaft.

In ihren Handlungsempfehlungen sprechen sich die Forscher für eine Gesellschaft aus, die den Muslimen positiv(er) als bisher begegnet und sie in ihrer weit überwiegenden  Integrationsbereitschaft stärkt und fördert, statt, wie es nun wieder geschieht, mit dem Finger "erschreckt" auf diejenigen zu zeigen, die in der Studie sich als weniger integrationsbereit zeigten.

Update I 17.45 Uhr: Im Verlauf des heutigen Tages hat der Innenminister offenbar doch noch Zeit gefunden, Inhalte der Studie zu reflektieren. So wird er nun zitiert (Quelle):

"Die Muslime in Deutschland lehnen Terrorismus kategorisch ab", sagte er. Es liege in der Verantwortung der Medien, "nicht den Fokus auf eine kleine Minderheit, die Probleme macht", zu richten. Die Studie habe auch ergeben, dass sich viele junge Muslime ungerecht behandelt und unter Generalverdacht gestellt fühlten.

Update II vom 2.3., 17.00 Uhr:

Eine erste kritische Rezension der Studie auf wissenschaftlicher Basis findet sich hier (Naika Fouroutan, HU Berlin). Es werden darin eine Reihe von methodischen Fragen problematisiert und aufgrund dessen auch die Ergebnisse der Studie in Frage gestellt. Allerdings wird zutreffend hervorgehoben:

Studie positiver als die tendenziöse Zusammenfassung suggeriert
Als erster Eindruck aus der Querlektüre bleibt festzuhalten:
Die Autoren gehen selbst kritisch mit ihren Ergebnissen um und erheben nicht den Anspruch auf Hochrechnung der Meßwerte auf alle Muslime. Sie beschreiben wesentlich positiver die Bandbreite der Lebenswelten und die Zugehörigkeit zu Deutschland, als dies in den Zitaten der BILD-Zeitung und den ersten medialen Reaktionen erscheint

Ein Interview mit einem der Autoren der Studie (Wolfgang Frindte) findet sich jetzt in der SZ. Zitat:

Wenn ein Teil der jungen Muslime eine nur geringe Bereitschaft zeigt, sich mit der deutschen Kultur zu identifizieren, dann hängt das auch damit zusammen, dass sie sich als Gruppe diskriminiert fühlen. Das ist ein Wechselspiel zwischen Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft. Wir haben das während unserer Studie am Beispiel der Sarrazin-Debatte 2010 beobachten können: Muslime, die nach dem Erscheinen seines Buches interviewt wurden, legten viel mehr Vorurteile und eine größere Ablehnung gegenüber Deutschland und dem Westen an den Tag als jene, die wir zuvor befragt hatten. Da stellt sich die Frage, ob das mit dem Sarrazin-Hype zu tun hatte. Dass Thilo Sarrazin jetzt sagt, er sehe sich durch die Studie bestätigt, ist tragisch.

 

 

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Die Diskussion geht weiter. Heute wird in der Neuen Osnabrücker Zeitung, in der sich gestern schon etliche Politiker geäußert hatten (offenbar ohne die Studie näher zu kennen) auch eine Reaktion von Christian Pfeiffer (Kriminologe und Leiter des Kriminologischen Forschunsginstituts Niedersachsen) mitgeteilt:

Der Hannoveraner Kriminologe Christian Pfeiffer hält eine „pauschale Angstmache“ vor Muslimen für unberechtigt. Auf eine neue Studie des Bundesinnenministeriums zur Integrationsbereitschaft junger Muslime reagierte er in einem Gespräch mit unserer Zeitung verärgert und kritisierte sie als nicht repräsentativ.

„Wenn wir den Muslimen bereits als Grundschüler die Hand reichen, landen sie auch nicht in der Ecke der Frustrierten, wo sie sich hinter der Religion verschanzen“, sagte der Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Pfeiffer forderte eine „Mut machende Nachhilfe“ für die 6- bis 12-Jährigen. „Wir können dieses Problem lösen, wenn wir den Jüngeren mehr Chancen bieten, damit sie ihre PS auf die Straße bringen“, sagte er unserer Zeitung.

Aus der Umfrage im Auftrag des Ministeriums geht hervor, dass ein Viertel der Muslime zwischen 14 und 32 Jahren, die keinen deutschen Pass haben, nicht zur Integration bereit sei. Pfeiffer kritisierte, die Studie habe mit einigen Hundert Befragten zu wenige Teilnehmer gehabt, die zudem bereits zu alt gewesen seien.

Außerdem vernachlässige die Umfrage regionale Aspekte. „Gelungene Beispiele der Integration und die Bedeutung integrierender Bildungsangebote werden dadurch nicht erkannt.“ Es bleibe ausgeblendet, wie ausgezeichnet die Integration gelingen könne. „Dass religiöse Muslime null Bock auf Deutschland haben, kommt natürlich vor, ist aber das Resultat versäumter Integrationschancen.“

 

Nun muss man zunächst berücksichtigen, dass Pfeiffer möglicherweise falsch zitiert worden ist, was leider gar nicht so fern liegt. Wenn aber die Kernaussagen Pfeiffers tatsächlich richtig wiedergegeben werden, dann ist Pfeiffer genau so zu kritisieren wie der Innenminister in seiner ersten Stellungnahme, Punkt für Punkt:

1. "Pauschale Angstmache" kann man der Studie nicht vorwerfen, sondern nur denjenigen, die sie als erste kommentierten  (Politiker wie Journalisten). Wenn Pfeiffer dies tatsächlich auf die Studie bezieht, dann muss man ihm vorwerfen, dass er die Studie selbst nicht angeschaut hat, bevor er sie kritisiert.

2. Der Vorschlag, schon die 6-12jährigen (also die Grundschüler) integrativ zu stützen und zu fördern ist sicher nicht schlecht. Der Vorschlag ist sicher ganz im Sinne der Autoren der kritisierten Studie.

3. Dass die Studie nicht repräsentativ sei, weil sie nur einige hundert Befragte hat, ist so pauschal keine zulässige methodische Kritik (das weiß Pfeiffer selbst). Allerdings kann an der Stichprobenerstellung sicherlich (wie bei den meisten Studien) methodische Kritik geübt werden.

4. Ob die Befragten "zu alt" sind oder "zu jung", hängt immer von der Zielsetzung der Studie ab. Um etwas über "Lebenswelten" zu erfahren, erscheint eine Befragung von Jugendlcihen und jungen Erwachsenen (14-32 Jahre) durchaus angemessen, da die jüngeren meist noch nicht ihre eigene Lebenswelt gestaltet haben und diejenigen, die gerade eine Familie gründen, eine zentrale Funktion für die Integration der nächsten Generation haben. Pfeiffer selbst hat in seiner großen Jugendstudie zur Gewalt 15jährige befragen lassen. Offensichtlich möchte er jetzt Grundschüler in den Fokus nehmen - das soll er machen. Aber andere Forscher dafür zu kritisieren, ihre Probanden seien "zu alt" - das ist schlechter Stil und unwissenschaftlich.

5. Die Vernachlässigung regionaler Unterschiede kann immer kritisiert werden. Ich halte die Kritik aber für unfair, denn natürlich können solche Studien immer nur einen Teil der Wirklichkeit erfassen; ihnen dann vorzuwerfen, der andere Teil werde ausgeblendet, ist billig. Jeder weiß, dass es Muslimen in einer  bayerischen Kleinstadt womöglich anders geht als in Berlin-Neukölln oder in Duisburg - dies gilt natürlich auch für Christen und Nichtgläubige. Es wäre sicherlich ein Anschlussprojekt wert, solche regionalen Detailstudien durchzuführen.

6. Dass die Studie  ausblende, wie gut Integration gelingen könne, ist schlicht unzutreffend. Hat Pfeiffer so etwas tatsächlich gesagt, dann hat er sich die Studie offenbar gar nicht angeguckt, bevor er dazu Stellung genommen hat - peinlich.

7. Dass Integrationsunwilligkeit (auch) "ein Produkt versäumter Intergrationschancen" ist, ist ja gerade ein Ergebnis der Studie, die Pfeiffer offenbar nicht gelesen hat.

Fazit: Hat Pfeiffer sich wirklich so geäußert wie er zitiert wird, dann muss er sich bei den Kollegen entschuldigen.

 

Hier spricht wieder die political correctness in reinster Form.

Ohne die Studie zu kennen, kann ich aus eigener Anschauung sagen, dass die Zahl von 25 % überhaupt nicht abwegig ist. Daran hat mich meine eigene Auszubildende (türkischer Abstammung) erinnert. Nicht nur, dass sie ihren eigenen Stalker geheiratet hat (!), weswegen ich ihm Hausverbot erteilt habe und den ganzen Vorgang mit Mißbilligung strafe.

 

Heute hat mir meine andere Angestellte (Araberin) die Einzelheiten der "kirchlichen" Hohzeit in Bezug auf Jungfräulichkeit und Nachweis am nächsten Morgen erklärt (ältere Frauen stehen vor der Tür und kontrollieren das Betttuch). Irgendwann wollte ich nicht mehr wissen und habe ich einfach "Stop" gesagt.

 

Mein Fazit: Der Islam ist in weiten Teilen. wie er auch in Deutschland gelegt wird, rückständig und hindert religiöus orientierte Menschen daran, sich erfolgreich zu integrieren.

Studien, die dies "rausdifferenzieren" oder Sarrazins Fazit, dass eine Zuwanderung über die Sozialsysteme gescheitert ist, ignorieren, sind "Wünsch-Dir-Was-Sendungen" und haben mit der harten Realität nicht, aber auch gar nichts zu tun.

Sie sind die Reste einer Multikulti-Idee einer (weißen) Mittelschicht, die sich diese Ideen zulegt und pflegt, um sich nicht ins (geistige) Ghetto der Betroffenen zu begeben.

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Weitere Stellungnahme von einem  der Autoren der Studie (Peter Holtz), hier,
Zitat:

Und dann geht man seiner Arbeit nach, wertet das Gesagte aus, schreibt seinen Bericht und weiß, dass darin auch Zahlen enthalten sind, die aus dem Zusammenhang gerissen ein furchtbares mediales Echo erzeugen können. Man diskutiert darüber. Aber letztendlich haben wir sie in dieser Form veröffentlicht und gehofft, dass sie in unserem Sinne verstanden werden und dass auch der Rest des Berichts oder zumindest der Presseerklärung gelesen wird. Und dann kommt am Tag vor der offiziellen Veröffentlichung die Mail "Wir sind schon in der 'Bild'-Zeitung". Man denkt sich, man müsse das doch verhindern können, doch das geht nicht. Man möchte reagieren, doch wie? Und dann übernehmen viele andere Medien den Artikel und die Politikerinnen und Politiker geben Statements dazu ab.

@MH,

niemand bestreitet, dass Religionen teilweise Rituale und Überzeugungen verlangen, die in unserer aufgeklärten Zeit teils verschroben wirken, teils sogar unmittelbar menschenrechtswidrig sind (etwa Unterdrückung von Frauen/Menschen anderer Religion). Das ist übrigens kein Primärmerkmal des Islam, sondern sehr vielen Religionen eigen - man schaue sich die Rituale der (christlichen) Sekte desjenigen Superreichen an, der sich gerade anschickt, sich zum US-Präsidenten wählen zu lassen. Gegenüber unseren  aufgeklärten christlichen Staatskonfessionen sind die von Ihnen geschilderten Praktiken tatsächlich mittelalterlich. Eine Studie wie die hier besprochene hatte aber u.a. zum Ziel herauszufinden, ob Beobachtungen wie die Ihre eher (noch) typisch sind  für Muslime in Deutschland oder eher weniger typisch und welche Vielfalt es möglicherweise unter dem Muslimen in Deutschland gibt. Ihre persönliche Beobachtung ist natürlich nicht "falsch", aber Ihre Schlussfolgerung ("Mein Fazit:....") greift vel zu weit. Die Schlussfolgerung von einem Einzelerlebnis mit einem Menschen anderer Religion/Hautfarbe/Nation/anderen Geschlechts/anderer sexueller Orientierung  auf alle Menschen mit dieser Eigenschaft, ist selbst unaufgeklärt und kann  zu menschenrechtswidrigen Folgen führen, wie leider die Geschichte deutlich zeigt.

Man  muss sich in einer freiheitlichen demokratischen Gesellschaft wohl doch der Anstrengung unterziehen, die Realität in ihrer Differenziertheit und Dynamik wahrzunehmen - etwa auch mittels wissenschaftlicher Studien. Illusionäres "Wünsch-Dir-was" ist eher Ihre Auffassung, man könne die "harte Realität" durch Ausgrenzung verändern.

Nun hat Innenminister Friedrich (nach vorherigem Abstreiten  im Bundestag) laut SPON eingeräumt, dass die Studie tatsächlich aus dem Ministerium vorab an BILD geleitet wurde. Man muss es wohl so deutlich sagen: Diese exklusive Zusammenarbeit mit dem notorischen Lügenblatt ist als Informationspolitik des Bundesinnenminsiteriums nicht nur peinlich, sondern durch und durch unseriös.

 

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