Paukenschlag des 1. Strafsenats des OLG Hamm: Vornahmeantrag zur Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen im Verfahren nach dem StVollzG ist zulässig

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 08.04.2013
Rechtsgebiete: OLG HammStVollzGVornahmeantragStrafrecht1|3441 Aufrufe

Das OLG Hamm hat gerade einen echten Pflock eingerammt und seine bisherige Rechtsprechung aufgegeben. Der für Vollzugssachen zuständige 1. Strafsenat hat die Zulässigkeit eines Vornahmeantrages zur Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen im Verfahren nach dem StVollzG bejaht. Für Leser, die sich nicht im Vollzugsrecht auskennen: Es geht um die Frage, was zu tun ist, wenn der Vollzug gerichtliche Entscheidungen nicht umsetzt. Das OLG:

Die Rechtsbeschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.

3.1.

Einigkeit besteht in der obergerichtlichen Rechtsprechung, dass gerichtliche Zwangsmittel im Verfahren nach dem StVollzG analog §§ 170, 172 VwGO, 888 ZPO nicht zulässig sind, weil das StVollzG die Vollstreckbarkeit gerichtlicher Entscheidungen als bewusste Entscheidung des Gesetzgebers nicht geregelt hat, es damit an einer planwidrigen Regelungslücke fehlt und Entscheidungen auf dem Gebiet des Strafvollzugsrechts damit nicht vollstreckbar sind (Senat Beschluss vom 27.08.2009 a.a.O.; OLG Frankfurt a.M. B. v. 22.10.2004, 3 Ws 928/04, NStZ-RR 2005, 96; OLG Frankfurt a.M. NStZ 1983, 335f.; OLG Karlsruhe B. v. 17.11.2003, 1 Ws 297/03; KG B. v. 22.08.2011, 2 Ws 258 und 260/11, StraFo 2012, 34ff, JURIS Rdnr 55; BVerfG B. v. 03.11.2010, 2 BvR 1377/07, BeckRS 2010, 56336 m.w.N.).

Ob diese Rechtsauffassung - auch unter Berücksichtigung der teilweise festzustellenden offenkundigen Missachtung gerichtlicher Entscheidungen durch die Vollzugsbehörden - aufrecht erhalten bleiben kann oder ob es im Wege verfassungskonformer Auslegung des StVollzG mit Blick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz in Art. 19 Abs. 4 GG geboten ist, die Möglichkeit der Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen nach dem StVollzG entsprechend §§ 170, 172 VwGO zu eröffnen (so Kamann Anmerkung zu LG Gießen, 2 StVK Vollz 1591/05, StV 2006, 260, 262; Feest/Lesting StVollzG 6. Aufl. § 115 Rdnr 82 vgl. auch Dreier GG 2. Aufl. Art. 19 Rdnr 139; Jarass/Pieroth GG 12. Aufl. Art. 19 Rdnr 50), bedarf vorliegend keiner Entscheidung, da das Begehr des Betroffenen auf einen Vornahmeantrag gem. § 113 Abs. 1 StVollzG gerichtet ist.

3.2.

Der Vornahmeantrag des Betroffenen ist gem. § 113 Abs. 1 StVollzG zulässig. Der Senat gibt seine bisherige entgegenstehende Rechtsprechung auf und schließt sich der übrigen obergerichtlichen Rechtsprechung zur Zulässigkeit des Vornahmeantrages zur Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen im Verfahren nach dem StVollzG an.

Das Gebot effektiven Rechtsschutzes garantiert eine tatsächliche wirksame Kontrolle durch die Gerichte, eine verbindliche gerichtliche Entscheidung und deren Durchsetzung (Jarass/Pieroth Art. 19 GG Rdnr 50 m.w.N.; Dreier 2. Aufl. Art. 19 GG Rdnr 138f. m.w.N.). Der vorliegende Verfahrensablauf belegt, dass der Verweis des Betroffenen auf die Möglichkeit der Dienstaufsichtsbeschwerde fruchtlos und nicht geeignet ist, die Durchsetzung der gerichtlichen Entscheidungen zu garantieren, da es u.a. die Aufsichtsbehörde war, die bislang eine Bescheidung verhindert und damit die Umsetzung der gerichtlichen Entscheidungen im Gegenteil konterkariert hat.

Auch wenn es an Vollstreckungsmöglichkeiten gerichtlicher Entscheidungen auf dem Gebiet des Strafvollzugsrechts nach bislang einhelliger Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung fehlt (s.o.), gebietet das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz jedenfalls die Eröffnung der Möglichkeit, das Untätigsein der Vollzugsbehörde auf eine sie zum Handeln verpflichtende gerichtliche Entscheidung wiederum durch die Gerichte überprüfen zu lassen. Das Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen für eine solche Überprüfung der Rechtsmäßigkeit des Handelns der Vollzugsbehörde folgt jedenfalls aus der Bedeutung der rechtswidrigen Versagung von Vollzugslockerungen für das Aussetzungsverfahren nach § 57a StGB (vgl. BVerfG B. v. 05.08.2010, 2 BvR 729/08, StV 2011, 488, JURIS Rdnr 28). Für die Entscheidung über die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung kommt es unter anderem darauf an, ob eine fehlende Erprobung des Gefangenen in Lockerungen auf rechtmäßiger oder auf rechtswidriger Versagung von Lockerungen beruht (vgl. BVerfG a.a.O. m.w.N.; BVerfG B. v. 30.04.2009, 2 BvR 2009/08, NJW 2009, 1941, JURIS Rdnr 34). In diesem Zusammenhang entfaltet die ungerechtfertigte Verneinung der Lockerungseignung in einer Vollzugsplanfortschreibung eine fortdauernde beeinträchtigende Wirkung, wenn sie von den Fachgerichten als rechtmäßig bestätigt wird (vgl. BVerfG a.a.O. m.w.N.). Nichts anderes kann gelten, wenn, wie hier, die Rechtswidrigkeit der Versagung von Vollzugslockerungen festgestellt und die Vollzugsbehörde zur Neubescheidung verpflichtet wird, diese aber unterlässt. Die Untätigkeit der Vollzugsbehörde schreibt das künftige Prognosedefizit im Aussetzungsverfahren fort, so dass ein Interesse des Betroffenen besteht, die Rechtmäßigkeit auch der Untätigkeit der Behörde gerichtlich überprüfen zu lassen. Der angefochtene Beschluss war daher aufzuheben und das Verfahren zur erneuten Entscheidung an die Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.

3.3.

Für das weitere Verfahren merkt der Senat an:

Der der Vollzugsbehörde eingeräumte Beurteilungsspielraum und ihr Ermessen sind eingeschränkt, wenn zuvor eine gerichtliche Entscheidung ergangen ist (KG B. v. 22.08.2011, StV 2012, 159, JURIS Rdnr 55). In dem neuen Bescheid muss sie das gerichtliche Judikat nach dessen Wortlaut und Sinn beachten, weil es ihr gegenüber eine Bindungswirkung entfaltet (KG a.a.O.). Deren Beachtung erfordert es, dass sich die gerichtlichen Überlegungen in der neuen Entscheidung wiederfinden und dass die Vollzugsbehörde nicht den Eindruck erweckt, gegen die Bindungswirkung zu opponieren (KG a.a.O. m.w.N.). Gegen diese Grundsätze hat die Vollzugsbehörde schon mit Blick auf den Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 10.06.2010 verstoßen, indem sie sich in dem Bescheid vom 26.07.2011 in keiner Weise mit den Gründen der Entscheidung und den dort ausgeführten Kriterien für die Lockerungsbeurteilung auseinandergesetzt hat, was die Kammer mit Beschluss vom 14.02.2012 zutreffend erkannt hat. Soweit die Vollzugsbehörde zur Rechtfertigung ihrer Untätigkeit auf die Entscheidung vom 14.02.2012 u.a. auf eine geänderte Erlasslage hingewiesen hat, weshalb es weiterer Ermittlungen bedürfe, fehlt es erneut an jeglicher Begründung, welche relevanten Erkenntnisse im Sinne der sie zur Neubescheidung verpflichtenden Entscheidung die Vollzugsbehörde in Umsetzung des ministeriellen Erlasses erlangen will. Vielmehr handelt es sich nach Aktenlage schlicht um einen Rückzug auf Formalitäten. Dies ist mit Blick auf den durch den Beschluss vom 14.02.2012 eingeschränkten Beurteilungsspielraum der Vollzugsbehörde jedoch nicht nur unzulässig. Es stellt in Zusammenschau mit der ersten offenkundigen Missachtung der gerichtlichen Entscheidung vom 10.06.2011 durch den aufgehobenen Bescheid vom 29.07.2011 vielmehr erneut eine offenkundige Missachtung auch der gerichtlichen Entscheidung vom 14.02.2012 dar.

Ob die Vollzugsbehörde mit Blick auf das mit der Rechtsbeschwerde vorgelegte Gutachten des Sachverständigen T vom 28.08.2012, in dem dieser sowohl die Gefährlichkeit des Betroffenen verneint als auch dessen Lockerungseignung (erneut) bejaht, überhaupt noch Sachgründe anführen kann, die die bisherige Nichtbescheidung rechtfertigen, erscheint zweifelhaft. Spruchreife besteht jedoch schon deshalb nicht, weil das Gutachten vom 28.08.2012 noch nicht in das Verfahren eingeführt ist.

Der Senat schließt es nicht aus, dass die weiteren Ermittlungen der Strafvollstreckungskammer ergeben, dass das Ermessen der Vollzugsbehörde inzwischen auf Null reduziert ist. Hat in einem solchen Fall die Behörde eine gerichtliche Entscheidung, die sie zur Neubescheidung unter Beachtung der rechtlichen Vorgaben des Gerichts verpflichtet wurde, nicht oder unter willkürlicher Missachtung der Bindungswirkung umgesetzt, so darf das Gericht statt ihrer entscheiden (KG a.a.O. JURIS Rdnr 70 m.w.N.). Anderenfalls liefe der Rechtsschutz der Betroffenen leer. Auch hierüber wird die Strafvollstreckungskammer daher zu befinden haben.

Oberlandesgericht Hamm, Beschl. v. 5.3.2013 - 1 Vollz (Ws) 710/12

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1 Kommentar

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Schön begründete Entscheidung, nützt aber im Ergebnis gar nichts. Es bleibt bei der Nichtvollstreckbarkeit gerichtlicher Entscheidungen und die Vollzugsbehörden werden mit Rückendeckung der Ministerien immer dreister.

 

Die meisten Strafvollstreckungskammern haben bereits resigniert. Die Bitte, entsprechende Verfahren zu beschleunigen und den Vollzugsbehörden deutliche Worte ins Stammbuch zu schreiben (damit vielleicht auch einmal dienstaufsichtsrechtliche oder strafrechtliche Schritte fruchten könnten), wird oftmals nur mit einem Schulterzucken beantwortet.

 

Letztlich tragen aber auch die Strafvollstreckungskammern eine erhebliche Mitverantwortung.  Eigentlich eilbedürftige Sachen werden monatelang liegengelassen. Ein einfaches "109er"-Verfahren dauert mindestens 6-12 Monate, in der Regel jedoch deutlich länger. Derzeitiger Kanzleirekord ist ein Antrag bzgl. der Gewährung einer Ausführung, den das Gericht trotz zwei Dienstaufsichtsbeschwerden gegen den Richter erst nach 2 1/2 Jahren beschied. Die Gerichte setzen den Vollzugsbehörden Erwiderungsfristen von mehreren Monaten, während der Antragsteller binnen 2 Wochen antworten soll. Geht keine Erklärung der Vollzugsbehörde ein, wird nicht etwa - wie es die Rechtsprechung vorsieht - der Vortrag des Antragsstellers zugrundegelegt, sondern die JVA wird an ihre Antwort erinnert und erinnert und erinnert....  Mit richterlicher Neutralität hat das nicht im Ansatz etwas zu tun.  Ergeht doch endlich eine Entscheidung des Gerichts zugunsten des Gefangenen, läßt die JVA sich wiederum Monate Zeit mit der Neubescheidung, die im Ergebnis zumeist genauso ausfällt wie der aufgehobene Bescheid.

 

Anträge auf gerichtliche Entscheidung können allenfalls noch etwas bei Langstraflern bewirken. Wer weniger als 4 Jahre abzusitzen hat, was 90% der Gefangenen betrifft, erhält seitens der Gerichte keinen effektiven Rechtsschutz mehr. Ein Trauerspiel.

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