BGH hebt Urteil in der Sache "Winnenden" auf

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 02.05.2012

Schon am 22. März hat der 1. Senat des BGH das im Februar 2011 ergangene Urteil gegen den Vater des Jungen aufgehoben, der 2009 in Winnenden 15 Personen und sich schließlich selbst getötet hat (frühere Beck-Blog-Beiträge hier und hier). Die Meldung (mit Video swr), zuerst von focus-online verbreitet, hat am Feiertag verschiedene Interpretationen ausgelöst. Der Beschluss ist im Wortlaut jetzt hier publiziert,  über einige Details des Beschlusses ist schon berichtet worden. Allerdings scheint an dieser vorläufigen Berichterstattung auch manches korrekturbedürftig.

Soweit geschrieben wird, es handele sich "nur" um einen Verfahrensfehler und damit praktisch unterstellt wird, es handele sich um eine bloße Formalie, ist dieser Eindruck wohl nicht zutreffend. Hier wurde offenbar die Aussage einer wichtigen Zeugin in der Beweiswürdigung verwertet, die von der Verteidigung nicht befragt werden konnte, nachdem die Strafkammer ihr ein Auskunftsverweigerungsrecht zugebilligt hatte. Der Hintergrund wird in der Badischen Zeitung so geschildert (Auszug):

Wichtigste Belastungszeugin war die Kriseninterventions-Helferin A. L., die die Familie K. seit dem Amoklauf betreute. Sie sagte vor Gericht zunächst aus, dass Vater K. von den Mordphantasien seines Sohnes wusste. Eine Klinik, in der Tim zeitweise behandelt wurde, hatte den Eltern von einer Äußerung des Jungen berichtet, wonach dieser Hass auf die Welt habe und "am liebsten die ganze Menschheit umbringen" würde.
Zwei Wochen später widerrief sie die Aussage und schilderte eine für Jörg K. günstigere Version. Daraufhin leitete die Staatsanwaltschaft gegen die Zeugin ein Verfahren wegen versuchter Strafvereitelung ein. A. L. kehrte nun wieder zu ihrer ersten Version zurück. Das Landgericht billigte ihr aber wegen des drohenden Strafverfahrens ein Aussageverweigerungsrecht zu, so dass Jörg K.s Verteidigung die Belastungszeugin nicht befragen konnte.

 

Es geht nicht nur um eine Formalie. Das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO steht einem Zeugen nur zu, wenn ihm wegen einer früheren Tat Verfolgung droht, nicht aber, wenn es um eben die betr. Zeugenaussage selbst geht, die hier ja offenbar noch nicht abgeschlossen war. Es erscheint mir zudem ganz unwahrscheinlich, dass der Schuldspruch der Strafkammer von der Revisionsentscheidung unberührt geblieben sein soll, wie es bei SPON heißt (dazu Burhoff). Offenbar soll der BGH  aber ausgeführt haben (obiter dictum?), dass eine Verurteilung aus Sicht des Senats auch ohne die Aussage der Zeugin möglich wäre - fahrlässige Tötung könne dem Vater auch dann vorgeworfen werden, wenn er allgemein über die kritische psychische Befindlichkeit seines Sohnes informiert gewesen wäre - über eine Tötungsabsicht hätte er nicht unbedingt informiert sein  müssen. Da dies gerade Inhalt der betr. Zeugenaussage war, würde ein solcher Hinweis thematisch durchaus Sinn machen, ändert aber nichts daran, dass der Schuldspruch zunächst einmal aufgehoben wird.

Erstaunen hat erregt, dass der BGH die Sache an eine "andere Jugendkammer" des LG Stuttgart zurückverwiesen haben soll (Quelle). Das aufgehobene Urteil stammt aber von einer Strafkammer.

Einige spekulieren, es handele sich um einen Fehler des BGH (hier), andere meinen, der BGH erachte eine Jugendkammer wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit der (jugendlichen) Zeugen für zuständig. Eine solche Zuständigkeit ergäbe sich allenfalls aus § 26 GVG als Jugendschutzkammer, worauf ein Leser hinweist (s.u.). Ob aber überhaupt jugendliche Zeugen vernommen werden müssen, erscheint mir fraglich: Gerade die Feststellungen zum Tattag wurden nicht aufgehoben. Eine Zurückverweisung an eine Jugendkammer, wenn das Urteil gegen einen Erwachsenen von einer Strafkammer gesprochen wurde, ist zumindest "ungewöhnlich".

(Beitrag leicht geändert nach Veröffentlichung des Beschlusses auf juris)

Update (7. Mai): Der Senat hat jetzt einen Berichtigungsbeschluss getroffen: Es wird nunmehr an eine andere Strafkammer verwiesen.

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30 Kommentare

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Die Zuständigkeit der Jugendkammer (als Jugendschutzkammer) ergibt sich aus § 26 Abs. 1 S. 1 GVG.

 

"Für Straftaten Erwachsener, durch die ein Kind oder ein Jugendlicher verletzt oder unmittelbar gefährdet wird, ..."

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@ PH

Laut Ziffer 3 des Tenors wird ausdrücklich an eine "andere Jugendkammer" zurückverwiesen. Der Tenor ist maßgeblich, nicht die Ausführungen in den Urteilsgründen.

 

@ Andreas Voß

§ 74b GVG i.V.m. § 26 Abs. 1 GVG

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Vielen Dank für den Link, Herr Burschel!

@PH: In der Tat - ich glaube jetzt auch, dass es sich im Beschlusstenor um einen Schreibfehler handelt, das würde auch das "andere" erklären.

@Andreas Voß: Eine Zuständigkeit als Jugendschutzkammer scheint mir eher fernliegend. Zumindest müsste dann doch zu den Voraussetzungen des § 26 Abs.2 GVG Stellung genommen werden, die offenbar zuvor nicht bejaht wurden.

 

Da die Jugendschutzkammer nach § 209a Nr. 2 b) StPO gegenüber der allgemeinen Strafkammer einem Gericht höherer Ordnung gleichsteht, hätte sie im Eröffnungsbeschluss, da sie hierin nach § 207 Abs. 1 StPO das Gericht zu bezeichnen hatte, vor dem die Hauptverhandlung stattzufinden hat, auch nach § 209 Abs. 1 StPO vor der allgemeinen Strafkammer eröffnen können. Wenn die Jugendschutzkammer die Anklage dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend "vor sich selbst" eröffnet hat und die Revision dies nicht rügt, wird wohl alles in Ordnung sein.

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Wenn es sich tatsächlich um ein Versehen handelt und das Ganze auch so nicht beantragt war, dann müsste die Anhörungsrüge nach § 356a StPO greifen. Sieht man beim BGH nicht alle Tage... ist aber schon vorgekommen (siehe BGH, Beschl. v. 13.04.2011, Az. 2 StR 524/10).
 

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Sehr geehrter Herr Voß, Sie schreiben

Wenn die Jugendschutzkammer die Anklage dem Antrag der Staatsanwaltschaft entsprechend "vor sich selbst" eröffnet hat und die Revision dies nicht rügt, wird wohl alles in Ordnung sein.

Ich verstehe ehrlich gesagt nicht ganz, was Sie meinen: Meines Wissens wurde die Anklage nicht zur Jugendschutzkammer erhoben, sondern zur Strafkammer. Die Strafkammer hat eröffnet, verhandelt und entschieden. Von einer gegen die Zuständigkeit der Strafkammer erhobenen Rüge ist nichts bekannt. Ebenso wenig ergibt sich aus den Gründen des Revisionsbeschlusses, warum die Strafkammer unzuständig gewesen sein soll. Weder in der Pressemitteilung noch auf journalistische Nachfragen hat die Pressestelle des BGH Auskunft zu diesem Teil des Tenors gegeben: Ist das vielleicht doch ein Hinweis auf einen Fehler?

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Nein, die Anklage war zur Jugendkammer erhoben. Diese hat vor sich selbst eröffnet. Vgl. Pressemitteilung des LG Stuttgart vom 6.5.2010 (online hier: http://www.landgericht-stuttgart.de/servlet/PB/menu/1253913/index.html?ROOT=1169294).

Diese Handhabung erscheint mir auch rechtlich zutreffend, weil die Voraussetzung von § 26 Abs. 2 GVG, dass Kinder oder Jugendliche als Zeugen benötigt werden, ersichtlich gegeben war.

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Jens Ferner weist Waffenbesitzer auf die durch den BGH in diesem Beschluss angedeutete Möglichkeit hin, wegen Verstoßes gegen Aufbewahrungspflichten generell auch gem. § 222 StGB (fahrl. Tötung) zu haften.

Die entspr. Passage des Beschlusses:

Vorsorglich weist der Senat darauf hin, dass die Annahme der Strafkammer, der Ange-klagte hätte voraussehen können, dass sein Sohn als Folge der unzulängli-chen Sicherung von Waffen und Munition auf Menschen schießen wird, nicht notwendig davon abhängig sein muss, wie präzise die Kenntnis des Ange-klagten über das Maß der psychischen Erkrankung seines Sohnes war. Schon diese unzulängliche Sicherung von Waffen und Munition unter Ver-stoß gegen die spezifischen waffenrechtlichen Aufbewahrungspflichten kann den Vorwurf der Fahrlässigkeit für Straftaten begründen, die vorhersehbare Folge einer ungesicherten Verwahrung sind.

Die Passage ist ein obiter dictum, bringt aber keine Sicherheit bei Beantwortung der Frage, wann konkret gleichsam eine "fahrlässige Beteiligung" an Vorsatztaten anderer strafbar ist. Wie schon früher hier diskutiert, sind bislang wenig geklärte Fragen der obj. Zurechnung betroffen. Der BGH argumentiert  auch weder mit dme Vater-Sohn-Verhältnis noch mit der Minderjährigkeit. Die Ausführungen zur "Vorhersehbarkeit" sind zudem seltsam unpassend, da sie eher neue/weitere Fahrlässigkeiten des Vaters betonen. Ob man die Passage so deuten kann, dass nunmehr generell die Aufbewahrungspflichten auch eine strafrechtliche Haftung für Straftaten Dritter begründen, erscheint fraglich. Aber es  wäre nicht neu, jedenfalls nicht in der Rspr. der OLG.

OLG Stuttgart NStZ 1997, 190:

"Gegenstände, die selbst bei bestimmungsgemäßem Gebrauch erfahrungsgemäß Gefahren für die Rechtsgüter anderer mit sich bringen, bedürfen besonders sorgfältiger Sicherung; in aller Regel ergibt sich dies bereits aus Rechtsvorschriften... In all diesen Fällen an sich gefährlicher oder mißbrauchsgefährdeter Gegenstände führt die Verletzung der durch eine Rechtsvorschrift angeordneten besonderen Sicherungspflicht dazu, daß, wenn diese Gegenstände infolge mangelnder Sicherung durch den Garanten von Dritten zu Fahrlässigkeits- oder Vorsatztaten mißbraucht werden, der Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Verletzung der Sorgfaltspflicht und der Straftat des Dritten hergestellt wird. So wird beispielsweise der Besitzer einer Waffe, der diese nicht ausreichend gegen unbefugten Gebrauch sichert, wegen fahrlässiger Tötung bestraft, wenn ein Dritter die Waffe an sich bringt und für einen Mord mißbraucht (vgl. S/S- Cramer 24. Aufl., § 15 Rn 154); ein Kraftfahrzeugbenutzer, der durch mangelnde Sicherung eines Kraftfahrzeugs die Unfallfahrt eines Dritten mit Körperschaden beim Unfallgegner fahrlässig ermöglicht, macht sich wegen fahrlässiger Körperverletzung bzw. fahrlässiger Tötung strafbar (vgl. BGH VRS 20, 282; OLG Hamm NJW 1983, 2456)."

 

 

Sehr geehrter Herr Voß,

vielen Dank für Ihren Link. Dass die Anklage zur Jugendkammer erhoben wurde, wusste ich nicht, mein Irrtum.

Aber in der von Ihnen verlinkten Mitteilung steht am Ende Folgendes:

Die 3. große Jugendkammer hat, da sie die Zuständigkeit der Jugendschutzkammer wegen des Vorwurfs eines Verstoßes gegen das Waffengesetz nicht für gegeben hält, das Hauptverfahren vor der 18. großen Strafkammer des Landgerichts Stuttgart eröffnet. Die 18. Strafkammer wird nun über die Anberaumung von Terminen zur Hauptverhandlung zu entscheiden haben.

Tatsächlich fand dann die Hauptverhandlung vor der 18. Strafkammer statt, siehe hier.

Angesichts dessen, dass die Feststellungen zum Tattag vom BGH gerade aufrechterhalten werden, kommt es mir weiterhin merkwürdig vor, dass der BGH an eine "andere Jugendkammer" zurückverweist.

Ebenso wenig weiß der Sprecher des LG Stuttgart damit etwas anzufangen (Winnender Zeitung):

„Andere“ Jugendkammer? Der Rätselspruch harrt noch der Dechiffrierung. Nein, sagt Lars Kemmner, Pressesprecher des Landgerichts Stuttgart, auch er wisse sich nicht zu erklären, was der BGH damit wohl meine. Und so kann Kemmner auch zur Frage, wann die Neuauflage stattfinden wird, „noch gar nichts sagen“.

 

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Badische Zeitung schrieb:
Wichtigste Belastungszeugin war die Kriseninterventions-Helferin A. L., die die Familie K. seit dem Amoklauf betreute. Sie sagte vor Gericht zunächst aus, dass Vater K. von den Mordphantasien seines Sohnes wusste.
Wieso wurde überhaupt eine Zeugenaussage der Kriseninterventions-Helferin vom Gericht berücksichtigt?
Unterliegen Mitarbeiter der Krisenintervention im Rettungsdienst nicht der Schweigepflicht?
Hatte Jörg K., der Vater des Täters, die Kriseninterventions-Helferin von ihrer Schweigepflicht entbunden?
Ist die Wahrheitsfindung im Strafverfahren ein ausreichender Grund, um die Schweigepflicht zu brechen?

Außerdem betreuen laut Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Krisenintervention_im_Rettungsdienst Kriseninterventions-Mitarbeiter ihre Klienten nur in den ersten Stunden nach einem Trauma. Im Fall Winnenden unterhielt die Kriseninterventions-Helferin anscheinend deutlich länger eine (unprofessionelle?) therapeutische Beziehung zu den Eltern des Täters. Hat die Mitarbeiterin ihren Kompetenzrahmen weit überschritten? Warum, um sich selbst wichtig zu machen?
Muss das Verhalten der Kriseninterventions-Helferin nicht massive Zweifel an ihrer generellen Glaubwürdigkeit wecken?

Quote:
Der Prozess muss wiederholt werden, wobei die Befragung der Familienhelferin durch die Verteidigung im Mittelpunkt stehen dürfte.
Wie weltfremd muss man sein, um die Aussagen einer derart offensichtlich unglaubwürdigen Person zur wesentlichen Grundlage der Prozesswiederholung zu machen, die erneut die Angehörigen der Getöteten traumatisieren wird?

Warum wird vom BGH der Täterschutz derart überzogen?

2

Einfach mal dem unter #1 angeführten Link folgen und lesen, dann muss man auch nicht solch alarmistischen Beiträge schreiben:

Anton B. schrieb:

Unterliegen Mitarbeiter der Krisenintervention im Rettungsdienst nicht der Schweigepflicht?
Hatte Jörg K., der Vater des Täters, die Kriseninterventions-Helferin von ihrer Schweigepflicht entbunden?

"Die Feststellungen der Kammer haben keine zureichenden Anhaltspunkte für eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung oder eine Zugehörigkeit der Zeugin zu den durch § 53 Abs. 1 Satz 1, § 53a StPO privilegierten Berufsgruppen ergeben. Wie sich aus der Aufzählung der aussageverweigerungsberechtigten Personen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-3b StPO ergibt, steht nach gesetzlicher Wertung nicht jedem Berater, der berufsmäßig oder ehrenamtlich in schwierigen Situationen Hilfe leistet, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers kann nicht im Wege extensiver Auslegung des Gesetzes abgeändert werden" (http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/document.py?Ger..., Rdnr.21)
.

Anton B. schrieb:
Im Fall Winnenden unterhielt die Kriseninterventions-Helferin anscheinend deutlich länger eine (unprofessionelle?) therapeutische Beziehung zu den Eltern des Täters. Hat die Mitarbeiterin ihren Kompetenzrahmen weit überschritten?

"Sie war noch am Tag des Amoklaufs von der Polizei gebeten worden, der Familie K. als Krisenbetreuerin zur Seite zu stehen, nachdem sämtliche Polizeikräfte, die derartige Aufgaben wahrnehmen konnten, für die Betreuung der überlebenden Tatopfer und von Angehörigen der Tatopfer eingesetzt waren. Frau L. kam der Bitte der Polizei nach. Zwi-schen ihr und der Familie K. entwickelte sich ein Vertrauensver-hältnis, das dazu führte, dass sie (auf Honorarbasis) ihre Tätigkeit für die Familie K. auch noch fortsetzte, als sie nicht mehr auf die Bitte der Polizei hin tätig war." (Rdnr. 8)

Anton B. schrieb:

Wie weltfremd muss man sein, um die Aussagen einer derart offensichtlich unglaubwürdigen Person zur wesentlichen Grundlage der Prozesswiederholung zu machen, die erneut die Angehörigen der Getöteten traumatisieren wird?

bitte auseinanderhalten: eine Befragung durch Verteidiger ist das Eine, inwieweit das Ergebnis dieser Befragung durch das Gericht gewürdigt wird, etwas völlig anderes. Außerdem ist nicht die Aussage selbst Ursache der Prozesswiederholung, sondern die fehlende Fragemöglichkeit der Verteidigung.
Anton B. schrieb:

Warum wird vom BGH der Täterschutz derart überzogen?

Jeder Beschuldigte hat das Recht auf einen fairen Prozess und dazu gehört auch, dass er jeden Zeugen (durch seinen Verteidiger) befragen (lassen) kann. Das hat mit Täterschutz überhaupt nichts zu tun, aber sehr viel mit den Grundlagen des Rechtsstaates. Wenn der BGH diese Revision verworfen hätte, wäre das etwa so schwerwiegend wie ein aufgrund einer für jeden, auch den Schiedsrichter erkennbaren Schwalbe gegebener und verwandelter Elfmeter im Champions-League-Finale.

Gleichzeitig hat der BGH klargemacht, dass es angesichts des Wissens des Vaters um den Geisteszustand seines Sohnes gar nicht entscheidend auf diese Zeugenaussage ankommt - die Opferangehörigen können also recht untraumatisiert von einer erneuten Verurteilung ausgehen.

BGH schrieb:
Wie sich aus der Aufzählung der aussageverweigerungsberechtigten Personen in § 53 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3-3b StPO ergibt, steht nach gesetzlicher Wertung nicht jedem Berater, der berufsmäßig oder ehrenamtlich in schwierigen Situationen Hilfe leistet, ein Zeugnisverweigerungsrecht zu. Diese Wertentscheidung des Gesetzgebers kann nicht im Wege extensiver Auslegung des Gesetzes abgeändert werden

Kein Mitarbeiter des Rettungsdienstes wird dort aufgezählt, weil die alle zu den "Gehilfen" nach §53a Abs. (1) Satz 1 gehören.

Wieso gehört eine Mitarbeiterin des Kriseninterventionsdienstes der Johanniter-Unfallhilfe nicht zu den ärztlichen Hilfsberufen, für die die Schweigepflicht nach § 203 StGB Abs. (3) Satz 2 und das Aussageverweigerungsrecht vor Gericht nach § 53a StPO gilt?

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Anton B. schrieb:

Kein Mitarbeiter des Rettungsdienstes wird dort aufgezählt, weil die alle zu den "Gehilfen" nach §53a Abs. (1) Satz 1 gehören.
Irrtum - das gilt nur für den Fall, dass sie auch tatsächlich "Gehilfe" eines (Not-)Arztes sind, also bei einem ärztlich geleiteten Einsatz oder in einer durch einen Arzt bestimmten Organisationsstruktur medizinisch tätig werden. Für einen Krankentransport von der Wohnung eines Patienten in die Arztpraxis oder ins Krankenhaus z.B. haben sie ebenso wenig ein Zeugnisverweigerungsrecht wie beim Bereitschaftsdienst auf Sport- oder Festveranstaltungen - sie müssen als Zeuge z.B. einer Schlägerei aussagen wie jeder andere "Normalo" auch.
Anton B. schrieb:
Wieso gehört eine Mitarbeiterin des Kriseninterventionsdienstes der Johanniter-Unfallhilfe nicht zu den ärztlichen Hilfsberufen, für die die Schweigepflicht nach § 203 StGB Abs. (3) Satz 2 und das Aussageverweigerungsrecht vor Gericht nach § 53a StPO gilt?
Genau lesen:

- sie war nicht Mitarbeiterin des Kriseninterventionsteams, d.h. nicht beruflich, sondern ehrenamtlich tätig. Aber selbst dann könnte sie noch unter §203 StGB fallen, möglicherweise aber nicht unter §53a StPO (das sind zwei unterschiedliche Einzelnormen, die unterschiedliche Berufsgruppen umfassen! Eheberater unterliegen z.B. der Schweigepflicht, haben aber kein Zeugnisverweigerungsrecht, bei Redakteuren ist es umgekehrt.), denn

- sie war nicht auf Anweisung eines Arztes oder eines anderen durch §53 StPO "geschützten" Berufsträgers tätig, sondern auf Bitten der Polizei. Die Gehilfen-Konstruktion nach §53a StPO verfängt also hier nicht.

- sie war weiterhin auf freiberuflicher Basis für den Angeklagten tätig, also nicht als Gehilfin einer in §53 StPO genannten Personengruppen oder Beratungsstellen. Daher hat sie auch für diese Phase kein Zeugnisverweigerungsrecht.

Warum? Weil der Gesetzgeber das so gewollt hat, d.h. bewusst zwischen Personen mit einer gewissen Berufsausbildung oder Anerkennung ihrer Beratungsstelle und ihren (unter deren Aufsicht stehenden) Gehilfen unterscheidet und anderen, deren Qualifikation und Zugehörigkeit nicht so eindeutig bestimmbar ist. Sonst könnte ich mir auch ein Schild "Kriseninterventionsberater" neben die Tür schrauben (weil ich ja schon Freunden und Bekannten in deren Lebenskrisen beigestanden habe) und fröhlich die Aussage über alles und jeden verweigern ...

 

Sehr geehrter Herr Anton B.,

Sie schreiben:

Wie weltfremd muss man sein, um die Aussagen einer derart offensichtlich unglaubwürdigen Person zur wesentlichen Grundlage der Prozesswiederholung zu machen, die erneut die Angehörigen der Getöteten traumatisieren wird?

Warum wird vom BGH der Täterschutz derart überzogen?

Wird vom BGH ein Urteil aufgehoben, wird dies in den Medien zum Teil auch durch Anwälte so vermittelt, als sei dies in jedem Fall eine Entscheidung für (oder gegen) den Täter bzw. die Opfer. Ganz so einfach ist es hier indes nicht: Der BGH ist auch dazu da, für eine einheitliche Rechtsprechung zu sorgen und allgemeine Richtlinien aufzustellen, v.a. auch dazu, das Verfahrensrecht zu sichern. Trotzdem werden nur wenige Urteile aufgehoben, sogar dann, wenn eindeutige Verfahrensfehler vorliegen, weil oftmals der BGH davon ausgeht, dass das Urteil nicht auf dem Fehler "beruht".

Wie war es hier? Schaut man sich die Geschichte des Verfahrens an, dann waren Staatsanwaltschaft und Gericht zu Beginn der Ansicht, es liege nur ein Verstoß gegen das Waffengesetz vor, der mit einer Geldstrafe durch Strafbefehl zu ahnden sei. Erst später ging man aufgrund der öffentlichen Diskussion (und auch der Proteste der Angehörigen!)  davon aus, der Vater könne auch wegen fahrlässiger Tötung angeklagt/verurteilt werden und dies müsse in öffentlicher Verhandlung geschehen. Allerdings meinte die Strafkammer, das sei nur dann der Fall, wenn der Angeklagte davon gewusst habe, dass sein Sohn auch "Tötungsphantasien" geäußert hatte. Diese Information über Tötungsphantasien war also entscheidend für die Verurteilung. Und dass der Vater davon gehört hatte, das hat gerade diese Zeugin ausgesagt (und dann widerrufen). D.h. hier ging es nicht um irgendeine Aussage, sondern (für das Gericht) um DIE entscheidende. Wenn hierbei Fehler gemacht werden, dann kann man nicht hinterher sagen, das sei egal. Wenn die Verteidigung hier keine Fragen stellen durfte, dann ist das fundamental.

Verehrter Herr Anton B., ich hoffe Sie kommen nie in die Situation, wegen einer Tat angeklagt zu werden. Aber wenn, dann würden Sie garantiert auch den entscheidenden Belastungszeugen befragen wollen. Und würde man Ihnen dieses Recht nehmen, würden Sie garantiert auch protestieren. Das hat mit "Täterschutz" nichts zu tun, sondern damit, ob einem vor Gericht Angeklagten, die fundamentalen Rechte gewährt werden, und zwar unabhängig von seiner - ja erst später im Urteil festgestellten - Schuld oder Unschuld.

Der BGH hat nun nicht nur das Urteil aufgehoben, sondern hat außerdem ausgeführt, dass er sogar für rechtlich zulässig hielte, den Vater wegen fahrlässiger Tötung zu verurteilen, wenn er über die Tötungsphantasien seines Sohnes gar nicht informiert war. Also hat der BGH hier sogar das Gegenteil von "Täterschutz" betrieben, sondern Waffenbesitzern gesagt: Wenn Ihr Eure Waffen nicht ordentlich verwahrt, dann könnt ihr für Verbrechen, die mit diesen Waffen begangen werden, unmittelbar verantwortlich gemacht werden! Dies ist viel mehr als die Staatsanwaltschaft und das Gericht ursprünglich dachten.

Also: Entgegen Ihrer Annahme hat der BGH hier für die Zukunft ein viel strengeres Vorgehen gegen Waffenbesitzer angedeutet. Das müssten Sie begrüßen. Und entgegen Ihrer Annahme muss keiner der traumatisierten Zeugen/Angehörigen erneut aussagen, weil der BGH die Feststellungen vom Tattag alle aufrechterhalten hat - dazu brauchen also keine Beweise mehr erhoben zu werden.

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

Henning Ernst Müller schrieb:
Also hat der BGH hier sogar das Gegenteil von "Täterschutz" betrieben, ...
und auch in weiteren Aspekten:

1. der BGH hat dem LG widersprochen, das der Ansicht war, die Straftat hätte "keine erhebliche Bedeutung", da sie "nur" fahrlässiges Handeln darstellt. Wegen des möglichen Strafmaßes und der konkreten Umstände der Straftat könne es sich durchaus um eine von erheblicher Bedeutung handeln. Darum könnten - je nach weiterer Abwägung des Landgerichts - Unterlagen wie die Epikrise nach §160a Abs.2 StPO zur Klärung von Sachverhalten herangezogen werden, also die nach dem "Amoklauf" verfasste Krankengeschichte von Tim K., verfasst von behandelnden Ärzten des Klinikums, im dem er zur Therapie war - dies selbst dann, wenn die Ärzte ihrerseits sich auf ihre Schweigepflicht berufen.

Diese Epikrise könnte den Vater belasten, aber auch entlasten.

2. Wenn der Angeklagte die Verwertung der Epikrise einerseits fordert, weil sie seiner Entlastung diene, andererseits ihre Heranziehung durch widersprüchliche Aussagen zu einer (nicht vorhandenen) Schweigepflichtentbindung erschwert, liegt es im Ermessen des Gerichts, ob und welchen Willen der Erben (in diesem Fall u.a. des Angeklagten) bezüglich des postmortalen Persönlichkeitsschutzes von Tim K. es daraus erkennt. Alleine aus diesem allgemeinen Schutzrecht heraus lässt sich auch ohne Entbindung von der Schweigepflicht durch die Erben jedenfalls kein grundsätzliches Verwertungsverbot der Epikrise ableiten (wie es bei einem lebenden Patienten der Fall wäre), sondern es  ist nach §160a Abs.2 StPO abzuwägen. So gesehen: auch betreffend den Todesschützen Tim K. kein "überzogener Täterschutz".

Zweite Auflage im Prozess um Amoklauf von Winnenden (FR)

Winnenden-Prozess reißt alte Wunden neu auf (Welt)

Die Weltsicht eines Amoktäters (Stuttgarter Zeitung)

Fünfmal hatte Tim K. das Klinikum am Weissenhof in Weinsberg besucht. Was er den Ärzten und Therapeuten anvertraute, behielten diese für sich. Im ersten Prozess gegen den Vater des Amokläufers von Winnenden und Wendlingen beriefen sie sich auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Nur schriftliche Unterlagen verrieten, dass der Junge den Ärzten von Tötungsfantasien berichtet hatte.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat jüngst verfügt, dass der Fall wieder aufgerollt wird. Die Therapeuten aus Weinsberg stehen in diesem zweiten Prozess gegen Jörg K. wieder auf der Zeugenliste. Und es ist keinesfalls ausgemacht, dass sie sich abermals auf ihre ärztliche Schweigepflicht berufen können. Denn fraglich ist, ob der Persönlichkeitsschutz des Patienten über dessen Tod hinaus fortbesteht, nachdem die Eltern von Tim K. offenbar ihr Einverständnis gegeben haben, dass die Therapeuten berichten.

In seiner Revisionsbegründung deutet der BGH an, dass eine großzügige juristische Auslegung möglich ist. Der Blick hinter die Mauern der Psychiatrie wird keine spektakulären Neuigkeiten zu Tage fördern, denn in groben Zügen sind die Sitzungen mit Tim K. dokumentiert und bekannt. Aber die Schilderungen der Therapeuten liefern eventuell Mosaiksteinchen, die die verschrobene Weltsicht eines Amoktäters begreifbarer machen.

Der Blick auf Weinsberg hat überdies möglicherweise Folgen auf das spätere zivilrechtliche Verfahren, in dem es um Schadenersatz und Schmerzensgeld gehen wird. Als Adressat für mögliche Forderungen könnte dann neben dem Vater des Täters auch das Zentrum für Psychiatrie in Weinsberg auftauchen, sofern das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass die Therapeuten hätten erkennen müssen, welche Gefahr von ihrem Klienten Tim K. ausging.

Daran dürfte vor allem der Angeklagte Interesse haben. Nachdem er im Juli 2011 wegen fahrlässiger Tötung in 15 Fällen zu einem Jahr und neun Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, muss er mit einer Lawine aus Schadenersatz- und Schmerzensgeldforderungen rechnen. Allein die Stadt Winnenden geht von Gesamtschäden in Höhe von 14 Millionen Euro aus. Wie viel davon geltend gemacht werden kann, wird derzeit geprüft. Die Forderungen der Angehörigen und Opfer dürften sich zwischen fünf und zehn Millionen Euro bewegen.

Ich finde es eigenartig, dass die Presse bei diesem Fall davon ausgeht, dass ein Lawine von Zivilprozessen entstehen könnte, aber bei dem Norweger Breivik gar nichts in der Presse steht. Sind beide Fälle denn so unterschiedlich ?

 

 

 

 

 

 

 

 

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Sehr geehrter Gast,

ein Zivilprozess macht nur Sinn, wenn bei dem Beklagten auch "etwas zu holen" ist. Darin besteht wahrscheinlich der Unterschied zwischen dem norwegischen Fall und dem hier besprochenen.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Urteil des LG Stuttgart: 1 Jahr 6 Monate

http://www.n-tv.de/panorama/Bewaehrung-fuer-Tim-K-s-Vater-article1005403...

"Anders als im ersten Verfahren, wo der Angeklagte mehr als drei Monate lang aus Krankheitsgründen gefehlt hatte, verfolgte er den Prozess diesmal kontinuierlich.
...
Die Angehörigen der Opfer wollen Schadensersatzforderungen gegen Jörg K. durchsetzen, weil er seine Waffe nicht ordnungsgemäß weggeschlossen hatte. Die Rede ist von Forderungen in Höhe von 11 Millionen Euro. Auch Jörg K. will weitere juristische Schritte einleiten. Er plant, die psychiatrische Klinik zu verklagen, in der sein Sohn behandelt wurde."

(mehr dazu hier http://www.n-tv.de/panorama/Opferfamilien-kritisieren-Vater-article98830...)

Hier zum Vergleich:

- ungesicherte Waffen im Haus, gut versteckt und nicht auffindbar, sonst nichts passiert

- Auffinden durch Kooperation und Geständnis

-> 15 Monate auf Bewährung, nur drei weniger als der Vater des Winnenden-Mörders.

Wo bleibt die Verhältnismäßigkeit?

Nichts Juristisches, aber dennoch:

Amok in Winnenden - Das Leben danach (3sat, heute 21.45, 60min.)

Obwohl noch immer bei den vom Amoklauf betroffenen Schülern der Albertville-Realschule die Abwehr gegenüber den Medien groß ist, konnte Rygiert einige von ihnen für den Film gewinnen. Auf der Basis von ausführlichen Gesprächen vermittelt der Dokumentarfilm 'Amok in Winnenden - Das Leben danach' von Beate Rygiert die subjektive Erlebniswelt dieser Schüler, begleitet sie in ihrem Alltag, aber auch an die Orte des Geschehens. Er zeigt, welche verstörenden Folgen die Tat auch für die Menschen hat, die mit dem Leben davon gekommen sind. 

"Obwohl noch immer bei den vom Amoklauf betroffenen Schülern der Albertville-Realschule die Abwehr gegenüber den Medien groß ist, konnte Rygiert einige von ihnen für den Film gewinnen. "

 

Ich finde es abartig, dass das Fernsehen damit noch Geld macht.

Durch das Zeigen und Ausfragen ist den Opfern nicht geholfen.

Viel wichtiger wäre es den traumatisiereten Opfern zu helfen, indem man jetzt die Gewinne des Fernsehens den Opfern zukommen läßt. 

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Sehr geehrter Gast,

Sie schreiben:

Ich finde es abartig, dass das Fernsehen damit noch Geld macht.

Durch das Zeigen und Ausfragen ist den Opfern nicht geholfen.

Viel wichtiger wäre es den traumatisiereten Opfern zu helfen, indem man jetzt die Gewinne des Fernsehens den Opfern zukommen läßt.

Ich muss Ihnen widersprechen. Die Sendung folgt der (oft erhobenen) Forderung, man solle sich nicht so sehr mit den Tätern sondern mehr mit den Opfern von Gewalttaten befassen. Da ich die Sendung (bisher) nicht gesehen habe, kann ich nicht beurteilen, inwiefern sie etwas Neues bringt oder dem o.a. Ziel entspricht. Jedenfalls aber haben die dort gezeigten Personen ja freiwillig Interviews gegeben und man sollte erst einmal davon ausgehen, dass dies ihnen aus ihrer subj. Sicht  jedenfalls nicht schadet. Dass das "Fernsehen damit Geld verdient", dürfte nicht der Fall sein, denn 3sat ist eine Kooperation öffentlich-rechtlicher Sender, finanziert sich also nicht über Werbung. Zu verteilende "Gewinne des Fernsehens" gibt es dort ebenfalls nicht.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

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