BGH: Glaubwürdigkeitsgutachten nicht immer notwendig - Revision schwierig

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.04.2013

So genannte Glaubwürdigkeitsgutachten sind in Strafverfahren Gang und Gäbe. Hier eine schöne Entscheidung des BGH zu dem Thema. Es geht einerseits um die Frage der Verfahrensrüge in Fällen, in denen kein Gutachten eingeholt wurde. Oft ist zudem nicht bekannt, dass der Zeuge nicht an einem solchen Gutachten mitwirken muss - letzteres stellt der BGH auch klar. Schließlich legt er nochmals die bekannten Grundsätze zur Notwendigkeit der Einholung eines solchen Gutachtens dar:

 

 

Die Rüge der Verletzung der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht wegen des Unterbleibens der Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens über die Glaubhaftigkeit der Aussage der Zeugin S. bleibt ohne Erfolg.

 

1. Sie genügt bereits nicht in jeder Hinsicht den gemäß § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu stellenden Anforderungen.

Wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift - entgegen der Erwiderung der Revision vom 27. Dezember 2012 - zutreffend aufgezeigt hat, bedarf es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs für die gesetzlich nicht geregelte Untersuchung von Zeugen auf ihre Glaubwürdigkeit einer Ein-willigung der Betroffenen (BGH, Urteil vom 29. Juni 1989 - 4 StR 201/89, BGHSt 36, 217, 219; BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2004 - 1 StR 284/04; BGH, Beschluss vom 11. Januar 2005 - 1 StR 498/04, NJW 2005, 1519; Senge in KK-StPO, 6. Aufl., § 81c Rn. 9 mwN). Das Vorliegen einer entsprechenden Zustimmung der zu begutachtenden Person muss von der Revision dargetan werden (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2004 - 1 StR 284/04). Daran fehlt es vorliegend.

 

Die Revision teilt, worauf der Generalbundesanwalt ebenfalls zu Recht hingewiesen hat, zudem nicht sämtliche von der Verteidigung während des Strafverfahrens gestellten Anträge auf Einholung eines aussagepsychologi-schen Gutachtens und die daraufhin ergangenen Entscheidungen der Strafkammer mit. Dessen hätte es aber vorliegend bedurft, um den gesetzlichen Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zu entsprechen. Danach müssen die notwendigen Angaben zum Verfahrensgeschehen so umfassend sein, dass dem Revisionsgericht im Sinne einer vorweggenommenen Schlüssigkeitsprüfung ohne Rückgriff auf die Akten die Beurteilung ermöglicht wird, festzustellen, ob der behauptete Verfahrensverstoß vorliegt (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 25. März 1998 - 3 StR 686/97, NJW 1998, 2229; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl., § 344 Rn. 21 mwN). Um dem zu entsprechen, muss bei einer auf die Verletzung von § 244 Abs. 2 StPO gestützten Rüge regelmäßig angegeben werden, welche Umstände das Tatgericht zu weiterer Aufklärung hätten drängen müssen (st. Rspr.; etwa BGH, Urteil vom 11. September 2003 - 4 StR 139/03, NStZ 2004, 690, 691; Kuckein in KK-StPO, 6. Aufl., § 344 Rn. 52 mwN). Damit das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, zu überprüfen, ob sich der Tatrichter zu der begehrten Aufklärung hätte gedrängt sehen müssen, bedarf es grundsätzlich auch der Mitteilung des Inhalts darauf gerichteter Beweisanträge und der Entscheidungen des Tatgerichts über diese Anträge. Denn gerade aus dem Inhalt der gerichtlichen Entscheidungen ergeben sich Anhalts-punkte für die Beurteilung der Frage, ob die Amtsaufklärungspflicht eine weitergehende Beweiserhebung erforderte oder nicht. Angesichts dessen hätte die Revision die in der Gegenerklärung der Staatsanwaltschaft ausgeführte (erneute) Stellung eines Beweisantrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens im Termin zur Hauptverhandlung vom 19. Juni 2012 und den Inhalt des Ablehnungsbeschlusses der Strafkammer vom selben Tage mitteilen müssen.

 

2. Die Rüge wäre auch in der Sache unbegründet. Der Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens über die Zeugin S. bedurfte es nicht. Die Jugendkammer konnte die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage aufgrund eigener Sachkunde beurteilen und hat daher nicht gegen die Amtsaufklärungspflicht verstoßen.

 

Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist grundsätzlich Aufgabe des Tatgerichts. Es ist regelmäßig davon auszugehen, dass Berufsrichter über diejenige Sachkunde bei der Anwendung aussagepsychologischer Glaubwürdigkeitskriterien verfügen, die für die Beurteilung von Aussagen auch bei schwieriger Beweislage erforderlich ist, und dass sie diese Sachkunde den beteiligten Laienrichtern vermitteln können. Dies gilt bei jugendlichen Zeugen erst recht, wenn die Berufsrichter - wie auch hier - zugleich Mitglieder der Jugendschutzkammer sind und über spezielle Sachkunde in der Bewertung der Glaubwürdigkeit von jugendlichen Zeugen verfügen (BGH, Urteil vom 18. August 2009 - 1 StR 155/09, NStZ 2010, 51, 52). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist die Hinzuziehung eines psychologischen Sachverständigen lediglich dann geboten, wenn der Sachverhalt Besonderheiten aufweist, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob die eigene Sachkunde des Tatgerichts zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit unter den konkret gegebenen Umständen ausreicht (st. Rspr.; BGH, Beschluss vom 12. November 1993 - 2 StR 594/93, StV 1994, 173; BGH, Beschluss vom 25. April 2006 - 1 StR 579/05,NStZ-RR 2006, 242, 243). Solche Umstände können gegeben sein, wenn Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Erinnerungsfähigkeit einer Beweisperson aus besonderen, psychodiagnostisch erfassbaren Gründen eingeschränkt ist oder dass besondere psychische Dispositionen oder Belastungen - die auch im verfahrensgegenständlichen Geschehen selbst ihre Ursache haben können - die Zuverlässigkeit der Aussage in Frage stellen könnten, und dass für die Feststellung solcher Faktoren und ihrer möglichen Einflüsse auf den Aussageinhalt eine besondere, wissenschaftlich fundierte Sachkunde erforderlich ist, über welche der Tatrichter im konkreten Fall nicht verfügt (BGH, Urteil vom 26. April 2006 - 2 StR 445/05, NStZ-RR 2006, 241 mwN).

 

Nach diesen Maßstäben bedurfte es vorliegend keiner Einholung eines aussagepsychologischen Sachverständigengutachtens, um der Amtsaufklärungspflicht zu entsprechen. Die Jugendkammer hat sich auf der Grundlage des der Zeugin Aussagetüchtigkeit zuschreibenden psychiatrischen Sachverständigengutachtens mit der Persönlichkeit der Zeugin und möglichen für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit relevanten Aspekten, wie ihrer zeitweiligen psychiatrischen Behandlung, den Berichten von Déjà-vu-Erlebnissen sowie einer denkbaren Übertragung einer möglicherweise während ihres Aufenthaltes in Pakistan erlebten Vergewaltigung auf das Verhalten des Angeklagten, umfassend und sorgfältig auseinandergesetzt sowie erkennen lassen, warum sie zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit aufgrund eigener Sachkunde in der Lage war. Angesichts der mit sachverständiger Hilfe rechtsfehlerfrei ausgeschlossenen Beeinträchtigung der Aussagetüchtigkeit und dem Fehlen von Wahrnehmungsstörungen lagen in der Person der Zeugin keine solchen Besonderheiten vor, die eine in Jugendschutzsachen erfahrene Jugendkammer außer Stande gesetzt hätte, die Zuverlässigkeit der Angaben zu beurteilen. Erst recht bestanden keine Besonderheiten im genannten Sinn darin, dass Gegenstand der Aussage Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Zeugin waren und dass diese zur Zeit der geschilderten Vorfälle in kindlichem bzw. jugendlichem Alter war (vgl. BGH, aaO, NStZ-RR 2006, 241).

 

 

BGH, Beschluss  vom 8.1.2013 - 1 StR 602/12

 

 

 

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3 Kommentare

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Komisch, daß die Revisionsgerichte immer wissen, was der Beschwerdeführer aus dem Akteninhalt  alles nicht vorgetragen hat, obwohl sie doch gar nicht in die Akten schauen dürfen... 

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@RA Bonenkamp:

Des Rätsels Lösung ist ganz simpel: Weil die Staatsanwaltschaft nach § 347 Abs. 1 S. 2  eine Revisionsgegenerklärung abgeben kann, in der bestimmte, vom Revisionsführer sicherlich nur vergessene  Aspekte aus den Akten dem Revisionsgericht zur Kenntnis gebracht werden.

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@Klabauter

 

Das ist schon richtig, setzt aber voraus, daß das unparteiische Gericht den Vortrag der Generalbundesanwaltschaft für die lautere und irrtumsfreie Wahrheit hält, ohne selbst in die Akte zu schauen...

 

Ich halte die gern verwendete Floskel, das Revisionsgericht sei gehindert, in die Akte zu schauen und dürfe nur anhand der Revisionsbegründung urteilen, für einen Beleg dafür, daß vielfach die Form über die materielle Wahrheit gestellt wird - allerdings nur dort, wo es gerade paßt.  Wenn es gilt, den Vortrag des Beschwerdeführers zu entkräften, haben die Revisionsgerichte in der Regel kein Problem damit, im "Freibeweisverfahren" Informationen aus der verbotenen Akte zu saugen. Wenn darin wenigstens ein Hauch von Konsequenz erkennbar wäre, der nicht den Eindruck vermittelte, das Gesetz werde überwiegend zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgelegt, könnte man damit leben, aber so...

 

Revisionsbegründungen sollten sich immer auf den Satz beschränken: "Ich rüge die Verletzung materiellen Rechts". Ein gutwilliges und unparteiisches Revisionsgericht wird ein "ungerechtes" Urteil daraufhin aufheben. An kreativen Begründungen, was das Revisionsgericht auf die allgemeine Sachrüge alles erkennen darf, mangelt es ja - in jenen Fällen zum Verdruß der Staatsanwaltschaften -  nicht. Wenn das Revisionsgericht das Urteil jedoch für "goldrichtig" hält, werden auch ein dutzend ausführlicher Verfahrensrügen nichts ändern können. Die sind im Zweifel alle unzulässig, weil man den  Wetterbericht am 3. Verhandlungstag nicht referiert hat und daher allenfalls Arbeitszeitverschwendung. Das ist natürlich nicht nur ein Problem der Angeklagten, die Staatsanwaltschaften sind davon genauso betroffen.

 

Das Revisionsrecht ist derart unvorhersehbar (oder im negativen Sinne: vorhersehbar) geworden, daß man sich mit Verfahrensrügen wirklich nur noch aufhalten sollte, wenn sich ein absoluter Revisionsgrund in aller Eindeutigkeit unmittelbar aus dem Protokoll oder den Urteilsgründen erschließt, was so gut wie nie der Fall ist.

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