5 Minuten Hauptverhandlung von 7.50 bis 7.55 Uhr und dann nur Feststellung der Kenntnisnahme im Selbstleseverfahren...

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 07.02.2013
Rechtsgebiete: BGHSelbstleseverfahrenStrafrechtVerkehrsrecht2|3375 Aufrufe

...das reichte dem BGH als HVT-Schiebetermin aus, wie sich aus einer durchaus lesenswerten "Leitsatzentscheidung" des 5. Strafsenats ergibt. Im Kern geht es stets um die Frage: Was tut das Gericht, wenn es Schiebetermine braucht, um (ohne Aussetzung und Neuterminierung) Zeit zu gewinnen, bis weitere entscheidende Beweiserhebungen stattfinden können. Die auf eine Verfahrensrüge des Angeklagten gestützte Revision des Angeklagten gegen das landgerichtliche Urteil war erfolglos:

 

1. Den Verfahrensrügen liegt folgender Sachverhalt zugrunde:
Der Vorsitzende der Strafkammer verfügte mit Erlass des Eröffnungsbeschlusses und Terminsanberaumung, dass von der Verlesung von 520 in einer „Selbstleseliste“ angeführten Urkunden nach § 249 Abs. 2 StPO in der Hauptverhandlung abgesehen werden solle. Die Selbstleseliste wurde den Verfahrensbeteiligten mit dem Zusatz mitgeteilt, dass bereits jetzt für die Verteidiger, die Angeklagten und den Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft Gelegenheit bestehe, diese Urkunden nach Terminsvereinbarung auf der Geschäftsstelle einzusehen.
Im ersten Hauptverhandlungstermin bestätigten alle Verfahrensbetei-ligten, dass sie die Selbstleseliste erhalten hätten. Der Vorsitzende ordnete bis zum elften Hauptverhandlungstag, dem 20. Dezember 2011, gemäß § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO hinsichtlich weiterer Urkunden das Selbstleseverfahren an, darunter auch schriftliche Angaben von Zeugen, deren Verlesung die Strafkammer gemäß § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO mit Zustimmung der Verfahrensbeteiligten zuvor beschlossen hatte.
In dem nachfolgenden Hauptverhandlungstermin am 3. Januar 2012, der von 7.50 Uhr bis 7.55 Uhr dauerte, wurden zunächst antragsgemäß zwei Pflichtverteidiger anstelle der abwesenden Pflichtverteidiger beigeordnet. Anschließend erklärten die Schöffen und die Berufsrichter jeder für sich, dass sie vom Wortlaut der in der Selbstleseliste genannten Urkunden und der wei-teren Urkunden, für die im Laufe der Hauptverhandlung das Selbstlesever-fahren angeordnet worden war, durch Lesen Kenntnis genommen hätten. Es wurde des Weiteren festgestellt, dass die übrigen Verfahrensbeteiligten Ge-legenheit hatten, vom Wortlaut all dieser Urkunden selbst Kenntnis zu nehmen. Sodann ordnete der Vorsitzende zusammenfassend an, dass von der Verlesung vorgenannter Urkunden und Schriftstücke nach „§ 249 Abs. 2 Satz 1 StPO“ abgesehen werde. Die Hauptverhandlung wurde danach unter-brochen und am 1. Februar 2012 fortgesetzt.

2. Eine Verletzung der Vorschriften über die Höchstdauer der Unter-brechung der Hauptverhandlung gemäß § 229 Abs. 1, 2 und 4 Satz 1 StPO liegt nicht vor.
a) Der Senat erachtet die Anordnungen und Feststellungen des Vorsitzenden im Hauptverhandlungstermin vom 3. Januar 2012 zur Durchfüh-rung des Selbstleseverfahrens (§ 249 Abs. 2 Sätze 1 und 3 StPO) als Sachverhandlung im Sinne der Unterbrechungsvorschriften. Eine solche liegt vor, wenn die Verhandlung den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sach-verhaltsaufklärung betrifft (BGH, Urteil vom 11. Juli 2008 – 5 StR 74/08 – und Beschluss vom 22. Juni 2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 9 und 13 mwN).
b) Entgegen der Entscheidung des 3. Strafsenats des Bundesge-richtshofs (Beschluss vom 16. Oktober 2007 – 3 StR 254/07, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 8) stellen allein die Feststellungen des Vorsit-zenden nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO schon eine inhaltliche Sachverhand-lung dar. Die Feststellung, dass außerhalb der Hauptverhandlung eine Be-weiserhebung durch Selbstlesung einer Urkunde stattgefunden hat, erschöpft sich nicht in deren Protokollierung (vgl. hierzu Winkler, jurisPR-StrafR 6/2008 Anm. 1), sondern betrifft den Fortgang der zur Urteilsfindung führenden Sachaufklärung. Die Berufsrichter und die Schöffen geben auf Nachfrage des Vorsitzenden regelmäßig – wie auch hier – die festzustellende Erklärung ab, dass sie vom Wortlaut der Urkunde Kenntnis genommen haben; gleiches gilt für die Erklärung der übrigen Verfahrensbeteiligten, dass sie hierzu Gelegen-heit hatten. Erst mit dem Akt der Feststellung durch den Vorsitzenden ist nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO dieser Teil einer Beweisaufnahme durch das Selbstleseverfahren abgeschlossen. Die Urkunde kann dann zum Gegen-stand von Erklärungen (§ 257 StPO) gemacht werden. Dem Tatgericht ist es ohne die abschließende Feststellung verwehrt, die Urkunde zur Urteilsfin-dung heranzuziehen (§ 261 StPO, vgl. BGH, Beschluss vom 28. Januar 2010 – 5 StR 169/09, BGHSt 55, 31, 32).

c) Der Senat ist – abweichend von den Ausführungen des Generalbundesanwalts in der Hauptverhandlung – nicht gehalten, gemäß § 132 Abs. 2 und 3 GVG beim 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs anzufragen, ob er an seiner entgegenstehenden Rechtsauffassung festhält, weil der prozessuale Sachverhalt eine Besonderheit aufweist.
Der Vorsitzende der Strafkammer hat zwar teilweise hinsichtlich in der Hauptverhandlung vorausgegangener Anordnungen des Selbstleseverfah-rens die Feststellungen nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO getroffen; eine insoweit auch getroffene wiederholte Anordnung mag ohne verfahrensrechtlichen Gehalt sein. In Bezug auf die Selbstleseliste lag aber noch keine Anordnung des Selbstleseverfahrens durch den Vorsitzenden vor, die in der Hauptver-handlung erfolgen muss, deren Inbegriff (§ 261 StPO) sie mitbestimmt. Die Verfügung des Vorsitzenden in der Terminsanberaumung, dass von der Verlesung der in dieser Liste angeführten Urkunden gemäß § 249 Abs. 2 StPO abgesehen werden solle, stellt noch keine Anordnung im Sinne dieser Vor-schrift, sondern lediglich eine Vorankündigung zur Verfahrensgestaltung dar (vgl. auch Mosbacher in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 249 Rn. 68, 69). Jedenfalls insoweit bedurfte es – anders als etwa bei einem Beschluss nach § 247a StPO (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2011 – 5 StR 315/11, StV 2012, 65) – in der Hauptverhandlung nach § 249 Abs. 2 Satz 3 StPO neben den gebotenen Feststellungen im Zusammenhang mit der Kenntnis-nahme von den Urkunden noch einer Anordnung des Vorsitzenden. Diese erfolgte ausdrücklich – so dass es auf eine etwa mögliche konkludente An-ordnung nicht ankommt – in dem hier in Streit stehenden Hauptverhand-lungstermin vom 3. Januar 2012. Hierdurch unterscheidet sich der prozessu-ale Sachverhalt von dem vom 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs ent-schiedenen Fall, in dem die Anordnung des Selbstleseverfahrens an einem früheren Hauptverhandlungstag getroffen worden war und lediglich dessen Vollzug protokolliert wurde. Dass die Anordnung der Feststellung des Voll-zugs des Selbstleseverfahrens durch Kenntnisnahme und Gelegenheit hierzu nicht vorausging, sondern ihr nachfolgte, ist zwar strukturell ungeschickt (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2012 – 5 StR 251/12, NJW 2012, 3319, zum Abdruck in BGHSt bestimmt), indes unschädlich (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Januar 2012 – 1 StR 587/11, NStZ 2012, 346, 347).
Die Anordnung des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 Satz 1 StPO stellt unzweifelhaft eine Sachverhandlung dar, in gleicher Weise wie eine Beweisanordnung (vgl. BGH, Urteil vom 19. April 2000 – 3 StR 442/99, NJW 2000, 2754: Beauftragung eines Sachverständigen), die Entgegennahme von die Sachverhaltsaufklärung betreffenden Verteidigeranträgen (BGH, Beschluss vom 6. Juli 2000 – 5 StR 613/99, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sach-verhandlung 5) oder die Ladung von Zeugen nach einem gestellten Beweisantrag (BGH, Urteil vom 19. August 2010 – 3 StR 98/10, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 11). Allein die kurze Dauer des Termins am 3. Januar 2012 steht bei dem inhaltlichen Gehalt der Verhandlung der Annahme einer Sachverhandlung nicht entgegen (vgl. BGH, Beschlüsse vom 7. April 2011 – 3 StR 61/11 – und vom 22. Juni 2011 – 5 StR 190/11, BGHR StPO § 229 Abs. 1 Sachverhandlung 12 und 13).

 

BGH Urteil vom 28.11.2012 - 5 StR 412/12 

 

 

 

 

 

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2 Kommentare

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Einer der Aspekte, die ein neues Strafverfahrensrecht sinnvoll erscheinen lassen. Dann aber bitte auch gleich mit Wortprotokoll und vernünftigem Revisionsrecht...

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Sag ich doch: Verfahrensrügen sind Arbeitszeitverschwendung. "Ich rüge die Verletzung materiellen Rechts" + Antrag, sind das einzige, was man im Revisionsverfahren noch schreiben sollte.

 

Man fragt sich allerdings, weshalb es der Ansetzung einer mündlichen Verhandlung bedurfte, wenn der Generalbundesanwalt die Verwerfung der Revision beantragt hat, der Senat "unzweifelhaft" auf das Vorliegen einer Sachverhandlung erkennt und auch keinen Anlaß für eine Vorlage an den Großen Senat sieht. Da hätte es doch auch § 349 Abs. 2 StPO getan. Aber dann hätte man diese wichtigen Erkenntnisse nicht in BGHSt veröffentlichen können (wo sie "unzweifelhaft" nicht hingehören).

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