Warnschussarrest - der falsche Weg

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 15.03.2012

Die Berliner Regierungskoalition hat in ihrer Sitzung Anfang März beschlossen, den schon im Koalitionsvertrag vereinbarten Warnschussarrest auf den Weg zu bringen (Meldung auf tagesschau.de). Dabei geht es um die in der Rechtspolitik seit längerem (als "Einstiegsarrest") diskutierte Möglichkeit, die bisher nach § 8 Abs.2 JGG ausgeschlossene Kombination von Jugendstrafe und Jugendarrest bei einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe zuzulassen: Der zu einer zur Bewährung ausgesetzten Jugendstrafe Verurteilte soll zu Beginn seiner  Bewährungszeit mit einem (bis zu) vierwöchigen Arrest schon einmal mit den Realitäten des Gefängnisalltags "geschockt" werden. Dies soll dann zur Einsicht führen und ermuntern, die Bewährungszeit ohne weitere Straftaten zu überstehen. Ein nur auf den ersten Blick schlüssig erscheinendes Konzept. Aber die vom Schusswaffeneinsatz her bekannte Ausdrucksweise spricht schon Bände. Von manchen wird die Idee noch angereichert um eine Analogie aus dem Fußballsport: Verniedlichend spricht man von  "gelber Karte", obwohl es sich - um im Bild zu bleiben - um eine rote Karte mit Sperre für vier Spieltage handelt.

Grund für diese Neuregelung ist es wohl. dass von vielen Menschen, unterstützt durch Medienberichte,  eine zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe nicht als echte Sanktion angesehen wird und man dem Vergeltungsgedanken nachgeben will, der sich v.a. bei öffentlich diskutierten Einzeltaten Jugendlicher rührt. Seit Jahren wird in den Medien, zum Teil auch von Politikern, der falsche Eindruck einer steigenden Jugendkriminaliät/Jugendgewalt erzeugt, dem man durch entsprechende "härtere" Maßnahmen begegnen müsse. Die "pädagogischen Erklärungen" (siehe oben) sind nur vorgeschoben, es geht um Vergeltung.

Der Warnschussrarrest  wird von den meisten Experten des Jugenstrafrechts abgelehnt (hier die Pressemitteilung des DVJJ e.V.), und dies zu Recht:

Der Jugendarrest ist - neben der vollstreckten Jugendstrafe - das am wenigsten erfolgreiche Mittel, um Rückfälle zu verhindern. Auch wenn sich einzelne Arrestanstalten große pädagogische Mühe geben , muss man leider eine im allg. nicht nützliche, ja eher schädliche erzieherische Wirkung feststellen: der Arrest scheint Rückfälle zu produzieren statt zu verhindern.

Die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe (verbunden mit pädagogisch begleiteter und beaufsichtigter Bewährungszeit, in der Weisungen und Auflagen zu erfüllen sind) hat eine wesentlich bessere erzieherische Bilanz. Warum sollte man diese durch einen vorangestellten Arrest gefährden?

Die zu einer Jugendstrafe verurteilten Jugendlichen haben in ihrer großen Mehrheit ohnehin bereits einen Jugendarrest hinter sich, so dass der erzieherische Effekt eines "ersten Warnschusses" offenbar nicht eingetreten ist  - warum sollte er dies nun tun?

Der Gewöhnungseffekt einer Einsperrung ist derart, das man mit diesem Mittel äußerst vorsichtig umgehen sollte. Der von den Koalitionären beschworene Abschreckungseffekt durch reale Einsperrung existiert nicht - wenn überhaupt ist die Abschreckung durch drohende / potentielle Einsperrung größer.

Ausdrücklich lade ich auch Praktiker zur Diskussion ein, wie schon vor zwei Jahren.
Damals wurde als Argument für die Gesetzesänderung aus der Praxis angeführt, diese erlaube den Richtern eine größere Flexibilität und ein Einstiegsarrest könne zumindest bei einigen (wenigen) Fällen eine durchaus sinnvolle Sanktion sein.

 

 

 

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12 Kommentare

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Einer der Gründe für die schlechten Rückfallquoten ist auch die Tatsache, dass Arrest und Jugendstrafe erst bei schwereren Taten verhangen werden. Warum dann die Kombination helfen sollte, ist mir schleierhaft. Ich vermutete eher, dass der Einstiegsarrest in seiner Anwendung als eigene Sanktion betrachtet wird und ggf. den einfachen Arrest ersetzt oder auf leichtere Taten verdrängt. Das wäre dramatisch.

Dabei müsste man schon drauf kommen, wenn man in die eigene Vergangenheit schaut. Wer von uns würde denn durch 4 Wochen Arrest zu einem Sinneswandel bewegt? Bei mir hätte das jedenfalls nicht geklappt. Im Vergleich zu den heutigen Kandidaten, war ich aber eher ein gemäßigter Jugendlicher.

Man müsste eher mit dem Labeling approach zumindest eine Gefahr sehen, dass sich die Jugendlichen (zu Recht) ungerecht behandelt fühlen und somit erstrecht rebellieren.

Insgesamt fällt mir auf, dass die Argumente von uns Gegnern des Einstiegsarrest eigentlich nie bearbeitet werden, während stets behauptet wird, dass der Arrest sinnvoll sei, ohne dies ordentlich zu belegen. Denn die bisherigen Studien zu short-sharp-shock-Methoden deuten doch alle in die gegenteilige Richtung. Dann muss man doch gerade großen Aufwand betreiben um die Notwendigkeit des Arrests zu belegen.

Wenn ich ein Zitat aus der Diskussion von Herrn Dipl. Jur. Michael Gladow vor zwei Jahren bringen darf

'Es muss grade genug sein um die Welt in der sich der Jugendlich befindet und sich sicher genug fühlt das Gesetz zu brechen einstürzen zu lassen und ihm zu vermitteln "Wir meinen es ernst!".'

Man sieht hier, dass bereits der völlig falsche Ansatz verfolgt wird. Ziel der jugendstrafrechtlichen Erziehungsmittel ist eben gerade nicht, dem Jugendlichen gegenüber Macht zu demonstrieren. Wir haben kein Feindstrafrecht in Deutschland, schon gar nicht im Jugendstrafrecht.

 

Letztlich möchte ich darum bitten, in der Diskussion einen angemessenen Umgangston zu wahren. Ich glaube nicht, dass die Mitglieder der DVJJ es verdient haben als Propagandisten bezeichnet zu werden.

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Was in dieser Diskussion oftmals verkannt wird, ist, dass Arrest und Jugendstrafe zwei unterschiedliche Tätergruppen ansprechen: Während der Arrest als Zuchtmittel den "gutgearteten" Jugendlichen - i.e. ohne erzieherische Defizite, im Blick hat -, dem das Unrecht seiner Tat mit einem kurzen heilsamen Schock vor Augen geführt werden soll, geht es bei der Jugendstrafe (auch die Verhängung wegen Schwere der Schuld ist nach h.M. nur möglich, wenn sie auch aus erzieherischen Gründen geboten ist) um einen Jugendlichen mit Erziehungsdefiziten (im Extremfall schädlichen Neigungen). Bereits aus diesem Grund ist eine Änderung des § 8 Abs. 2 JGG in systematischer Hinsicht Unsinn.

Die schlechte Quote, die der Arrest gegenwärtig produziert, hat mMn damit zu tun, dass viele Jugendrichter die Systematik der Rechtsfolgen des JGG nicht verstehen und im Sinne einer "Eskalationslogik" stufenweise die "Strafe" erhöhen: Einstellung ohne Auflagen - Einstellung mit Auflagen - Verwarnung - Arbeitsstunden - mehr Arbeitsstunden - Arrest - § 27 JGG - § 57 JGG - § 21 JGG usw. usf. Dies wird der feinen Systematik des Gesetzes nicht gerecht - dem JGG geht es mit seinem flexiblen Interventionsinstrumentairum eigentlich darum, für jeden Jugendlichen die für ihn passende Maßnahme bereit zu halten.

Wenn nun aber Jugendliche mit Erziehungsdefiziten (Karrieretäter) im Arrest landen, bewahrheiten sich die Befürchtungen der DVJJ: Es findet eine erste Gewöhnung an die Inhaftierung statt, eine drohende Jugendstrafe verliert ihren Schrecken. Geradezu kontraproduktiv wirken sich für diese Jugendlichen bisweilen programmatische Ausgestaltungen des Jugendarrestvollzugs aus, wie ich sie bspw. z.T. in RLP erlebt habe. Wird ein solcher Karrieretäter im Wochenendarrest auch noch mit Film-, Brief- oder gar sonstigen pädagogischen Projekten "bespaßt", kann der gewünschte Effekt erst recht nicht eintreten...

Hinzu kommt, dass es der Praxis aufgrund fehlender Plätze und verfahrenstechnischer Verzögerung häufig nicht gelingt, den Arrest zeitlich unmittelbar auf die Tat folgen zu lassen. Findet die Ahndung der Tat aber erst ein halbes oder ganzes Jahr nach der Tat statt, kann der erzieherische Effekt im Sinne eines "short sharp shock" natürlich nicht statt finden.

Allerdings bin ich im Rahmen kriminologischer Einzelfallforschung schon häufiger jungen Karrieretätern begegnet, die im Nachhinein offen zugeben, dass jede Bewährungsstrafe für sie wie ein Freispruch gewirkt habe, denn schließlich seien sie als freier Mensch aus dem Gericht spaziert. Und an die Bewährungsauflagen hätten sie sich sowieso nicht gehalten (weshalb wir sie dann später auch in der JVA exploriert haben). Auch hier zeigt sich jedoch leider vielfach die fehlende Kompetenz der Jugendgerichte, die im Sinne einer falsch verstandenen Milde des JGG Bewährung auf Bewährung folgen lassen, anstatt zur richtigen Zeit die richtige Maßnahme zu verhängen. Ich bitte dies nicht falsch (i.S. einer Forderung nach härterer Anwendung des JGG) zu verstehen. Es ist jedoch so, dass uns viele ehemalige Jugendstrafgefangene, die inzwischen den Ausstieg aus der Kriminalität vollzogen haben, sagen, dass sie erst im Jugendstrafvollzug begriffen hätten, wohin ihr Leben driftet. Sie hätten den Ausstieg früher geschafft, wenn sie früher inhaftiert worden wären. Es kommt letztlich also darauf an, mithilfe von kriminologischer Diagnostik die richtigen Interventionen für den jeweiligen Straftäter auszuwählen. Denn einen echten Karrieretäter mit negativer Legalprognose hält auch ein "Einstiegsarrest" nicht von weiteren Taten ab...

 

 

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Sehr geehrter Herr Sobota,

danke für Ihren Beitrag. Dass der Warnschussarrest nicht im Einklang steht mit dem jugendstrafrechtlichen System der Rechtsfolgen, habe ich in meinem Ausgangsbeitrag schon gar nicht mehr erwähnen wollen, um den Eindruck zu vermeiden, es ginge den Kritikern nur um den bloßen Schutz eines Systems von Rechtsfolgen, das sich eigentlich mehr schlecht als recht bewährt hat.

Aber es trifft natürlich zu: Wenn man es von dem Ausgangspunkt des Gesetzes her betrachtet, dann sollten Zuchtmittel (Jugendarrest) eine andere Klientel treffen als die Jugendstrafe. Und da es mittlerweile für die jungen Straffälligen, die die Zielgruppe der Zuchtmittel sein sollten, besser geeignete ambulante Sanktionen gibt, spricht eigentlich alles für die Abschaffung des Jugendarrests.

Der Jugendarrest hat - wie Sie richtig anführen - heute aber tatsächlich die Funktion einer "kurzen Jugendstrafe" und wird - innerhalb des aufsteigenden Maßnahmenkatalogs nicht als aliud sondern als Vorstufe zur Jugendstrafe verwendet. Betrachtet man dann diese Maßnahmenstufen, findet die zur Bewährung ausgesetzte Jugendstrafe keinen rechten Platz darin. Sie erscheint vordergründig betrachtet als weniger belastend als die vierwöchige Arrestierung. Deshalb kommt man auf die Idee zwischen JA und JS die Zwischenstufe "JA plus JS auf Bew." einzufügen.

Alles spricht demnach für Ihre Auffassung, man müsse jeweils "mithilfe von kriminolgischer Diagnistik die richtigen Interventionen für den jeweiligen Straftäter auswählen". Leider ist das in der Praxis nicht so leicht wie es erstmal den Anschein hat. Diagnostik und Prognostik von menschlichen Verhaltensweisen sind aufwändig und haben ein sehr hohes Fehlerpotential. Der "echte Karrieretäter mit negativer Legalprognose" ist (vorab bzw. früh) nicht immer eindeutig zu erkennen. Zudem wird nicht immer beachtet, welche schädlichen und karriereverlängernden Wirkungen die stationären Sanktionen selbst haben (können). Ob die Betroffenen selbst zutreffend einschätzen können, was eine frühere Inhaftierung bei ihnen bewirkt hätte?

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

dass das systematische Argument so leichtfertig abgetan wird, war mir gar nicht bekannt. Aber dass es den Kritikern beim Hinweis auf das Rechtsfolgensystem des JGG nicht um Nostalgie oder systematische Förmelei geht, dachte ich, versteht sich von selbst. Das System ist kein Selbstzweck, sondern fußt auf einer klugen Unterscheidung. Mein Lehrer Prof. Bock pflegt zu sagen, dass das JGG leider "schlauer" als seine Anwender sei. Aus diesem Grund ist das mit dem "mehr schlecht als recht bewährt" so eine Sache... Dem Gesetz kann man da mMn den geringsten Vorwurf machen.

Was die kriminologische Diagnostik und Prognostik angeht, rennen Sie bei mir offene Türen ein. Als Schüler der Mainzer Angewandten Kriminologie beschäftige ich mich intensiv mit dieser Frage. Leider haben die meisten Kriminologen die Anwendung kriminologischen Erfahrungswissens auf den Einzelfall vollkommen vernachlässigt. Dabei besteht ein vielfältiger Bedarf in allen Bereichen der Strafrechtspflege und insbesondere auch im Jugendstrafrecht. Es ist teilweise kaum zu fassen, welch unbedarfte Ausführungen sich in jugendstrafrechtlichen Urteilen finden (Literaturempfehlung Bock in FS Ebert, 459-473). Gerade, was die Unterscheidung passagerer Kriminalität von echten persistenten Verläufen angeht, besteht erheblicher Verbesserungsbedarf. Auch wenn es bei der Analyse menschlichen Verhaltens natürliche Grenzen gibt, schöpft die derzeitige Praxis (und Ausbildung!) die Potentiale kriminologischer Hilfsmittel bei weitem nicht aus. Dies gilt im übrigen bspw. nicht für junge Richter, die zu Beginn ihrer Laufbahn zwischen den verschiedenen Fachgerichten hin- und herpendeln und mit einem derart komplexen Gesetz wie dem JGG schlicht überfordert sind, sondern auch für die sozialen Dienste der Justiz (JGH), deren Personal nicht hinreichend ausgebildet wird. Aber das ist ein tiefes Fass, das an dieser Stelle besser nicht geöffnet wird...

Im Übrigen haben Sie natürlich völlig Recht, dass die nachträgliche Einschätzung eines Geläuterten mit Vorsicht zu genießen ist, aber ich finde es interessant, dass man von Betroffenen immer wieder mit solchen Aussagen konfrontiert wird. Hier kommt gerade bei Jugendlichen eine altersgemäße Reifung hinzu, die natürlich nicht durch den Vollzug einer Jugendstrafe um Jahre vorgezogen werden kann. Es bestätigt aber den Eindruck, dass die schematische Stufenfolge der Praxis (Jugendstrafrecht=etwas milderes Erwachsenenstrafrecht) der falsche Weg ist, sondern dass es darauf ankommt, die richtige Maßnahme für den individuellen Jugendlichen auszuwählen. Diese Möglichkeit gewährt einem das JGG schon jetzt, auch ohne Warnschussarrest.

 

Beste Grüße aus Mainz

S. Sobota

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Also, ich übernehme dann (mal wieder?) im Blog die unpopuläre Position: Ich finde es immer besser, wenn das Gericht flexibel und einzelfallbezogen reagieren kann. Auch wenn natürlich im Großteil der Verfahren neben der Jugendstrafe ein Arrest kaum (mehr) Sinn macht, kann es doch durchaus Fälle geben, in denen ein "kurzer Vollzug" (Arrest) und die  Drohung einer evtl. später zu vollstreckenden Jugendstrafe genau das Richtige ist. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass viele Praktiker so einer Regelung durchaus befürworten und damit sicher auch verantwortungsvoll umgehen.

Die Positionen der beiden Wissenschaftler sind, da sich die Rechtsprechung weitgehend von der Rechtswissenschaft entkoppelt hat, zutreffend, aber leider nicht lebensnah. Mit solchen Erwägungen kann man als Verteidiger schon lange kein JGG-Verfahren mehr "gewinnen". Das breite Spektrum der Sanktionsmöglichkeiten (einschließlich der beliebten, aber gesetzlich gar nicht vorgesehenen "Vorbewährung") erlaubt es, daß jeder Richter Rechtsfolgen nach eigenem Gutdünken verhängt, was man ihm nicht einmal verübeln kann, denn gerade bei der rziehung Jugendlicher spielen auch eigene persönliche Erziehungskonzepte und -erfahrungen eine Rolle.  Begünstigt wird dies durch den beschränkten Rechtsmittelzug im Jugendstrafrecht. Wenn Berufungskammer und Jugend(schöffen)gericht Hand in Hand gehen, fehlt es an der obergerichtlichen Kontrolle, Sprungrevisionen verhindert oftmals die Staatsanwaltschaft durch ihre "taktischen" Sperrberufungen und selbst auf das zuständige OLG ist nicht immer Verlass. Gerne wird die BGH-Rechtsprechung wortlos (§ 349 Abs. 2 StPO) übergangen, so daß man nie erfährt, wie das OLG zu bestimmten materiellrechtlichen Fragen steht.

 

Wissenschaftliche Erkenntnisse finden in der Praxis nur selten Berücksichtigung, zumal der Posten des Jugendrichters gerade an großstädtischen Amtsgerichten fortwährend wechselt, gerne auch mit Proberichter(innen) besetzt wird, die vom ihrem 30. Lebensjahr noch weit entfernt sind. Sinnvoll sieht für mich anders aus.

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Sehr geehrter Herr Gorn,

Sie schildern sicherlich zutreffend, wie es in der Praxis zugeht, und weshalb man bei der Sanktionierung  (zumindest als Verteidiger) mit wissenschaftlichen Argumenten kaum weiterkommt.

Aber was soll man als Wissenschaftler mit Ihrem Verdikt "zutreffend, aber leider nicht lebensnah" anfangen? Soll die Wissenschaft nun lebensnah sein und deshalb in dasselbe Horn stoßen wie die Rechtsprechung?

Oder soll die Wissenschaft  einfach aufhören mit ihren wissenschaftlichen Ratschlägen mangels Lebensnähe, da sie sowieso in der Rechtsprechung nicht berücksichtigt werden?

Dazu kommt: Gerade in dieser Frage (Einstiegsarrest) geht es ja momentan gar nicht um eine versuchte Einflussnahme direkt auf die Rechtsprechung, sondern um eine Kritik am Gesetzgeber (der ja nun allerdings auch macht was er will).

Im Übrigen sehe ich die Einflussnahme-Möglichkeiten nicht so völlig düster (wenn auch recht dunkel): Einige Praktiker, gerade wenn sie neu auf dem Jugendrichter-Posten sitzen, gucken ja doch vielleicht mal in einen Kommentar. Einige gehen zu Tagungen. Manche lesen gar in Zeitschriften oder im Beck-Blog. Und es gibt durchaus auch in der Praxis Leute, die bei einem rechtswissenschaftlichen Argument aufgeschlossen sind. Also müssen wir weiter dicke Bretter bohren...

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

"In theory, there is no difference between theory and practice. But, in practice, there is." (Jan L. A. van de Snepscheut/Yogi Berra.) Damit muss man also leben. Rechtswissenschaftler wie Prof. Dr. Müller und Wiss. Mitarb. Sobota holen sich ihren täglichen Schuss Masochismus ab, wenn sie das bunte Treiben der Strafrechtspraktiker unter die Lupe nehmen.

 

Man kontrastiere die ausgewogegen, das Für und Wider abwägenden Ausführungen der Herren Müller und Sobota nur einmal mit der Wortmeldung des fröhlichen Praktikers Krumm. Da passt schon die Diktion nicht. In vier Sätzen drei Mal das Wort "durchaus". Und vom "Sinn machen" ist auch die Rede. Das ersetzt ja nicht die Argumentation. Es ist vielleicht nur eine Stilfrage, ob sich ein Strafrichter überlegt, welche Formulierungen er wählt. Herr Krumm gefiel es jedenfalls, Arrest und Drohung mit der Jugendstrafe - wörtliches Zitat - als "genau das Richtige" zu bezeichnen. Wohl bekomm's!  

 

 

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Die Kritik an der Einführung des Warnschussarrests ist nicht nachvollziehbar. Sie ist im Gegenteil notwendig, um der ständig zunehmenden Jugendkriminalität Herr zu werden.

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Sehr geehrter Gast:

Die Jugendkriminalität steigt seit einigen Jahren nicht mehr.

Dass der Warnschussarrest "notwendig" ist, habe ich versucht, mit Argumenten zu widerlegen. Aber vielleicht haben Sie ja Gegenargumente? Dann nennen Sie uns diese bitte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

@Prof. Müller: Ich glaube, die Antwort des Gastes war ein Trollversuch. 

 

Ich muss sagen, ich achte es hoch, dass Herr Krumm sich hier gegen den Wind des Blogs stellt. Dennoch überrascht mich das Argument immer wieder wenn ich es höre oder lese. Das gleiche verwendet auch der berliner Jugendrichter Andreas Mueller, wenngleich in weitaus polemischerer Weise. Es wird immer gesagt, es handle sich um ein zusätzliches Instrument und die Praxis würde damit verantwortungsvoll umgehen. Besagter Jugendrichter lässt mich durch seine Aussagen (man sollte sich dazu, soweit möglich, mal die Sendung 'Hart aber fair' mit ihm ansehen) am Letztgenannten schon zweifeln. Aber auch das Argument ist doch ansich nicht sinnträchtig, denn man könnte es für jede weitere Sanktion vorbringen, egal welchen Nutzen sie hat - selbst für die Todesstrafe. Die Erweiterung einer flexiblen Sanktionsauswahl ist vielleicht für jede Sanktion ein 'pro' aber wohl das schwächste denkbare. Darüber hinaus wird, wie oben dargestellt, immer behauptet der Arrest sei sinnvoll oder es gäbe Jugendliche bei denen er sinnvoll ist. Welche sind das? Wie muss ich mir diejenigen vorstellen? Seiner Idee nach soll der Arrest ja auch nicht wie eine kleine Jugendstrafe ausgestaltet sein, warum also sollte er vor ihr warnen? Mit Verlaub, bisweilen scheinen mir die Argumente der Praktiker mehr so etwas wie ein Glaube an die Wirksamkeit als konkrete Wirksamkeitserwartungen zu sein.

 

Eine Frage noch in die Runde. Liegen eigentlich neue konkrete Entwürfe vor? Die letzten hatte wohl Heribert Prantl vorliegen, für seine Artikel in der SZ. 

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@ Prof. Müller

 

Ich meine, daß die Rechtswissenschaft schon darauf reagieren muß, daß sie von der Praxis immer mehr mißachtet wird. Die alte Regel: die Wissenschaft schreitet mit der Laterne voran, die Praxis folgt ihr, gilt kaum noch. Der BGH zitiert sich am liebsten nur noch selbst, die wissenschaftliche Literatur allenfalls, wenn es ihm in den Kram paßt. Den Untergerichten genügt - wenn überhaupt - ein Beck'scher Kurzkommentar. Das war früher einmal anders, wird aber in Zeiten von juris immer schlimmer.

 

Wenn diese Entwicklung so weitergeht, droht die Rechtswissenschaft weiter an Einfluß zu verlieren und es stellt sich die Frage, welche Funktion sie mit Ausnahme der Ausbildung des Juristennachwuchses noch haben kann. Es ist ja nicht hilfreich nur l'art pour l'art zu betreiben: die Wissenschaft auf der einen, die Praxis auf der anderen Seite und wenig hat man gemein.

 

Meines Erachtens muß die Wissenschaft vor allem Lösungen für die Probleme anbieten, die in der Rechtsprechung nicht oder kaum geklärt sind. Als Praktiker trifft man täglich auf Rechtsprobleme, die man in keinem Kommentar, keiner Gerichtsentscheidung und keinem Lehrbuch erörtert findet. Man glaubt es kaum, wie vielfältig Lebenssachverhalte sein können.   Wenn man statt dessen den 100sten Aufsatz über ein Problem liest, daß die Obergerichte schon zig mal entschieden haben und der völlig "ausgelutscht" ist, trägt das nicht gerade dazu bei, daß sich die Wissenschaft wieder "ins Spiel" bringt.

 

Zwei banale Beispiele, die mir heute aktuell als Akten auf dem Tisch liegen (hat freilich mit dem Ausgangsproblem nichts tun):

 

1. Welches Schicksal erfährt ein selbständiges Beweisverfahren der ZPO, wenn der Antragsgegner verstirbt (§239? § 246? § 494 ZPO?) Die meisten ZPO-Kommentare schweigen (Zöller verweist als einziger (?) auf § 494 ZPO), die zuständigen LG-Kammern sind sich unschlüssig und, ebenso wie die Anwälte, auf der verzweifelten Suche nach Literatur mit überzeugenden Argumenten.

 

2. Hat der Vermächtnisnehmer eines testamentarisch vermachten Wohnrechts einen Anspruch auf dessen dingliche Sicherung, auch wenn er ins Altenheim zieht und wer (Erbe / Vermächtnisnehmer) hat welche Lasten des Grundstücks zu tragen? Auch hier gibt es, soweit ersichtlich, nur ein paar dünne und widersprüchliche Gerichtsentscheidungen, einige kurze Stellungnahmen in der Literatur, aber keine nachvollziehbaren rechtswissenschaftliche Untersuchungen. Alle Beteiligten schauen sich in der Verhandlung ratlos an und müssen sich mangels rechtswissenschaftlicher Unterstützung Argumente aus den Rippen schwitzen. Wenn man Humorpunkte sammeln möchte, kann man vielleicht ein weises "abberatio ictus" in die Runde werfen, worauf der Kollege die Brille nach unten zieht und "ne bis in idem" erwidert. Dann ist zumindest die Mandantschaft beeindruckt...

 

(Dissertationsvorschläge für die nächsten Doktoranden)

 

Und so geht das jeden Tag. Es ist ja kein Wunder, daß alle nur noch geistlos juris aufrufen und Stichworte einhacken, wenn trotz aller Literaturschwemme überwiegend Redundanz herrscht, aber viele Praxisprobleme von der Rechtswissenschaft nicht gesehen oder nicht aufgegriffen werden.

 

 

 

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