Eine Gewalttat in Berlin und die "Expertenmeinung" der Polizeigewerkschaft

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 17.10.2012

Der Gewaltakt mit tödlichem Ausgang auf dem Berliner Alexanderplatz löst zu Recht Empörung aus.  Jede Körperverletzung, jeder Totschlag ist einer zuviel. Er bringt großes Leid über Opfer und Angehörige und muss für sich Beachtung finden, egal was die Statistik sagt. Eine Verallgemeinerung macht das Delikt nicht besser oder schlimmer. Die Bestäigung durch eine Statistik ist nicht erforderlich, die Tat steht für sich.

Geht es aber um kriminalpolitische Reaktionen auf Gewaltdelinquenz, dann spielt nicht nur der Einzelfall eine Rolle, sondern auch die Frage, ob der Fall Symptom ist für eine Entwicklung. In der Wahrnehmung Vieler wird "alles immer schlimmer", und die von der Polizei angefertigte Statistik verspricht Aufklärung darüber, ob dies tatsächlich so ist. Dabei wird der suchende Journalist manchmal fündig, manchmal auch nicht.

Ausschnitt aus SPON:

... die Entwicklung in der Hauptstadt sieht auf dem Papier wenig dramatisch aus. Wie die Polizeiliche Kriminalstatistik Berlin zeigt, ist die Zahl der Fälle von gefährlicher und schwerer Körperverletzung auf Straßen, Wegen oder Plätzen in der Hauptstadt 2011 um 13,9 Prozent zurückgegangen: 2010 wurden noch 4529 Fälle registriert, 2011 waren es 3899.

Ein Rückgang also, sogar ein ganz erheblicher. Aber er steht nur "auf dem Papier". Wie kann dieser Rückgang in Übereinstimmung gebracht werden mit dem eigenen Eindruck, dass die Hemmschwellen sinken, die Gewalttaten steigen, die Berliner Straßen immer unsicherer werden? Man frage einen Experten, am besten jemanden von der Polizei. Vielleicht einen Polizeigewerkschafter? Der müsste es doch wissen. Hier die Antwort, im selben SPON-Artikel:

Der Geschäftsführer der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin bezweifelt allerdings, dass dies auf einen Rückgang der Gewalt zurückzuführen ist. "Wenn Sie 4000 Polizisten einsparen, werden natürlich weniger Straftaten registriert", sagte Klaus Eisenreich. Das schlage sich dann in der Statistik nieder.

Mit Verlaub, Herr Eisenreich, Sie wissen, dass das nicht stimmt: Gewalttaten auf Berliner Straßen werden nicht seltener registriert, weil es weniger Polizisten gibt. Die allermeisten dieser Straftaten werden nicht etwa als erstes von Polizeibeamten bemerkt, sondern sie werden angezeigt. Wollen Sie behaupten, dass gefährliche und schwere Körperverletzungen weniger häufig angezeigt werden, weil weniger Beamte da sind? Lässt sich jemand, der ein solch schweres Delikt anzeigen will, von der Strafanzeige abhalten, weil bei der Polizei Stellen eingespart wurden? Oder werden mangels Polizeibeamten einfach die Statistik-Formulare nicht ausgefüllt?

Wie erklärt sich aber dann, dass im Jahr 2011 in Berlin die Gesamtzahl der Delikte gestiegen ist?

Herr Purper, ebenfalls von der Polizeigewerkschaft, hat die Erklärung, in der MOZ vor ein paar Monaten:

Michael Purper von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) sieht im Kriminalitätsanstieg bei sinkender Aufklärungsquote „ein deutliches Zeichen, dass die Politik der Vergangenheit Früchte trägt“. Denn in den letzten 10 Jahren wurden bei der Berliner Polizei rund 4.000 Stellen abgebaut. Purper bringt das Problem auf den Punkt: „Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich das in einem Anstieg der Straftaten niederschlägt. Wir haben einfach zu wenig Polizei in der Stadt.“

Vielleicht haben Polizeigewerkschafter die Anweisung, egal was ein Journalist fragt, auf jeden Fall zu antworten: Es liegt am Stellenabbau. Steigt die Statistik (hier die Gesamtzahl), liegt es am Stellenabbau, fällt die Zahl (bei den Körperverletzungen im öffentlichen Raum), ist es ebenfalls der Stellenabbau.  Dass beides nicht zugleich stimmen kann, wissen die Gewerkschafter selbst. Sie nutzen aber schamlos ihren von der Presse eingeräumten Expertenstatus aus, um der Öffentlichkeit einfach irgendwas zu erzählen, Hauptsache, es nützt der eigenen politischen Agenda.

Schauen wir noch einmal genauer auf die Berliner Zahlen zu den gefährlichen und schweren Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen:

Hier einmal die Zeitreihe seit fünf Jahren (jeweils absolute Zahlen in Berlin)

2006: 5320, 2007: 5323, 2008: 5599, 2009: 5390, 2010: 4529, 2011: 3899

Das ist, falls die Zählung stimmt (siehe dazu unten), schon ein erstaunlicher Rückgang um mehr als ein Viertel. Einen erheblichen Rückgang haben auch die Delikte Totschlag und Mord (2006:167; 2011:117, allerdings schwankend) und die Gesamtzahl der gef. und schw. Körperverletzungen, also einschließlich der häufigen Familiendelinquenz (2006: 12475; 2011: 10547, kontinuierlich gesunken). Ob die Zahlen im Jahr 2012 wieder steigen oder weiter sinken, erfahren wir im Frühjahr 2013.

Was bedeutet das? Wer weiß, wie die Zahlen zustande kommen, muss vorsichtig sein: Erfasst werden nur die der Polizei bekannt gewordenen Delikte. Es gibt ein kaum sicher bezifferbares Dunkelfeld, das je nach Deliktsart und Begehungsweise unterschiedlich groß ist. Allerdings spricht wenig dafür, dass gerade bei den in der Öffentlichkeit begangenen Gewaltdelikten der gef. und schw. Körperverletzung ein sehr großes und schwankendes relatives Dunkelfeld existiert (wie etwa bei Vergewaltigung und Delikten im familiären Nahbereich). Jedenfalls: Von einer Gewaltexplosion in Berlin in den letzten fünf Jahren kann wohl nicht die Rede sein; mehr spricht dafür, dass die zurückgehenden statistischen Zahlen einen realen Rückgang indizieren.

Anmerkung: Vor drei Jahren war mir aufgefallen, dass die damals vom BKA angegebene bundesweite Steigerungsrate von 9,1 %  (für die gefährlichen und schweren Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen, Straftatenschlüssel 222100), nicht stimmen konnte, hier mein damaliger Blog-Beitrag. Ich habe beim aktuellen Anlass noch einmal darauf geschaut: Die bundesweiten Zahlen sind  nicht korrigiert worden, auch fehlt in den Zeitreihen die mir von BKA-Statistikern am Telefon angekündigte Fußnote zur Unzuverlässigkeit der Zahlenangaben für 2007.  Leider muss man deshalb immer noch skeptisch sein, auch gegenüber den Berliner Zahlen von vor 2008, die für den Straftatenschlüssel 222100 genannt werden.

Fazit: Ein schlimmes Delikt, das Aufmerksamkeit verdient hat. Das nach einer Erklärung geradezu schreit. Eine Erklärung habe auch ich nicht zu bieten, dazu ist es zu früh und vielleicht wird es auch keine abschließende Erklärung geben. Aber ich wende mich dagegen, dass andere die Gelegenheit nutzen, ihre politische/gewerkschaftliche Agenda mit Falschbehauptungen in die Öffentlichkeit zu tragen.

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5 Kommentare

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Ich deute das hier trotz hoher Klickzahlen herrschende Schweigen im Walde als Zustimmung. Ihrem Beitrag ist nichts hinzuzufügen!

Vor allem die Passage zur Polizeigewerkschaft und dem Thema Stellenabbau sehe ich ganz genauso. Ähnliches kann man auch beim Thema Gewalt im Zusammenhang mit Fußballspielen beobachten. Hier wird von Seiten besagter "Experten" reflexartig auf die unzumutbare Arbeitsbelastung der Polizisten verwiesen. Nicht zu vergessen natürlich die Kosten für den Steuerzahler! Dass nur ein Promilleanteil der Besucher von Fußballspielen tatsächlich Opfer von Gewalt wird (und das häufig durch staatliches Pfefferspray), der Besuch eines Fußballspiels (statistisch) niemals so sicher war wie heutzutage, dass der Fiskus durch das Millionengeschäft Bundesliga ein Vielfaches der Einsatzkosten reinholt und bspw. an einem einzigen Münchener Oktoberfest mehr Menschen verletzt werden als in einer ganzen Bundesligasaison - das alles sind störende Fakten, die man bei der Polizeigewerkschaft lieber ausblenden möchte. Hauptsache, die Botschaft stimmt: alles wird immer schlimmer und die Polizei muss alles ausbaden!

Die sachlichen Erklärungen eines Wissenschaftlers lassen sich anscheinend leider nicht so gut vermarkten wie die Empörung der Uniformierten...

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Ich war schon häufig äußerst befremdet, was die GdP so von sich gibt. Sicherlich besteht der Großteil der Polizeibeamten nicht aus Volljuristen, aber eine Berufsgruppe, die dafür sorgen soll, die Bürger und den Rechtstaat zu schützen, steht unter besonderer Beobachtung. Wenn bei "normalen" Gewerkschaften mal sachlich unqualifzierte/falsche Argumente oder Polemik kommen, tangiert das die Gesellschaft wenig. Wenn aber von Polizisten solch schwachsinnige Argumente kommen, um die zu widerlegen man weder Jurist sein noch ein Semester Kriminologie-Vorlesung gehört haben muss, ist das ein Armutszeugnis.

Besonders bedauerlich ist es, wenn letztlich diese unsinnigen, unqualifizierten Statements auf die Polizisten selbst zurückwirken. Sie verdienen im Hinblick auf die Gefährlichkeit ihres Jobs sowie der häufigen Unterbesetzung und den daraus folgenden Arbeitsbedingungen, zweifellos viel Respekt und es besteht durchaus die Gefahr, dass der deutlich abnimmt, wenn von ihren Vertretern häufig öffentlichkeitswirksam Unsinn verbreitet wird.

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So berechtigt die Kritik an den Äußerungen des Gewerkschaftsfunktionärs ist - den Vergleich mit der Fußball-Bundesliga halte ich für sehr unpassend:

- Bundesligaspiele sind gerade erst durch den massiven Polizeieinsatz und polizeitaktische Maßnahmen (Trennen der Fans bei An- und Abreise usw.) sicherer geworden. Dass dies nötig war und ist, zeigt das Ausweichen der Hooligans auf unterklassige Ligen ohne adäquate Polizeipräsenz.

- andere Veranstalter der Unterhaltungsbranche (und nichts anderes ist Bundesligafußball) kommen nicht in den Vorzug von für sie kostenlosen Hundertschaften. Rock am Ring, Rock im Park und andere Konzerte z.B. müssen die Sicherheitsdienstleistungen aus eigener Tasche bezahlen und zahlen genauso Steuern wie eine rein privatwirtschaftlich organisierte, gewinnorientierte Lizenzspieler-AG oder GmbH eines Bundesligaklubs. Dabei weist die Konzertbranche mit ca. 2,5 Milliarden Umsatz pro Jahr eine höhere Wertschöpfung auf als der reine Spielbetrieb ("Liveveranstaltungen") der Fußballbundesligen, bekommt aber keine Polizeieinsätze im Wert von dreistelligen Millionensummen gesponsert!

Weshalb wird nicht gefordert, dass grundsätzlich Veranstalter, egal welcher Art, die Kosten für den enormen Einsatz von Polizeibeamten tragen müssen und für jeden Schaden Dritter durch Veranstaltungen haften müssen ?

 

 

 

 

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Weil die Veranstalter zunächst einmal davon ausgehen können, dass Besucher einer Veranstaltung sich gesittet und rechtmäßig verhalten.

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