Reaktion auf den Fall Mollath - Bayerischer Justizminister kündigt Kurswechsel an

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 28.10.2013

Als der Fall Mollath im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl teilweise auch als Versäumnis der Regierungspolitik wahrgenommen wurde, hatten manche gedacht, der Fall werde die CSU Stimmen kosten. Diese Annahme hat sich allerdings nicht bewahrheitet, so dass man befürchten musste, es werde nun alles beim Alten bleiben.

Insofern haben mich Äußerungen des neuen bayerischen Justizministers Bausback durchaus positiv überrascht. In drei Punkten kündigt er in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung  Änderungsbedarf an. Dies ist, wenn man die bisherige Politik in Bayern betrachtet, schon die Ankündigung eines Kurswechsels:

1. „Ich möchte gerne, dass im Gesetz klar steht: Nach einer gewissen Zeit, zum Beispiel nach fünf Jahren, ist die Unterbringung im Grundsatz nicht mehr verhältnismäßig. Alles, was darüber hinausgeht, sollte nur die Ausnahme sein“.

Eine solche Konkretisierung der §§ 62, 67d StGB wäre durchaus wünschenswert. Eine Änderung des StGB kann Bayern jedoch nicht selbst vornehmen – das StGB ist ein Bundesgesetz. Aber immerhin wäre eine bayerische Gesetzesinitiative im Bund denkbar. Zudem könnte der Minister den bayerischen Staatsanwaltschaften über eine landesweit geltende Richtlinie aufgeben, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in ihren Anträgen und Stellungnahmen an die Gerichte entsprechend auszulegen.

2. "Die Qualität der Gutachten ist in solchen Verfahren von eminent wichtiger Bedeutung. Ich möchte den Einsatz zertifizierter Gutachter in der Praxis fördern."

Auch diese Forderung geht allgemein in die richtige Richtung. Allerdings lag die Problematik im Fall Mollath nicht an der mangelnden Zertifizierung der Gutachter, sondern eher an den Mängeln in ihren Gutachten und deren unkritische Übernahme durch die Justiz.

3. "Zur Unabhängigkeit der Justiz gehört auch die Erkenntnis der eigenen Unvollkommenheit dazu. Jeder macht Fehler. Davon sind auch Juristen nicht ausgeschlossen." Zu einer offenen Gesellschaft gehöre auch eine "Kultur der Kritik", sagte Bausback. "Die Justiz muss das dann auch ertragen."

Wie mehrfach hier im Blog angesprochen, ist dies eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Teile der bayerischen Justiz haben im Fall Mollath (und auch in anderen Fällen) leider den Eindruck erzeugt, als unfehlbar gelten zu wollen. Wenn der Minister mit diesem Wort der Fehlerkultur einen positiven Schub gibt, ist das zu begrüßen.

Natürlich sind das zunächst nur Ankündigungen, deren Umsetzung genau beobachtet werden muss. Aber es ist positiv, dass der Fall Mollath überhaupt auf ministerieller Ebene eine solche Wirkung hat. Nach dem Wahlsieg hätte die Politik ja auch einfach zur Tagesordnung übergehen können.

UPDATE 18.11.2013

Zur Kontroverse um den Artikel "Aktengutachten" von Hans-Ludwig Kröber (in: Forensische Psychiatrie Psychologie Kriminologie 2013 Vol. 7 S. 302-303, offizieller Link, der z.B. in den Universitätsbibliotheken freigeschaltet ist); hier die ausführliche Kritik RA Strates.

Allgemein trifft es zu, dass bei derzeitiger Gesetzeslage ohne Exploration erstellte Gutachten gesetzlich zugelassen sind und nach der gesetzlichen Konzeption auch notwendig sein können: Wenn das Gesetz einerseits an verschiedenen Stellen eine sachverständige Begutachtung vorschreibt, andererseits aber die (freiwillige) Mitwirkung des begutachtenden Probanden/Patienten für eine Exploration notwendig ist, dann bleibt möglicherweise in einigen Fällen nur die Begutachtung aufgrund des vorhandenen, meist in Akten gespeicherten, Wissens übrig.

Andererseits sind mir Psychiater bekannt, die das Problem für sich persönlich nicht haben, da sie (glaubhaft) versichern, bislang mit jedem Probanden/Patienten so in Kontakt gekommen zu sein, dass eine Exploration möglich wurde.

Der immer wieder verbreitete Mythos, Herr Mollath sei gar nicht bereit gewesen, sich begutachten zu lassen, trifft offenbar nicht zu. Von Herrn Kröber hätte ich mir gewünscht, dass er aus seiner Sicht (vielleicht sogar selbstkritisch) darstellt, warum es ihm nicht gelungen ist, Herrn Mollath zu explorieren. Herr Mollath hat dafür - schon lange vor seiner Freilassung - ganz bestimmte Gründe angeführt. Herr Kröber nimmt nun zu diesen Gründe nicht Stellung, sondern nimmt nur auf ein allg. "schlechtes Gefühl" des Herrn Mollath Bezug. Dass es Informationen dazu gibt, worauf dieses schlechte Gefühl Herrn Mollaths (seiner eigenen Äußerung nach) basierte, verschweigt Herr Kröber: Es geht darum, dass Herr  Kröber in einem Aufsatz vor einiger Zeit publiziert hatte, es sei wichtig, sich beim Probanden vorher anzumelden, diese Anmeldung aber im Fall Mollath unterblieben ist.

Ebenso hätte ich mir gewünscht, dass Herr Kröber etwas zur entscheidenden Problematik von Aktengutachten äußert. In jeder wissenschaftlichen Aktenuntersuchung (dasselbe gilt auch für die Auswertung von Quellen in der Geschichtswissenschaft)  müssen die Akteninhalte quellen"kritisch" behandelt werden. Weder in seinem hier diskutierten Aufsatz noch in seiner grundlegenden Darstellung  im von ihm mitherausgegebenen fünfbändigen "Handbuch der Forensichen Psychiatrie" (vgl. dort die Artikel "Kriminalprognostische Begutachtung", und "Praxis der kriminalprognostischen Begutachtung: handwerkliche Mindeststsandards und kasuistische Illustration" in  Band 3, S. 69 ff und S. 173 ff.) wird erläutert, dass derjenige, der aus Akten Informationen über vergangene Tatsachen entnehmen will, die Zwecke, Gründe und Herstellungsmodi der in den Akten enthaltenen Berichte zu berücksichtigen hat. Wenn sich etwa ergibt, dass die Informationen im wesentlichen auf den Angaben einer einzigen (oder wenigen gleich motivierten) Person/en beruhen, dann ist der Wahrheitsgehalt deutlich vorsichtiger zu beurteilen als wenn sich aus verschiedenen Perspektiven die im Kern gleiche Information ergibt. Quellenkritische Beispiele bildet Herr Kröber nur insofern, als möglicherweise neben den in den Akten geschilderten Taten/Handlungsweisen noch weitere belastende Informationen existierten, die aus juristischen Gründen ausgeschieden worden seien. Den umgekehrten Fall einer sich in den Akten multiplizierenden Falschangabe sieht er offenbar als unbeachtlich an, obwohl dies oftmals beschrieben  eine der wichtigsten Ursachen von Fehlurteilen ist.

Dass gerade Herr Kröber im Fall Mollath die wesentlichen Akteninhalte/Sachinformationen gerade nicht realitätsgetreu wiedergibt, davon zeugt sein kurzer Blitzlicht-Aufsatz ebenso wie schon sein Interview auf telepolis im Sommer:

1. ("Aktengutachten", S. 303):

"Tatsächlich war der Frau 2003 prompt gekündigt worden, was die Richtigkeit seiner Vorwürfe bestätigte."

Herr Kröber verschweigt, dass die Tatsache der Kündigung erst acht Jahre später bekannt wurde, also im Verfahren nicht bekannt war und auch im Urteil keine Rolle spielen konnte. Der Vors. Richter hatte den ganzen Komplex aus seiner Beweisaufnahme ausgeschlossen (ohne dessen Relevanz zumindest für die Glaubhaftigkeit der Ehefrau zu beachten) und deshalb wurde die Belastungszeugin auch nicht danach befragt.

"Im Urteil, das 2006 erging, steht ausdrücklich, dass diese Vorwürfe wohl stimmen."

Dies ist eindeutig falsch, siehe Urteilslektüre. Wäre 2006 schon bekannt gewesen, dass die vorwürfe stimmen, wäre es mindestens erforderlich gewesen, diese Tatsache in die Prüfung der Zeugenaussage der Frau M. einfließen zu lassen.

"Sein Wahn bestehe nicht darin, sondern in der (auch in Schrftsätzen dokumentierten) Überzeugung, dass es eine große Verschwörung gegen ihn gebe, in die seine Frau und ihre Freunde, diverse Psychiater, v. a. aber Rüstungsfirmen, Banken, Behörden und die bayrische Staatsregierung eng verwoben seien und die auf einen Bürgerkrieg hnarbeiten, weswegen er als Märtyrer aus dem Rechtsstaat austrete."

Durch den Konjunktiv deutet Herr Kröber an, es handele sich um Feststellungen aus dem Urteil. Dies ist indes nicht der Fall. Es handelt sich vielmehr um die Quintessenz dessen, was Herr Kröber der Aktenlektüre entnommen zu haben glaubt. Die Zusammenstellung  ist grob verzerrend und missachtet jegliche wahrhaftige Quellenstudie und Wiedergabe.

2. (Telepolis-Interview, Juli 2013), vgl. dazu schon hier (Update 04.07.2013).

"Telepolis: Bei so einer Beziehungstat, die wir in kleinerem Bereich ja auch aus den meisten Familien kennen, ist es doch meist so, dass mit der Trennung auch das Tatmotiv verschwindet. Nur in seltenen Ausnahmefällen verfolgt man seinen Partner dann noch weiter.

Kröber: Bei Mollath scheint genau das einige Jahre der Fall gewesen zu sein, wenn man das Urteil liest. Ich kenne durchaus Beispiele, wo so etwas bis zum Mord passiert. Zur Bewusstlosigkeit würgen ist in einer anderen Liga. Da waren die ja schon getrennt. Die Frau ist nach der Trennung noch in Mollaths Wohnung gekommen, um ihre Sachen zu holen. Dabei ist es passiert, wenn es so stimmt. Die Justiz hat die Geschichte eher verläppert. Da gab es dann keine Schreibmaschine. Das Ganze ging erst wieder voran durch die Reifenstecherei, das war aber bereits mehr als vier Jahre nach der Trennung. Da erst hat man gesagt: Er ist weiter gefährlich. Aber ich gebe Ihnen Recht: Sein Wahn bezog sich in diesen letzten Jahren schon lange nicht mehr auf seine Frau, sondern auf die Nürnberger Firma Diehl und die große Verschwörung, die er dort sah."

Herr Kröber hatte kurz darauf  eine korrigierende Version in das Interview einfügen lassen:

"Das war im August 2001, vor der Trennung. Die Frau ist nach der Trennung Ende Mai 2002 nochmal in Mollaths Wohnung gekommen, um ihre Sachen zu holen. Dabei gab es einen laut Urteil einen erneuten Übergriff, er hat sie festgehalten und am Verlassen der Wohnung gehindert. Die Justiz hat diese Vorfälle in der Akutphase der Trennung eher verläppert. Offenbar bestand kein großes Verfolgungsinteresse. Das Ganze ging erst wieder voran durch die [Mollath vorgeworfene] Reifenstecherei im Januar 2005, drei Jahre nach der Trennung."

Herr Kröber erweckte schon damals den unzutreffenden Eindruck, als habe Herr Mollath einen Wahn gegen die Rüstungsfirma Diehl entwickelt, und sich "schon lange nicht mehr auf seine Frau bezogen". Auch dies ist unrichtig. Die bei Herrn Mollath als ebenfalls wahnhaft angesehen angeblichen Reifenstechereien bezogen sich nicht auf eine Rüstungsfirma oder eine große Verschwörung, sondern angeblich auf Personen, die seiner Frau persönlich nahestanden bzw. in das Scheidungsverfahren involviert waren.

Mein Fazit:

Herr Kröber beharrt kontrafaktisch auf seinem einmal aus - möglicherweise oberflächlicher - Aktenlektüre gewonnenen Eindruck vom Probanden Mollath.

Noch einmal: Ich selbst bin kein psychiatrischer Gutachter und kann die gesundheitliche Lage Herrn Mollaths von vor 12 Jahren nicht beurteilen - insofern will ich mich keineswegs zum "Volksexperten" küren. Aber ich traue mir zu, die Qualität des Gutachtens von Herrn Kröber zu beurteilen und habe angesichts der von ihm selbst geforderten Qualitätsstandards erhebliche Bedenken. Seine Klage über eine "Volksexpertise, die sich allein auf Internet- und Zeitungslektüre stützt und weder Exploration noch Aktenkenntnis braucht", fällt m. E. auf ihn selbst zurück, da auch er seiner Äußerung nicht eine objektive Wiedergabe von Akteninhalten zugrundelegt.

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205 Kommentare

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Hoffnung auf ein rechtsstaatliches Verfahren?

 

Meine disbezügliche Skepsis z.B. im Klageerzwingungsverfahren Mollath, vertr. durch RA Strate, wegen Strafanzeige gegen Richter E. und Gutachter L., folgt aus dem Umstand, dass dieses Verfahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine sog. Berichtssache ist, will sagen, dass bereits "unter" der JMin. Merk das Verfahren in der Staatskanzlei/Staatsregierung mit Argusaugen verfolgt und dort der Weisungsgebundenheit unterlag und es weiterhin tut.

 

Nunmehr ist das OLG München am Zug und man wird sehen, wie der Strafsenat die doch sachfremd erscheinenden bisherigen Entscheidungen (auch hier die Fragen nach Rechtsfehler, Willkür, Fahrlässigkeit, Vorsatz, Rechtsgebundenheit) der StA (in A. und M.) beurteilen wird.

 

An dieser Stelle wird sich das Spannungsfeld zwischen der gesetzlich verankerten Unabhängigkeit der Gerichte und der tatsächlichen Praxis, die zurecht eine vollständige Selbstvewaltung der Justiz (Gerichte und StA) fordert, ggf. abbilden.

 

Nach der Entscheidung des OLG München verbleiben Strate a) der Weg der KA und b) der nach Straßburg. Geschätzte 3-5 Jahre. Derweil wird die Spur der Mollathschen "Karawane" und das in diesem Zusammenhang öffentlich diskutierte Handlungs-, Kontroll- und Modernisierungsbedürfnis innerhalb der Justiz womöglich längst zur Unkenntlichkeit verweht sein.

 

So meine Befürchtung und meine mit Schlötterer und anderen gemachte Erfahrung. Ändern wird sich (an dem geschlossenen System) in der Tat nur etwas, wenn eine Entwicklung auch "von innen" Raum greift, die die Angst vor Königsthronen überwindet. Das wäre nichts anderes als der Ruf/Wunsch nach je eigener tätiger ZIVILcourage.

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Sehr geehrter Prof. Müller,
ein Blog ist ja keine Gerichtsverhandlung. Die Unschuldsvermutung gilt natürlich. Als juristischer Laie, der einfach die öffentlich zugänglichen Informationen gelesen hat, fallen mir folgende Details auf, die sich nach meiner Meinung nur mit Vorsatz auf der Basis einer vorgefaßten Meinung erklären lassen:

- die Aufforderung von Leipziger an Eberl, man möge doch noch Untersuchungsergebnisse nachliefern, damit dann sein Gutachten auch die Verräumung legitimieren könne. Das erscheint logisch nur möglich, wenn man beim Abfassen eines Gutachtens schon weiß welches Ergebnis es haben soll.

- die Äußerung Brixners (Zeuge: Westenrieder), man könne ihn ja für befangen halten, wenn bekannt würde, dass er Herrn Maske aus dem Sportverein kennt. So etwas kann man nur sagen wenn man selber weiß, dass man sich eine Meinung schon gebildet hat, also befangen ist. Wenn man dann noch weiter macht handelt man vorsätzlich - oder man muss diesen Begriff tilgen.

Sind das aus juristischer Sicht unstatthafte laienhafte Folgerungen? Man ist ja selbstkritisch und aus der Attestdiskussion weiß ich noch, dass nichts so ist wie es zu sein scheint.

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Sehr geehrter "gelegentlich",

 

Sie schreiben

- die Aufforderung von Leipziger an Eberl, man möge doch noch Untersuchungsergebnisse nachliefern, damit dann sein Gutachten auch die Verräumung legitimieren könne. Das erscheint logisch nur möglich, wenn man beim Abfassen eines Gutachtens schon weiß welches Ergebnis es haben soll.

Ja, offenbar hatte sich der Gutachter zu diesem Zeitpunkt schon ein Urteil hinsichtlich des Vorliegens einer bestimmten Symptomatik und einer bestimmten Diagnose gebildet und war zudem der Ansicht, das jedenfalls das bisher ihm berichtete (angebliche) Verhalten des Herrn Mollath nicht für die Gefährlichkeitsprognose ausreichte. Inwieweit allein das schon einen Straftatbestand (welchen?) verwirklicht, scheint mir nicht auf der Hand zu liegen.

- die Äußerung Brixners (Zeuge: Westenrieder), man könne ihn ja für befangen halten, wenn bekannt würde, dass er Herrn Maske aus dem Sportverein kennt. So etwas kann man nur sagen wenn man selber weiß, dass man sich eine Meinung schon gebildet hat, also befangen ist. Wenn man dann noch weiter macht handelt man vorsätzlich - oder man muss diesen Begriff tilgen.

Befangenheit ist kein Straftatbestand. Es trifft auch nicht zu, dass nur jemand, der sich schon eine Meinung gebildet hat, befürchten kann, für befangen gehalten zu werden. Zur Erläuterung: § 24 StPO (Ablehnung eines Richters) setzt nicht objektive Befangenheit voraus, sondern nur die (auf einen Misstrauensgrund gestützte) Besorgnis der Befangenheit. Wenn also ein Richter befürchtet, man könne ihn für befangen halten, heißt das nicht unbedingt, dass er sich selbst für befangen hält, sondern dass ein Ablehnungsberechtigter einen Misstrauensgrund im Sinne des § 24 Abs.2 StPO vorbringen könnte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

 

Henning Ernst Müller schrieb:

...

Ja, offenbar hatte sich der Gutachter zu diesem Zeitpunkt schon ein Urteil hinsichtlich des Vorliegens einer bestimmten Symptomatik und einer bestimmten Diagnose gebildet und war zudem der Ansicht, das jedenfalls das bisher ihm berichtete (angebliche) Verhalten des Herrn Mollath nicht für die Gefährlichkeitsprognose ausreichte. Inwieweit allein das schon einen Straftatbestand (welchen?) verwirklicht, scheint mir nicht auf der Hand zu liegen.

...

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

 

 

Sehr geehrter Herr Professor Müller,

wenn ein Gutachter versucht, weitere Beweismittel zu erhalten, um zu einem vorbestimmten Ergebnis (=Unterbringung) zu gelangen, wird kein Gutachten abgegeben, sondern es wird gehandelt, um ein festgelegtes Ziel zu erreichen.

Es erhebt sich doch die Frage, hat der Gutachter den Vorsatz, diesem Menschen die Freiheit zu entziehen?

 

Mit den bekannten Tatsachen hätte das Ergebnis lauten müssen (von den im Gutachten vorgetragenen Fakten ausgehend - gesetzt den Fall sie wären richtig) schuldunfähig, Beziehungstat, Ehe geschieden, keine Wiederholungsgefahr ... ergibt keine Unterbringung.

 

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@Prof. Müller
Herzlichen Dank für Ihre rasche Antwort.
Straftatbestand? Wie gesagt bin ich juristischer Laie und habe offenbar realitätsuntaugliche Vorstellungen davon, was ein Gutachten ist.
Wenn ich bei möglichst vorurteilsloser Prüfung der vorliegenden Fakten zum Ergebnis komme, dass ich eine Gefährlichkeitsprognose nicht abgeben kann, dann schreibe ich das so hin. Falls ich mitbekomme, dass die auftraggebende Stelle etwas Anderes hören möchte und ich kooperativ mitdenke und dann reklamiere, für die gewünschte Gefährlichkeitsprognose müsse aber neues, anderes Beweismaterial her, konspiriere ich gegen den Untersuchten. Ich lasse mich auf eine servile Dienstleistung ein, nenne mich aber dennoch weiterhin Gutachter.
Strafbar? Weiß ich nicht. Als Laie ist mein Urteil klar: Berufsverbot als Gutachter, sofort. Verfehlen der Mindestintegrität, oder so.
Wie ein Richter, der merkt, dass er sich schon ein Urteil gebildet hat, sich nicht selber für befangen halten kann erschließt sich mir nicht. Schon gar nicht in diesem Fall. Das war doch kein junges Greenhorn, das nicht merken konnte, wie sein Urteil von einem „Umfeld“ geprägt wurde.

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Was hat Bausback sich bloß dabei gedacht, als er in seiner Äußerung die Unabhängigkeit mit Unvollkommenheit kontaminierte?

Gemeint waren damit Fehler und Fehlverhalten von Richtern und die richterliche Unabhängigkeit. Bausback erweckte damit den Eindruck, Richterfehler  fielen auch unter die Unabhängigkeit und seien durch sie geschützt.

Das ist aber falsch, grotesk falsch und gefährlich. Vielen könnte so eine Äußerung zwar als unbedacht nachgesehen werden. Aber Bausback ist Justizminister und außerdem auch noch Verwaltungsrechtler.

Nein, zur richterlichen Unabhängigkeit gehören auf keinen Fall Richterfehler! Richterliche Unabhängigkeit schützt nicht die Fehler, sondern schützt vor Fehlern. Also gerade das Gegenteil dessen, was Bausback behauptet. Der Zweck der richterlichen Unabhängigkeit soll die Bindung des Richters an Recht und Gesetz garantieren. Richterfehlern fehlt aber zwingend diese Bindung. Eine Fehlentscheidung ist geradezu dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht rechts- und gesetzeskonform ist.

Richterliche Fehlentscheidungen stehen im Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit. Unter Umständen müssen sie aber zu Gunsten der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens hingenommen werden. Diesen Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit aufzulösen, eine Balance zwischen diesen gegensätzlichen Rechtsstaatsmerkmalen zu schaffen, ist grundsätzlich die Aufgabe des Gesetzgebers (leider inzwischen von der Rechtsprechung gänzlich zu Gunsten der "Rechtssicherheit" verschoben). 

Wenn man sich Bausbacks Äußerungen zum "Gurlitt-Gesetz", also einer rückwirkenden Unverjährbarkeit nicht gutgläubig erworbener Sachen vor Augen hält, dann könnte man meinen, die materielle Gerechtigkeit sei ihm ein besonders hohes Gut der Rechtsstaatlichkeit. Davon merkt man aber nichts bei seinen Äußerungen zur Aufarbeitung des Falles Mollath. 

Eine Eilmaßnahme im Bausbacks Zuständigkeitsbereich könnte beispielsweise eine Reform der Gnadenordnung und die Justiziabilität von Gnadenakten sein. Man denke dabei nur an die von Karl Binding schon mal aufgestellte Frage, ob ein Strafurteil, das auf evidenter Weise das Recht verletzt, alle Instanzen unbeanstandet passiert und rechtskräftig wird, als Grundlage der Vollstreckung dienen kann. Eine Aufnahme der damit verbundenen Lehre von den absoluten "Nichtigkeitsgründen" eines Strafurteils in die Strafprozessordnung dürfte nicht nur sehr schwierig, sondern auch langwierig sein. Obwohl ich denke, dass sie zumindest in dem psychiatrischen Maßregelvollzug Beachtung finden könnte und sollte. Schließlich handelt sich bei psychiatrischen Maßregeln nur um reine Präventivmaßnahmen. Jedenfalls erscheint es mir spontan für unbedenklich, sie umfassend in die Gnadenordnung mit aufzunehmen.

@Kritiker
Die Frage stellen heißt doch sie zu beantworten:
„wenn ein Gutachter versucht, weitere Beweismittel zu erhalten, um zu einem vorbestimmten Ergebnis (=Unterbringung) zu gelangen, wird kein Gutachten abgegeben, sondern es wird gehandelt, um ein festgelegtes Ziel zu erreichen.
Es erhebt sich doch die Frage, hat der Gutachter den Vorsatz, diesem Menschen die Freiheit zu entziehen?“
Das ist das, was ich als Laie mit Vorsatz (ein Vorhaben realisieren wollen) bezeichne. Das gilt auch für den Richter, der in diesen „Dialog“ einsteigt. Wer hat eigentlich die Polizei einbezogen?

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Rechtsbeugung, Nachweis und Verjährungsfrist

Die Rechtsbeugung scheint im wesentlichen ein Alibipragraph zu sein, der Rechtsstaat spielt, aber daran krankt, dass er fast nie zur Geltung kommt, u.a. deshalb, weil die Verjährungsfrist läppische 5 Jahre beträgt.  20 Jahre wären wohl das Mindeste.

Das andere sind die extremen Nachweishürden.  Das "Recht"  scheint hier so angelegt, dass Rechtsbeuger de facto so gut wie nie verurteilt werden können.

Das hat natürlich mit wohlverstandenem Recht nicht das Geringste zu tun.

Auch dieses Thema sollte bei der Diskussion um die Reform des § 63 nicht aus dem Auge verloren werden.

 

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Rudolf Sponsel schrieb:

Rechtsbeugung, Nachweis und Verjährungsfrist

Die Rechtsbeugung scheint im wesentlichen ein Alibipragraph zu sein, der Rechtsstaat spielt, aber daran krankt, dass er fast nie zur Geltung kommt, u.a. deshalb, weil die Verjährungsfrist läppische 5 Jahre beträgt.  20 Jahre wären wohl das Mindeste.

Das andere sind die extremen Nachweishürden.  Das "Recht"  scheint hier so angelegt, dass Rechtsbeuger de facto so gut wie nie verurteilt werden können.

Das hat natürlich mit wohlverstandenem Recht nicht das Geringste zu tun.

Auch dieses Thema sollte bei der Diskussion um die Reform des § 63 nicht aus dem Auge verloren werden.

 

 

Sie meinen bestimmt:

 

"Nicht nur der § 63 StGB gehört reforemiert, sondern das gesamte Justizsystem!"

 

Oder meinen Sie, abgesehen vom 63 und der Rechtsbeugungsproblematik sei alles andere OK? Hatten Sie nicht selbst auch die Dokumentation von Verfahrensverläufen ins Spiel gebracht? Und auch damit hat man noch längst nicht alles: Prof. Müller sollte mal eine einzige Sache nennen, die in Theorie UND Praxis wirklich sauber geregelt sei und auch entsprechend liefe! Eine, nur eine einzige!

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@Gast:

"Nicht nur der § 63 StGB gehört reforemiert, sondern das gesamte Justizsystem!"

Oder meinen Sie, abgesehen vom 63 und der Rechtsbeugungsproblematik sei alles andere OK? Hatten Sie nicht selbst auch die Dokumentation von Verfahrensverläufen ins Spiel gebracht? Und auch damit hat man noch längst nicht alles: Prof. Müller sollte mal eine einzige Sache nennen, die in Theorie UND Praxis wirklich sauber geregelt sei und auch entsprechend liefe! Eine, nur eine einzige!

 

Ich sehe es als eine Aufgabe der Rechtswissenschaft an, auf systematische und strukturelle Fehlentwicklungen und Schwächen hinzuweisen und für deren Korrektur einzutreten.

Im Umkreis des Falls Mollath sind Strukturprobleme an verschiedenen Stellen aufgetreten. Dazu gehören Fragen der psychiatrischen Begutachtung, aber auch natürlich der Behandlung von Rechtsbeugungen, der Behandlung von Revisionen und Wiederaufnahmeanträgen, zudem noch andere Problemfelder, die ich in meinem kurzen Aufsatz für das Buch "Staatsversagen auf höchster Ebene" benannt habe. Wer in einer rechtsstaatlich organisierten Gesellschaft lebt, dem wird auffallen, dass es selbstverständlich auch außerhalb des Falls Mollath viele Sachverhalte/Probleme gibt, die theoretisch und abstrakt keineswegs perfekt geregelt sind, sowie andere, die trotz korrekter abstrakter Regelung in der Praxis nicht richtig behandelt werden. Natürlich kann man auch die Auffassung vertreten, diese Diskussion um Einzelprobleme sei sinnlos, solange nicht das ganze Justizsystem, der ganze Rechtsstaat reformiert werde - das ist aber m.E. eine politische Frage, für die sich momentan wohl keine Mehrheit ergibt. Die Diskussion darüber, ob etwas  "wirklich sauber geregelt ist und auch entsprechend läuft", führt aber m.E. ins Allgemeine und verwässert die notwendige Diskussion zu konkreten Verbesserungsvorschlägen. Die Verantwortlichen können sich dann nämlich bequem zurücklehnen und eine Reform mit dem Verweis darauf ablehnen, es müsse zunächst alles andere (bzw. das "System" insgesamt) reformiert werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Henning Ernst Müller schrieb:

@Gast:

"Nicht nur der § 63 StGB gehört reforemiert, sondern das gesamte Justizsystem!"

Oder meinen Sie, abgesehen vom 63 und der Rechtsbeugungsproblematik sei alles andere OK? Hatten Sie nicht selbst auch die Dokumentation von Verfahrensverläufen ins Spiel gebracht? Und auch damit hat man noch längst nicht alles: Prof. Müller sollte mal eine einzige Sache nennen, die in Theorie UND Praxis wirklich sauber geregelt sei und auch entsprechend liefe! Eine, nur eine einzige!

 

Ich sehe es als eine Aufgabe der Rechtswissenschaft an, auf systematische und strukturelle Fehlentwicklungen und Schwächen hinzuweisen und für deren Korrektur einzutreten.

Da es in der BRD über 100 rechtswissenschaftliche Institute geben dürfte müsste es also einen Fundus an Kritiken und Verbesserungsvorschlägen geben, in einem System, in dem Fälle wie "Mollath" möglich sind?

 

Henning Ernst Müller schrieb:

...  Natürlich kann man auch die Auffassung vertreten, diese Diskussion um Einzelprobleme sei sinnlos, solange nicht das ganze Justizsystem, der ganze Rechtsstaat reformiert werde - das ist aber m.E. eine politische Frage, für die sich momentan wohl keine Mehrheit ergibt

Erstens bewegen Sie sich hier auf dem Feld der reinen Spekulation ("keine pol. Mehrheit"), zweitens haben die meisten Leute gar keine Ahnung davon, was in der Rechtstheorie und -praxis los ist, weshalb sie auch keine fundierte Meinung insofern vertreten können. Tatsache ist, dass solcherart Unwissende, wenn sie dann einmal mit den Realitäten der deutschen Justiz konfrontiert werden, die Hände über dem Kopf zusammenzuschlagen pflegen.

Henning Ernst Müller schrieb:

Die Diskussion darüber, ob etwas  "wirklich sauber geregelt ist und auch entsprechend läuft", führt aber m.E. ins Allgemeine und verwässert die notwendige Diskussion zu konkreten Verbesserungsvorschlägen. Die Verantwortlichen können sich dann nämlich bequem zurücklehnen und eine Reform mit dem Verweis darauf ablehnen, es müsse zunächst alles andere (bzw. das "System" insgesamt) reformiert werden.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Der Fall Mollath hat doch gezeigt, dass Gesetze nichts zählen, wenn die Richter sie nichts zählen lassen wollen. Also können Gesetze allein nichts ausrichten, muss also eine Reorganisation der Justiz her.

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Sehr geehrter Herr Sponsel,

Sie schreiben:

Die Rechtsbeugung scheint im wesentlichen ein Alibipragraph zu sein, der Rechtsstaat spielt, aber daran krankt, dass er fast nie zur Geltung kommt, u.a. deshalb, weil die Verjährungsfrist läppische 5 Jahre beträgt.  20 Jahre wären wohl das Mindeste.

Die Verjährung ist nicht das Probem des Rechtsbeugungstatbestands. Sofern nämlich durch eine richterliche Entscheidung andere Tatbestände mitverletzt sind (insb. Freiheitsberaubung), spielt die Verjährung der Rechtsbeugung keine relevante Rolle mehr für die Strafbarkeit. Die Verjährung der Freiheitsberaubung beginnt erst mit der Freilassung und dauert in den bedeutsamen Fällen zehn Jahre. Richtig ist aber, dass kaum einmal ein Richter wegen Rechtsbeugung verurteilt wurde und wird und deshalb auch nicht wegen Freiheitsberaubung, weil § 339 StGB bei richterlichen Entscheidungen immer als Filter vorgeschaltet ist. § 339 StGB ist deshalb auch in seiner tatsächlichen Funktion gar keine Strafnorm, sondern eine Privilegierungsnorm für Richter.

Das andere sind die extremen Nachweishürden.  Das "Recht"  scheint hier so angelegt, dass Rechtsbeuger de facto so gut wie nie verurteilt werden können.

Das ist zutreffend, aber keineswegs (allein) ein Nachweisproblem. Vielmehr hat die Rechtsprechung selbst besonders hohe tatbestandliche Hürden errichtet: Nicht bereits  eine vorsätzlich eindeutig falsche Entscheidung (die unvertretbar und obj. willkürlich ist) beugt das Recht - so die h.L., sondern es muss sich nach der Rspr. des BGH der Richter "bewusst und in schwerwiegender Weise von Recht und Gesetz entfernt haben", und es müsse ein "elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege" vorliegen (ständige Rechtsprechung des BGH zu § 339 StGB).

Das hat natürlich mit wohlverstandenem Recht nicht das Geringste zu tun.

Die Argumentation ist regelmäßig, dass bei einer weniger strengen Auslegung Richter nicht mehr frei und unabhängig entscheiden könnten. Insofern wirkt hier ein Funktionsargument, dass ich aber für verfehlt halte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Henning Ernst Müller schrieb:

 

Die Argumentation ist regelmäßig, dass bei einer weniger strengen Auslegung Richter nicht mehr frei und unabhängig entscheiden könnten. Insofern wirkt hier ein Funktionsargument, dass ich aber für verfehlt halte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

Ja. Ebenso könnte man sagen: "Ein Polizist muss Menschen beliebig abknallen können, weil sonst die Gefahr besteht, dass er die Schusswaffe gar nicht mehr einsetzt."

 

Die Einsichten, die Sie hier erklären, ich trete dem Kompliment des Max Mustermann bei - finden die auch Eingang in Ihre Vorlesungen / Seminare?

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@ Prof. Müller

 

Die von Ihnen zitierte Rspr zu § 339 StGB, wonach schlicht der d.e. für den subjektiven Tatbestand nicht ausreichend sei, ist ja nun nichts anderes als eine "Selbsterhöhung" der hinter dieser Rspr. stehenden Richter/Richterschaft.

 

Es wird per selbst ergriffener oder eingebildeter oder von der Gesellschaft geduldeter Eigen-Macht über den Rechtsgrundsatz hinweggegangen, dass Straftatbestände immer (nur aber auch) mit d.d. oder d.e. begangen werden (sieht man von Fahrlässigkeits-Delikten wie z.B. der fahrlässigen Tötung im Straßenverkehr ab).

 

Schon Egon Schneider (der Doyen der ZPO) hat in seinen Schriften regelmäßig darauf hingewiesen, dass der Zweck der im Gesetz normierten richterlichen Unabhängigkeit nicht darin bestehen könne, das Recht zu beugen. Von daher ist das obige Kommentar-Zitat verquer; allenfalls versteckt sich darin die Notwendigkeit, die Justiz zur vollständigen Selbstverwaltung zu bringen, um wirklich wirklich unabhängig von politischer Einflussnahme dem Recht/der Gerechtigkeit zu dienen (und nicht z.B. dem Bay. MP, der nach Schlötterer angeblich die Justizhoheit inne habe; nachzulesen in "Macht und Missbraucht").

 

P.S.

Ich erinnere mich schwach an einen Aufsatz wohl dreier Rechtsprofessoren erinnerlich aus den 80er Jahren. Sie plädierten - bisher ungehört - dafür, den Tatbestand der Rechtsbeugung umzubenennen: in "Rechtsbruch". Ihr lautmalendes Argument war u.a., ein "Bruch" des Rechts wäre leichter zu hören, wie etwa ein Ast-Bruch, als die stumme und geräuschlose Biegung, Beugung des Zweiges, des Rechts.

5

@stimmviech
Herzlichen Dank für die Live-Übertragung!

5

Sehr geehrter Professor,

vielen Dank für Ihre aussergewöhnlich klaren Worte. Nicht viele Professoren äussern sich dergestalt öffentlich und in Schriftform.

 

Die der Vorsatzfrage nachgelagerte Fragestellung, nämlich der der möglichen Behebung der diesbezüglich Problemstellung, halte ich aber in diesem Punkt für wenig ergiebig. Ihre Betrachtungen zum Rechtsbeugungstatbestand sind sehr wohl nachvollziehbar, ich habe (vermutlich) nur ein andere Betrachtung zu dem was Strafrecht leisten kann und soll.

 

Ich sehe im Strafrecht in erster Linie ein Sanktionssystem für unerwünschtes Verhalten.

Galant umschrieben ehestens als Reaktion auf eine defizitäre Situation.

In keinster Weise erwarte ich, dass diese Reaktion weniger deifizitär sein sollte, als der zugrundeliegende Sachverhalt und noch weniger hege ich die Hoffnung, dass das Sanktionssystem zukünftige Straftaten verhindern soll. Darin würde für mich ein grundsätzlicher Denkfehler bestehen. Denn kein Gesetz der Welt und keine Reform kann kriminelle Energie unterbinden.

 

Ich erwähne dieses nicht, weil Sie derartiges behauptet haben, sondern schon in vorauseilendem Gehorsam auf Ihre noch zu stellenden Frage, was denn dann mit psychisch kranken Straftätern zu geschehen habe. Sollen wir die einfach laufen lassen oder in den normalen Vollzug stecken? (Übrigens die Argumentationslinie von Herrn Prof. Kröber heute in Potsdam)

Vorsatz kann man nicht mit Straftatbeständen bekämpfen, sei er nun auf niederen Bewegründen gefasst worden oder halt auf wahnhaft kranken Wege zustande gekommen.

Der viel postulierte Präventionsgedanke dem einem Strafverfahren thematisch hinterlegt ist, ist für mich nicht sonderlich überzeugend. Ich halte diesen sogar für ausgesprochen gefährlich, wie wir in aktuellen Diskussionen zu anderen Themengebieten heute sehen können. Verdachtslose, flächendeckende Massenauspähung zum Wohle der Sicherheit. Eingebettet in ein Geheimhaltungscocon, das mittlerweile jede durch die Verfassung zugesicherte Verfahrensweise der Rechtsstaatlichkeit aushebelt.

 

Und den selben irrigen Pfad hat das Strafrecht eingeschlagen. Über Fürsorge und Sicherheitsbedürfnis gedeckelt, wird mit einer erschreckenden Alltäglichkeit unbefristeter Freiheitsentzug angeordnet. Prävention unbestimmter, zukünftiger Risiken hat dazu geführt, dass §1 StGB komplett ausgehebelt wurde und stattdessen ein Schatten-Strafkatalog innerer Merkmale eingeführt wurde, der einer objektiven Überprüfung in keinster Weise zugänglich ist. (Prof. Kröber meinte heute, er hätte seine Meinung gefasst und das sei ja bekannt und dabei bleibe er auch und überhaupt konnte ja noch keiner Beweisen, dass Mollath nicht krank sei)

 

Das strukturelle Problem liegt darin, dass nicht mehr die "Tat" sanktioniert wird.

Wer §1 einfach über den Haufen wirft, muss sich doch danach nicht wundern, wenn ein Systemkonflikt auftritt. Dafür ist der doch erst eingeführt worden...

Warum soll den plötzlich in einer defizitären Situation höhere Ansprüche für Einzelne erfüllt werden? (In der Praxis gehts denen doch dann viel dreckiger als im Normalvollzug)

Warum beschränkt man sich bei der Massnahme nicht einfach auf den Zeitraum der ausgefällten Strafe bei einem "normalen" Täter?

Wir lange braucht den eine Klinik, bis sie einem Reifenstecher dargestellt hat, dass derartiges Verhalten unerwünscht ist?   

 

Kurz: Vorsatz lässt sich nicht verhindern, aber der Bürger würde es begrüssen, wenn auch Richter einmal sanktioniert würden und auch vor dem Gesetze gleich sind wie alle andern.

 

Beste Grüsse

  

 

4

Ergänzende Frage an Herrn Prof. Müller: Die Medien berichten in unregelmäßigen Abständen davon, dass Deutschland wieder einmal einen Spitzenplatz in Sachen Rechtsstaatlichkeit belegt habe, bei irgendeiner Bewertungsrunde.

Was legt man in solchen Fällen zugrunde? Die Gesetze? Ich meine, die mit Abstand meisten Gesetze sind ja nicht schlecht - aber wie Sie selbst bezogen auf den 339 erklären, wirkt die BGH-Rechtsprechung in vielen Fällen ja wie eine Gesetzesänderung (Verschärfung / Entschärfung). Im Grunde das Selbe gilt für den "Hindernislauf" Revisionsantrag, der vom BGH so verschärft wurde, dass man ohne Kenntnis der BGH-Rechtsprechung nicht die geringste Chance hat, auch nur einen formal tauglichen Antrag auf die Beine zu bekommen. Auch der Richter a.D. Joachim Bode hat es ja bemängelt, dass, wie er es inhaltloich ausdrückt, die Legilativmacht nach verabschiedung von Gesetzen quasi auf den BGH übergehe, weil der aus Gesetzen mache, was er wolle ("bis ins Gegenteil").

Man könnte sich schon die Fragte stellen, ob ein Marketing-Trick dahinter steckt: Vorzeigbare Gesetze, die aber ganz vom BGH, was nur Experten wissen,  so frisiert werden, dass sie nicht mehr vorzeigbar sind? 

Erschleicht die BRD sich u.a. auf diesem Wege internationales Renommee als Rechtsstaat? Oder geht man so vor, damit man alle Nichtexperten, die also nur ins Gesetz schauen, wenn sie z.B. einen Revisionsantrag stellen wollen, an die Wand klatschen lassen kann?

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Die BGH-Rechtsprechung zur Rechtsbeugung gibt nicht viel her, warum sie so ist wie sie ist. An einer Stelle gibt der BGH (5 StR 713/94 - Urteil vom 15.09.1995, Abs./Rdnr. 18) aber eine bemerkenswerte Begründung dazu:

 

... sind gesteigerte Anforderungen an den Rechtsbeugungstatbestand ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung erneuter Sachprüfung durch die Justiz zu unterstellen.

 

Was ist davon zu halten?

WR Kolos schrieb:

 

Die BGH-Rechtsprechung zur Rechtsbeugung gibt nicht viel her, warum sie so ist wie sie ist. An einer Stelle gibt der BGH (5 StR 713/94 - Urteil vom 15.09.1995, Abs./Rdnr. 18) aber eine bemerkenswerte Begründung dazu:

 

... sind gesteigerte Anforderungen an den Rechtsbeugungstatbestand ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung erneuter Sachprüfung durch die Justiz zu unterstellen.

 

Was ist davon zu halten?

 

In Verbindung mit der Rechtspraxis bis hinauf zum BGH, Rechtsbeugung praktisch immer zu verneinen, heißt das:

"Völlig egal, was ein Richter gemacht hat, völlig egal, welche Fehler ein Urteil aufweist - wir wollen keine nachträglichen Überprüfungen von Urteilen, und wir wollen keine Sanktionierungen richterlicher Fehlleistungen! Basta! Capito?"

 

Genau die selbe Botschaft erteilt der BGH mit seiner Rechtsprechung zu Revisionsanträgen.

5

@ Kolos

 

Zur Ihrer Frage, was von BGH-Begründung (Rechtsbeugungstatbestand) zu halten sei:

 

Die "gesteigerten Anforderungen" - also die willkürlich erscheinende Verengung des subjektiven Tatbestands, wonach d.e. zur Erfüllung des Tatbestandes nicht ausreiche - stellen eine im Rahmen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit ihrer Bindung an Gesetz und Recht unzulässige "Selbsterhöhung" der 3. Gewalt dar; eine solche Recht-Sprechung erscheint als von "außerhalb" des Rechts kommend; mithin wäre der Ausdruck "Unrecht-Sprechung" womöglich nicht fernliegend.

 

Wo bleibt, so möchte man fragen, der - untaugliche - Versuch anderer Berufsgruppen, sie betreffende Straftatbestände um das subjektive Moment des d.e. zu "berauben", um sich so ihre alltägliche ("Prüfungs") Arbeit zu erleichtern.

 

Fazit:

 

"OB"

"Eine Steigerung der Anforderungen" obläge immer dem Gesetzgeber; freilich kenne ich keinen sachlichen Grund, einer Relativierung des Vorsatzes beim Tatbestand der Rechtsbeugung. Solches wird seit Jahr und Tag vom Parlament als der - vermeintlichen - Herzkammer der Demokratie geduldet.

 

"WIE"

Die Begründung gibt Beispiel des Verstoßes gegen Artikel 3 GG: Verstoß gegen das Willkürverbot.

4

Rudolf Sponsel schrieb:

Bericht von Frau Wolff zur Strate - Kröber Diskussion ist da

http://gabrielewolff.wordpress.com/2013/11/06/der-fall-mollath-die-irrwe...

Auch Dr. Strate ist demnach der Überzeugung, dass es nicht in erster Linie an den Gesetzen liegt, wenn Dinge aus dem Ruder laufen, sondern an "unzulänglichem Personal". Dabei meint er bestimmt nicht, dass es z.B. im Falle der involvierten Strafkammer am LG Regensburg an juristischem Wissen oder an Intelligenz gemangelt habe, denn seine Kritik an der Ablehnung der WAA durch die betreffende Kammer am LG Regensburg war ja eindeutig:

 

http://www.youtube.com/watch?v=Dkt4zrUgj6k

 

Dr. Strate vertritt also die Auffasung, dass es im Falle Mollath am WILLEN der Richter gefehlt habe, das Richtige zu tun, dass vielmehr ein richterlicher Wille bestanden habe, das FALSCHE zu tun.

Also ist die Frage nach notwenidigen Änderungen so zu stellen:

 

Was muss man ändern, damit Richter in Zukunft das RICHTIGE tun WOLLEN und es nicht WAGEN, das FALSCHE zu tun?

 

5

@Gast#21

Ja, ok. Aber was ist von so einer Botschaft zu halten. Oder mit anderen Worten: Ist das eine noch zulässige und vertretbare  Auslegung von gesetzlichen Tatbeständen?

Dieses Argument begegnet Einem bei Rechtsanwendung durch Justiz und Verwaltung fast überall, wenn auch selten so (häufig unter dem Begriff "Funktionalität der Rechtspflege" und so ausdrücklich formuliert:

 

... sind gesteigerte Anforderungen an ... ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichts/Verwaltungs -entscheidungen allzu häufig (nochmals) ... (der/erneuter) Sachprüfung durch die Justiz/Verwaltung zu unterstellen.

 

Liegt darin nicht ein Verstoß gegen elementare Verfassungsgrundsätze oder gegen elementare Grundsätze der Rechtspflege? Liegt nicht etwa in der o.a. Begründung des BGH zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes seinerseits schon Rechtsbeugung vor?

WR Kolos schrieb:

@Gast#21

Ja, ok. Aber was ist von so einer Botschaft zu halten. Oder mit anderen Worten: Ist das eine noch zulässige und vertretbare  Auslegung von gesetzlichen Tatbeständen?

Dieses Argument begegnet Einem bei Rechtsanwendung durch Justiz und Verwaltung fast überall, wenn auch selten so (häufig unter dem Begriff "Funktionalität der Rechtspflege" und so ausdrücklich formuliert:

 

... sind gesteigerte Anforderungen an ... ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichts/Verwaltungs -entscheidungen allzu häufig (nochmals) ... (der/erneuter) Sachprüfung durch die Justiz/Verwaltung zu unterstellen.

 

Liegt darin nicht ein Verstoß gegen elementare Verfassungsgrundsätze oder gegen elementare Grundsätze der Rechtspflege? Liegt nicht etwa in der o.a. Begründung des BGH zur Auslegung des Rechtsbeugungstatbestandes seinerseits schon Rechtsbeugung vor?

Nach meiner Ansicht gehen Ihre Fragen in die richtige Richtung: Anmaßung legislativer Macht durch ein judikatives Organ. Ein Fall für den Verfassungsschutz, der sich aber leider nicht als Verfassungsschutz, sondern als Staatsschutz versteht.

Ich bin der Meinung, dass Richter bei objektiven Unklarheiten hinsichtlich von Gesetzeinhalten das Recht haben sollten, eine klarstellende Textänderung vom Gesetzgeber einzufordern, die der dann auch in kurzer Frist (2 Wochen? 4 Wochen?) zu beschließen hätte.

Wenn man bedenkt, dass rund die Hälfte der Abgeordneten iin Bundetag und Bundesrat soweie Juristen sind, dann fragt man sich natürlich, wie sie dauernd Gesetze verabschieden können, die nicht einmal klar verständlich sind.

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Rudolf Sponsel schrieb:

Wichtiges BGH Urteil vom 22.1.2004 zu Diagnose-Fehlern Forensik: Nachvollziehbarkeit, Transparenz und Weg angeben geboten
http://www.sgipt.org/forpsy/NFPMRG/DiagF.htm#Nachvollziehbarkeit,%20Tran...

 

Vom Datum her ist es bereits für das Dr. Leipziger "GA" bedeutsam.

Ein BGH-Urteil ist keine bindende Verpflichtung für einen Richter. Er kann ganz unabhängig alles ganz anders entscheiden, und um ein untaugliches Gutachten über die Revision angreifen zu können, müssen verschiedene Voraussetzungen erfüllt sein: Das untaugliche Gutachten muss im Prozess angergiffen worden sein, und zwar so, dass es im Hauptverhandlungsprotokoll nachlesbar ist. Zum Beispiel mit einem Antrag,  das Gutachten aus den und den Gründen als untauglich abzuweisen und stattdessen einen anderen Gutachter zu beauftragen. Brixner hätte einen solchen Antrag mit zwei hohlen Sätzen abgeschmettert, draufhin hätte gegen seinen Beschluss Rechtsmittel erhoben werden müssen. Erfolgte dann wiederum ein Abschmettern, hätte Gehörsrüge erhoben werden müssen. Nur dann, wenn wirklich alle Rechtsmittel gegen die Verwendung des untauglichen Gutachtens im Verfahren selbst vergeblich eingelegt waren, kann m.E. eine darauf zielende Prozessrüge erfolgreich sein.

Auch Urteile des Verfassungsgerichtes ge- und verbieten einem Richter absolut nichts. Er kann tagtäglich nichts anderes tun, als gegen Rechtsprechung des BGH und des BVerfG zu verstoßen - deshalb allein kann ihm niemand etwas wollen.

 

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Reform § 63 StGB

Aufklärung bei forensischen Gutachten in Schriftform

Die Aufklärung bei forensischen Gutachten ist schlecht geregelt. Bestenfalls werden die Probanden informiert, dass sie nicht mitmachen müssen und dass die Schweigepflicht nicht gilt. Es wäre daher wünschenswert dass von Gesetzes wegen eine umfassende Aufklärung über Vor- und Nachteile, Risiken, Rechte und Pflichten, Ablauf und Regeln erfolgt. Am sinnvollsten erscheint hierfür ein Formblatt.

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Desolate Zustände beim rechtlich entscheidenden mündlichen Gutachten

"Randnummer 106 Das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten entzieht sich mangels eines Inhaltsprotokolls der Hauptverhandlung (§ 273 Abs 1 StPO) und wegen der fehlenden Dokumentationsfunktion des tatrichterlichen Urteils (§ 267 Abs 1 S 2 StPO) weit gehend der späteren Rekonstruktion bei einer Rechtskontrolle."

Quelle: Eschelbach, Beck'scher Online-Kommentar StGB (BeckOK StGB § 20), Rn 102 - 106, Hrsg: von Heintschel-Heinegg, Stand: 22.07.2013, Edition: 23

 

Frage: was soll das noch mit Rechtssicherheit, mit Wissenschaft oder gesunden Menschenverstand zu tun haben? Da hilft natürlich auch eine Reform des § 63 StGB gar nichts. Das schreit geradezu nach einer Reform der HV.

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Rudolf Sponsel schrieb:

Desolate Zustände beim rechtlich entscheidenden mündlichen Gutachten

"Randnummer 106 Das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten entzieht sich mangels eines Inhaltsprotokolls der Hauptverhandlung (§ 273 Abs 1 StPO) und wegen der fehlenden Dokumentationsfunktion des tatrichterlichen Urteils (§ 267 Abs 1 S 2 StPO) weit gehend der späteren Rekonstruktion bei einer Rechtskontrolle."

Quelle: Eschelbach, Beck'scher Online-Kommentar StGB (BeckOK StGB § 20), Rn 102 - 106, Hrsg: von Heintschel-Heinegg, Stand: 22.07.2013, Edition: 23

 

Frage: was soll das noch mit Rechtssicherheit, mit Wissenschaft oder gesunden Menschenverstand zu tun haben? Da hilft natürlich auch eine Reform des § 63 StGB gar nichts. Das schreit geradezu nach einer Reform der HV.

 

Könnte man ganz einfach haben:

Per Gesetz (StPO) festlegen, dass alle Aussagen von Prozessbeteiligten in der HV, also auch diejenigen der Zeugen (und damit auch der "sachverständigen" Zeugen) wörtlich ins Hauptverhandlungsprotokoll aufzunehmen sind (Pflicht).

Verstöße dagegen müssen zu absoluten Revisions- und Wiederaufnahmegründen erhoben werden - auch per StPO.

 

 

 

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Rudolf Sponsel schrieb:

Desolate Zustände beim rechtlich entscheidenden mündlichen Gutachten

"Randnummer 106 Das in der Hauptverhandlung mündlich erstattete Gutachten entzieht sich mangels eines Inhaltsprotokolls der Hauptverhandlung (§ 273 Abs 1 StPO) und wegen der fehlenden Dokumentationsfunktion des tatrichterlichen Urteils (§ 267 Abs 1 S 2 StPO) weit gehend der späteren Rekonstruktion bei einer Rechtskontrolle."

Quelle: Eschelbach, Beck'scher Online-Kommentar StGB (BeckOK StGB § 20), Rn 102 - 106, Hrsg: von Heintschel-Heinegg, Stand: 22.07.2013, Edition: 23

 

Frage: was soll das noch mit Rechtssicherheit, mit Wissenschaft oder gesunden Menschenverstand zu tun haben? Da hilft natürlich auch eine Reform des § 63 StGB gar nichts. Das schreit geradezu nach einer Reform der HV.

 

Ich weiß nicht, wie man das Revisionsgericht dazu bringen könnte, das tatrichterliche Urteil anhand des (Wort-) Protokolls rekonstruieren zu wollen/dürfen.

Leitsatz zu BGH 1 StR 58/01 - Beschluß v. 3. April 2001:

...

 

2. Allerdings kann mit einer Verfahrensrüge beanstandet werden, das Tatgericht habe sich mit einer gemäß § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO wörtlich niedergeschriebenen, verlesenen und genehmigten Aussage nicht auseinandergesetzt, obwohl deren Würdigung geboten gewesen sei (§ 261 StPO; BGHSt 38, 14). 

 

Voraussetzung also ist das Wortprotokoll mit dem V.u.g.-Vermerk. Die Frage ist, welche Möglichkeiten ein Strafverteidiger hat, wenn das Gericht die wörtliche Protokollierung nicht anordnet und einen zunächst mündlich gestellten Antrag der Verteidigung zurückweist.

M.E. bleibt der Verteidigung dann nur die Möglichkeit, den Antrag schriftlich zu stellen (bzw. die erfolgte Ablehnung anzufechten) und als Anlage zu Protokoll zu geben. Der Antrag muss dann das mündliche Gutachten wörtlich enthalten und begründet sein. Darauf könnte dann die Verfahrensrüge gestützt werden. 

WR Kolos schrieb:

[

Ich weiß nicht, wie man das Revisionsgericht dazu bringen könnte, das tatrichterliche Urteil anhand des (Wort-) Protokolls rekonstruieren zu wollen/dürfen.

Leitsatz zu BGH 1 StR 58/01 - Beschluß v. 3. April 2001:

...

 

2. Allerdings kann mit einer Verfahrensrüge beanstandet werden, das Tatgericht habe sich mit einer gemäß § 273 Abs. 3 Satz 1 StPO wörtlich niedergeschriebenen, verlesenen und genehmigten Aussage nicht auseinandergesetzt, obwohl deren Würdigung geboten gewesen sei (§ 261 StPO; BGHSt 38, 14). 

 

Voraussetzung also ist das Wortprotokoll mit dem V.u.g.-Vermerk. Die Frage ist, welche Möglichkeiten ein Strafverteidiger hat, wenn das Gericht die wörtliche Protokollierung nicht anordnet und einen zunächst mündlich gestellten Antrag der Verteidigung zurückweist.

M.E. bleibt der Verteidigung dann nur die Möglichkeit, den Antrag schriftlich zu stellen (bzw. die erfolgte Ablehnung anzufechten) und als Anlage zu Protokoll zu geben. Der Antrag muss dann das mündliche Gutachten wörtlich enthalten und begründet sein. Darauf könnte dann die Verfahrensrüge gestützt werden. 

 

Theoretisch sehr gut - praktisch kaum machbar. Ich habe das einmal versucht, nachdem am 1. HV-Tag alle Protokollierungsanträge abgeschmettert worden waren, hatte ich Vordrucke erstellt - die alles enthielten, außer die zu zitierenden Zeugenaussagen. Ich kam aber einfach nicht mit - konnte nicht so schnell lesbar schreiben, wie die Zeugen sprachen....

 

Man muss erkennen, dass die Rechtspraxis und die Gesetze auf ein Verdunklung der HV-Inhalte ausgerichtet sind, dass richterlicher Willkür ganz gezielt der rote Teppich ausgerollt wird.

 

Das muss geändert werden, mittels Gesetzesänderungen!

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Wirre Konstruktion der Hauptverhandlung und des mündlichen GA

WR Kolos schrieb:

M.E. bleibt der Verteidigung dann nur die Möglichkeit, den Antrag schriftlich zu stellen (bzw. die erfolgte Ablehnung anzufechten) und als Anlage zu Protokoll zu geben. Der Antrag muss dann das mündliche Gutachten wörtlich enthalten und begründet sein. Darauf könnte dann die Verfahrensrüge gestützt werden. 

Die wirre Konstruktion der Hauptverhandlung habe ich erst in jüngster Zeit - mehr nebenbei - entdeckt. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das "Recht" tatsächlich so "rechtens" sein kann.  Das bestärkt mich immer mehr in der Haltung, dass man das Recht unter keinen Umständen den JuristInnen überlassen darf.  Die HV erscheint doch in wesentlichen Teilen absurdes, aber viel mehr noch sophistisches Theater. Dass Protokollierung der wesentlichen Inhalte nicht von Gesetzes wegen Pflicht ist erscheint mir ungeheuerlich. Offensichtlich will man bei Revisionen gar keine Kontrolle, man spielt Kontrolle. Das überwiegend rechtlich ungebildete Volk glaubt das auch noch. Das entscheidende mündliche Gutachten bleibt offenbar inhaltlich gänzlich außen vor. Besonders widersinnig ist auch die Konstruktion, das mündliche GA in der HV ohne Untersuchung zu erstellen. Auf das schriftliche kann sich der GA ja nicht berufen, wenn es nicht verlesen oder berichtet wurde. Damit können die ja machen, was sie wollen. Der größte Hohn ist allerdings die Formel "Im Namen des Volkes". 

Wer in Gottes Namen denkt sich nur solch einen sophistischen Unsinn aus!?

 

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Rudolf Sponsel schrieb:

 

Wer in Gottes Namen denkt sich nur solch einen sophistischen Unsinn aus!?

 

 

Des woarn´d Preißn!

Allerdings nicht "in Gottes Namen" und ganz gewiss nicht "im Namen des Volkes".

Der heutige § 273 unterscheidet sich kaum von dem der StPO von 1877.

Protokollierung mündliches Gutachten

WR Kolos schrieb:

Ich weiß nicht, wie man das Revisionsgericht dazu bringen könnte, das tatrichterliche Urteil anhand des (Wort-) Protokolls rekonstruieren zu wollen/dürfen.

Ein Wortprotokoll scheint mir da nicht unbedingt nötig. Aber die wesentlichen Sachverhalte nach der allgemeinen Beweisregel, Schritt für Schritt zu zeigen, wie man vom Anfang zum Ende kommt:

1) symptomrelevante Daten des Erleben und Verhaltens nach Regeln R1

2) Symptome nach Regeln R1

3) Syndrome nach Regeln R2

4) Befund nach Regeln R4

5) Diagnose nach Regeln R5

6) Kausale Beziehung zwischen Befund und mutmaßlichen Tathandlungen nach Regeln R6

1 und 6 fehlt meistens in den derzeitigen forensisch-psychiatrischen Gutachten, typisch etwa im Fall Mollath. Die ICD-Diagnosen sind in aller Regel unvollständig.

Das sollte auf 1-2 Seiten verdichtet darzustellen sein. Die RichterInnen sähen dann auch gleichzeitig, wo die Lücken und Löcher sind, vorausgesetzt, sie wollen es sehen, was aller Wahrscheinlichkeit nicht der Fall ist. RichterInnen wollen urteilen, und da stört die Wissenschaft und der gesunde Menschenverstand. Es ist vermutlich ein Irrtum zu glaube, RichterInnen wollten die Sachverständigen anleiten und kontrollieren. Und wo kein Wille ist, frei nach der Bibel, ist bekanntlich auch kein Weg. Das Rechtssystem ist in einigen wesentlichen Punkten wurmstichig. Ich sehe tendenziell nur eine Lösung: Das Recht darf nicht den Juristen überlassen bleiben. Abschotten, Hinterzimmergeheimniskrämerei, Intransparenz, Inzucht, ... kann wohlverstandenes Recht nicht fördern.

 

 

 

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Rudolf Sponsel schrieb:

Protokollierung mündliches Gutachten

WR Kolos schrieb:

Ich weiß nicht, wie man das Revisionsgericht dazu bringen könnte, das tatrichterliche Urteil anhand des (Wort-) Protokolls rekonstruieren zu wollen/dürfen.

Ein Wortprotokoll scheint mir da nicht unbedingt nötig. Aber die wesentlichen Sachverhalte nach der allgemeinen Beweisregel, Schritt für Schritt zu zeigen, wie man vom Anfang zum Ende kommt:

 

 

Wen meinen Sie mit "man"? Den Sachverständigen oder das Gericht? Es ist vor allem darauf zu achten, dass in die Darstellung noch keine richterliche Beweiswürdigung einfließt.

Vielleicht könnten wir uns darauf einigen, dass der Nachweis über den Inbegriff der HV nur mit dem Sitzungsprotokoll geführt werden sollte. Was also im Protokoll nicht steht, hat auch im Urteil nichts verloren. Umgekehrt, was im Protokoll steht, muss sich auch im Urteil wiederfinden. Anderenfalls könnte es mit der Prozessrüge in er Revision gerügt werden.

Das Reich der richterlichen Willkür wäre dadurch deutlich geschwächt, denke ich.

WR Kolos schrieb:

Vielleicht könnten wir uns darauf einigen, dass der Nachweis über den Inbegriff der HV nur mit dem Sitzungsprotokoll geführt werden sollte. Was also im Protokoll nicht steht, hat auch im Urteil nichts verloren. Umgekehrt, was im Protokoll steht, muss sich auch im Urteil wiederfinden. Anderenfalls könnte es mit der Prozessrüge in er Revision gerügt werden.

Das Reich der richterlichen Willkür wäre dadurch deutlich geschwächt, denke ich.

 

Ich, man könnte es sehr einfach haben: Vorschrift, dass Gutachten schriftlich erstattet werden müssen, Vorschrift, dass Zeugenaussagen in Form von Wortprotokollen erhoben werden müssen, Vorschrift, dass das Urteil nicht auf Tatsachenbehauotungen gestützt sein dürfe, die sich im HV-Protokjoll nicht wieder finden.

 

Als Problematisch sehe ich ich es an, vorschreiben zu wollen, dass im HV-Protokoll nur Dinge zu finden sein dürften, die im Urteil auch Verwendung fänden. Das würde frühzeitige Wertungen des Gerichts voraussetzen, zu denen es in der Phase der Beweisaufnahme nicht in der Lage sein kann.

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Gast schrieb:

 

..., man könnte es sehr einfach haben: Vorschrift, dass Gutachten schriftlich erstattet werden müssen, ..

 

 

Die Akten und das in den Akten befindliche Gutachten sind der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht zugänglich, sondern nur der "Inbegriff der Verhandlung" (§ 261 StPO). 

 

Gast schrieb:

 

Als Problematisch sehe ich ich es an, vorschreiben zu wollen, dass im HV-Protokoll nur Dinge zu finden sein dürfen, die im Urteil auch Verwendung fänden.

 

 

Aber das will doch niemand. Jedenfalls ist das nicht mein Vorschlag.

WR Kolos schrieb:

Gast schrieb:

 

..., man könnte es sehr einfach haben: Vorschrift, dass Gutachten schriftlich erstattet werden müssen, ..

 

 

Die Akten und das in den Akten befindliche Gutachten sind der freien richterlichen Beweiswürdigung nicht zugänglich, sondern nur der "Inbegriff der Verhandlung" (§ 261 StPO). 

Könnte man ganz leicht ändern, und im Grunde fordern Sie doch auch, dass alles, worauf das Gericht sich stützt, in das HV-Prot gehöre!

 

WR Kolos schrieb:

 

Gast schrieb:

Als Problematisch sehe ich ich es an, vorschreiben zu wollen, dass im HV-Protokoll nur Dinge zu finden sein dürfen, die im Urteil auch Verwendung fänden.

 

Aber das will doch niemand. Jedenfalls ist das nicht mein Vorschlag.

Nein?  Dann verstehe ich das Folgende nicht

 

"Umgekehrt, was im Protokoll steht, muss sich auch im Urteil wiederfinden. Anderenfalls könnte es mit der Prozessrüge in er Revision gerügt werden."

 

 

 

 

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@„Gott“
In der Tat. Jede mündliche Abiturprüfung wird besser protokolliert. Das kann so nicht bleiben. Wenn nicht mehr nachvollziehbar ist wie ein Urteil zustande kam ist doch im Kern gar nicht protokolliert.

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Ergebnis der Beweisaufnahme entspricht dem Befund

Vergleicht man das psycho-pathologische Vorgehen mit dem juristischen, so entspricht dem psycho-pathologischen Befund das Ergebnis der Beweisaufnahme.

So gesehen ist doch klar, daß in jedes Urteil, in jeden Beschluss oder in ein Protokoll der HV ein Abschnitt gehört mit dem Titel: "Ergebnis der Beweisaufnahme", und zwar vollständig. Daran schlösse sich dann ganz natürlich die "Beweiswürdigung" an.

Inwieweit ist das so?

Ich habe den Eindruck, die Inhalte stehen bislang fragmentarisch im Urteil oder Beschluss, die formalen Verfahrenselemente (bis auf "Verständigungen", d.h. Absprachen, Deals) im Protokoll, wobei es keine obligatorischen Inhalte gibt.

Ich verstehe nicht, wie etwas so Fundamentales wie Ergebnisse der Beweisaufnahme nicht explizit und obligatorisch dargelegt werden müssen. Das wäre dann ja wie ein Gutachten ohne Befund.

 

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Rudolf Sponsel schrieb:

So gesehen ist doch klar, daß in jedes Urteil, in jeden Beschluss oder in ein Protokoll der HV ein Abschnitt gehört mit dem Titel: "Ergebnis der Beweisaufnahme", und zwar vollständig. Daran schlösse sich dann ganz natürlich die "Beweiswürdigung" an.

Inwieweit ist das so?

 

Das ist überhaupt nicht so. Prozesstechnisch sind sachverständige Zeugen (Gutachter aller Fachrichtungen) Zeugen wie alle anderen auch. Ob das Gericht Aussagen von Zeugen protokolliert und wenn, wie weitgehend, ist vollständig dem Gericht überlassen.

Im Internet kann man über einen Mordprozess aus NRW nachlesen, der von einer außergewöhnlich gründlichen Prozessberichterstattung begleitet war. Gleich zwei erfahrene Prozessberichterstatter zitieren kriminaltechnische Untersuchungsergebnisse, die ein vom Gericht geladener Kriminaltechniker vom LKA NRW vorgetragen hatte.

 

Diese Untersuchungsergebnisse passten nicht zu dem Tatverlauf, auf den alles eingeschworen war. Im Urteil verdrehten die Richter dann einfach die Aussagen des Sachverständigen und erklärten zudem praktisch, ein unter einer mit einem Kabel gedrosselten Leiche gefundenes Kabelstück müsse vom Himmel gefallen sein: Keiner habe es hergebracht, aber es war da!

Es steht zu fürchten, dass Gerichte bereits prophylaktisch so wenig protokollieren, wie eben möglich, also inhaltlich gar nichts, um sich ihre "Spielräume" nicht einzuengen.

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#40 Gast

 

Von Schlafen kann keine Rede sein.

 

Gesetzesänderungen dauern meistens lange.

 

http://blog.beck.de/2013/11/27/das-groko-strafrecht-unter-der-lupe

 

9. Unterbringung nach § 63 StGB und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

"Wir reformieren das Recht der strafrechtlichen Unterbringung in psychiatrischen Krankenhäusern, indem wir insbesondere dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stärker zur Wirkung verhelfen. Hierzu setzen wir eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe ein."

Hier findet sich also der Fall Mollath wieder. Eine Reform scheint dringend notwendig. Aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird bereits jetzt direkt VOR § 63 StGB gesetzlich betont. Eine weitere Konkretisierung (Fristenregelung, siehe hier) ist sicherlich zu begrüßen. Aber als einzige Reaktion auf Fälle wie „Mollath“ ist das zu wenig!

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Da fehlt aber doch ein Kernstück der Erfahrungen mit dem Fall Mollath, nämlich das Gutachterwesen.
Wie kann in Zukunft verhindert werden, dass sich ein Richter einen ihm passenden Gutachter wählt? Wie kann verhindert werden, dass ein evtl. hinzugezogener Zweitgutachter nicht korrekt nach seinem Befund urteilt, sondern auf den Erstgutachter schielt, dem er nicht schaden will? Wie kann man verhindern, dass Leute, die wirtschaftlich davon abhängig sind, überhaupt Gutachteraufträge bekommen? Statt, wie Dr. Simmerl, hauptberuflich Menschen zu helfen und höchstens mal nebenbei ein Gutachten zu machen?
Und als laienhafter Mitleser hier frage ich mich immer noch wie zum Teufel es möglich sein kann Eberl und Leipziger keinen Vorsatz zuzusprechen? Ein Gutachter, der vor dem Ausfertigen seines Gutachtens weiteres Belastungsmaterial sozusagen bei der Polizei bestellt - und das ohne „Vorsatz“? Bei den sophistischen Pirouetten des Attestes habe ich schon geschluckt. Aber hier ist sozusagen das Glas leer.

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http://www.synapse-redaktion.de/synapseforum/

Es diskutieren…
Dr. med. Hanna Ziegert, Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie sowie Fachärztin für psychotherapeutische Medizin…
Dr. med. Friedrich Weinberger, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie…
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klemens Dieckhöfer, Professor für Neurologie und Psychiatrie sowie für Geschichte der Medizin an der Universität zu Bonn…
Ministerialrat Dr. jur. Wilhelm Schlötterer, Verwaltungsjurist und Buchautor…

…mit den Medizinstudierenden Münchens!

Moderation:
Nils Engel, Chefredakteur der Synapse, Zeitschrift der Medizinstudierenden Münchens

 

 

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