§ 211 StGB - Mord - einfach aus dem Gesetz streichen?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 17.01.2014

Der Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins (DAV) ist heute mit einem Vorschlag an die Öffentlichkeit getreten, der für Diskussionen sorgen sollte.

Der Entwurf lautet:

"§ 211 StGB entfällt

§ 212 StGB Tötung

Wer einen Menschen tötet, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren oder mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.

§ 213 StGB minder schwere Fall der Tötung

Im minder schweren Fall der Tötung ist die Freiheitsstrafe ein bis zehn Jahre"

(Quelle)

Verfahrensrechtlich wird zudem bei Tötungsdelikten eine zweiteilige Verhandlung (formelles Schuldinterlokut) vorgeschlagen, so dass die Tataufklärung deutlich von der Verhandlung über die Strafzumessung getrennt werde.

So sehr die Kritik an der noch aus nationalsozialistischer Zeit stammenden tätertypologischen Formulierung des derzeitigen § 211 StGB ("Mörder ist..") und § 212 StGB ("...wird als Totschläger ...") und an den derzeitigen Mordmerkmalen zutrifft, so verwundert doch der radikale Schritt in diesem Vorschlag, zwischen verschiedenen Tötungsfällen die ganze Bandbreite von einem Jahr bis zu lebenslanger Freiheitsstrafe zuzulassen, ohne jegliche konkretere gesetzliche Merkmale anzugeben. Dies wird v.a. damit begründet, dass jeder Einzelfall so verschiedene Aspekte in sich vereine, dass abstrakte gesetzliche Vorgaben nicht sinnvoll seien.

Der DAV will damit die Ausbildung näherer Strafzumessungskriterien in Tötungsfällen allein der richterlichen Rechtsfortbildung überlassen. Hier wird "erwartet", dass sich Fallgruppen herausbilden werden. Der völlige Verzicht auf gesetzliche Vorgaben hinsichtlich einer Differenzierung zwischen schweren Fällen der vorsätzlichen Tötung (bislang: "Mord") und "normalen" bzw. "minder schweren Fällen" wird damit begründet, dass so ein Legitimationsgewinn gegenüber der starren Vorgaben des § 211 StGB und "seiner nur vorgetäuschten Genauigkeit" erzielt werden könne.

In der ausführlicheren (sehr lesenswerten) Erläuterung wird auf den tatsächlich längst überfälligen Reformbedarf der Tötungstatbestände hingewiesen und auf bisherige Reformvorschläge eingegangen.

Merkwürdigerweise wird dabei gegen frühere Vorschläge, mit denen die Regelbeispielstechnik bei den Tötungsdelikten eingeführt werden sollte, u.a. mit Argumenten gestritten, die noch viel eher  gegen den jetzigen Vorschlag des DAV sprechen. So sei an der Regelbeispielstechnik zu kritisieren, dass das Bestimmtheitsgebot umgangen werde. Dass dem Bestimmtheitsgebot aber besser genügt wird, wenn man auf jegliche gesetzliche Vorgabe verzichtet und einfach darauf vertraut, dass sich das Recht in der Praxis von selbst in die vom DAV gewünschte Richtung entwickelt, wage ich zu bezweifeln. Der Verzicht auf jegliche Vorgabe wird nach meiner Einschätzung eher zu einer Zementierung der bisherigen praktischen Kasuistik der Mordmerkmale führen (nunmehr ohne am Gesetzeswortlaut zu "kleben")  als dazu, dass nun die Landgerichte und der BGH ganz neue Überlegungen anstellen. Wenn man - wie der DAV wohl zu Recht - die "niedrigen Beweggründe" generell als Merkmal für verfehlt hält, dann sollte dies auch im Gesetz zum Ausdruck kommen. Man wird also m. E. bei einer - nötigen! - Reform der Tötungsdelikte nicht umhin kommen, für die jeweilige Richtung (schwere und minder schwere Tötungsfälle) gesetzliche Kriterien zu formulieren.

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71 Kommentare

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Medienberichten zufolge soll der neue Bundesjustizminister angeblich gesagt und kritisiert haben, § 211 StGB strafe nicht bestimmte Taten, sondern strafe (bestimmte) Menschen (Täter), und müsse (oder solle) daher geändert werden.

Ich weiß nicht, ob der Bundesjustizminster von den Medien tatsächlich richtig verstanden und richtig wiedergegeben worden ist (sondern habe daran vielmehr meine Zweifel).

Jedenfalls hört man gelegentlich von manchen Strafrichtern, Staatsanwälten, Rechtsprofessoren, Rechtspolitikern, und anderen mit dem Strafrecht befassten Berufsträgern, daß das Strafrecht nur die Straftat bestrafen soll, aber nicht den Straftäter.

Diese Aussage provoziert mich zu ein wenig Polemik, die hier, da sie hier ohne weiteres als Polemik erkennbar und auch nicht etwa bösartig ist, zwecks Erleichterung der Verdeutlichung und Veranschaulichung meiner Einwände und Bedenken hier bitte erlaubt sein mag:

Wie bitteschön will man denn eine Straftat bestrafen? Will man die Straftat einfangen, in einen Sack stecken, und draufprügeln, oder von der Tat eine Geldzahlung verlangen, oder die Tat ins Gefängnis stecken? Oder will man die Tat durch übernatürliche Kräfte verfluchen oder verdinglichen?

Sowas klingt doch sehr nach Schilda und den Schildbürgern! Die versuchten ja bekanntlich, Licht in Säcken zu transportieren.

Man kann eine Straftat nicht bestrafen. Sobald die Straftat vollendet ist, existiert sie nicht mehr. Und Handlungen haben auch nichts, andem man mit einer Strafe ansetzen könnte.

Bestrafen kann aufgrund naturwissenschaftlicher und logischer unabänderbaren Vorbedingungen nur die Straftäter, also nur Menschen. 

Manch ein mit dem Strafrecht befasster Berufsträger mag sich das vielleicht nicht eingestehen wollen, weil es doch irgendwie unvornehm und hart und politisch nicht korrekt klingt, wenn jemand sagt oder zugibt, daß er Menschen bestraft.

Aber es ist nun mal so, das Menschen (in der Regel für ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten) bestraft werden, und daran ändert man in der Realität nun auch mit Euphemismus überhaupt gar nichts.

Wenn aber also nicht Taten bestraft werden, sondern vielmehr Menschen, die Taten begangen haben, ist es dann nicht auch ehrlicher und konsequenter, wenn das Strafrecht zugibt, bestimmte Täter und somit bestimmte Menschen zu bestrafen?

Und wenn Strafen spezialpräventive Wirkungen haben sollen, ist es dann nicht sogar geboten, die Strafe und das Strafgesetz nicht (nur) nach der Tat, sondern vielmehr (auch) nach dem Täter auszurichten?

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@Lutz Lippke:
Die Zahl 25 % Fehlurteile (nicht: unschuldig Verurteilte) beruht auf einer belegfreien Schätzung des RiBGH Eschelbach. Was er da alles einrechnet (fehlerhafte Freisprüche, fehlerhafte Schuldsprüche, fehlerhaftes Strafmaß, fehlerhafte Nebenentscheidungen über Verfall, Einziehung oder Adhäsion) weiß kein Mensch, weil er  jedenfalls meines Wissens nirgendwo erläutert, was genau er mit seiner Angabe meint. 

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@Nochsoeingast am 09.02.2014

Herzlichen Dank für die Korrektur bzw. Präzisierung der 25 %-Vermutung. Sicher hatte ich diese Schätzung etwas unscharf wiedergegeben.

40/1000  oder 40/10.000 ?

Aber gegenüber dem Anteil von 0,01 % vollendeter Tötungsdelikte an der Gesamtkriminalität (Angabe der DAV in http://www.anwaltverein.de/downloads/DAV-SN1-14.pdf) würden selbst nur 2,5 % unschuldig Verurteilte ein Verhältnis von 1000 Unschuldigen hinter Gittern zu 40 Tötungen ergeben. Während man sich also derzeit mit der "besseren" Systematik, dem Design des Mordparagraphen beschäftigt, sitzen möglicherweise Tausende im Gefängnis, die da nicht hingehören oder jedenfalls kein ordentliches Verfahren bekamen. Und es kommen täglich Unschuldige hinzu.

Was zählen 1000 Unschuldige?

Nun könnte man auch den Wert 2,5 % bezweifeln. Man könnte aber auch Evaluieren, wie Justizministerin a.D. Däubler-Gmelin unlängst in der ARD vorschlug. Sie bezog sich auf frühere Untersuchungen des anerkannten Strafrechtlers Klaus Peters zu Fehlerquellen im Strafprozess, die nach ihrer Aussage wegen "Geldmangel" vom Staat nicht fortgeführt wurden. Was tun eigentlich die Rechtswissenschaften?

Evaluierung - eine Kostenfrage?

Bei derzeit 90.000 Tagen Haftentschädigung a 25 € im Jahr (Aussage des MdB und Juristen Bosbach in der ARD), komme ich schon ohne den Gerichts- und Verwaltungsaufwand auf 2.250.000 €. Angenommen man könnte mit der Evaluierung und Verbesserung des Strafprozesses Fehlurteile um die Hälfte reduzieren, es würden mindestens 1.125.000 € eingespart. Sind 1.125.000 € für Untersuchungen zu wenig?

(Un)menschliches!

Fast schon zynisch habe ich die Leiden Unschuldiger, die zukünftig auch nach dem "reformierten" Tötungsparagraphen einsitzen, nicht erwähnt. Aber dies nur deshalb, weil moralische Argumente in einer zynischen Justiz und Rechtspolitik kaum gehört werden. Denn das ist "Law made in Germany" - der neue Exportschlager und Standortvorteil Deutschlands. Wenn es nicht so grausam und gefährlich wäre, könnte man sich totlachen.

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§ 211 StGB enthält keineswegs nur täterbezogene Mordmerkmale, sondern vielmehr durchaus auch tatbezogene Mordmekrmale.

Und zur Geschichte des deutschen Strafrechts im Hinblick auf Tötungsdelikte sei es erlaubt auf folgendes hinzuweisen:

Schon im alten deutschen Recht unterschied man wohl neben dem Totschlag die Tötung mit Vorbedacht, eine Tötung in Heimlichkeit, zur Nachtzeit, aus Gewinnsucht, usw. (so jedenfalls unter anderem: Joecks, Studienkommentar StGB, 4. Auflage 2003, Rn 1 zu § 211 StGB).

Der Mord machte ehrlos, der Mörder starb am Rade, während der Totschläger meist die nicht entehrende Schwertstrafe beanspruchen konnte (s.o.).

Auch das Allgemeine Landrecht (ALR) kannte den Totschlag mit Vorbehalt als Mord (II, 20, § 826 ALR).

Ein weiterer Fall des Mordes war z.B. die Verwendung schwer zu entdeckender Mittel oder Gift (§§ 839 ff. ALR).

Das preußische Strafgesetzbuch (PrStGB) von 1851 erfasste in § 175 den Mord als eine vorsätzliche und mit Überlegung ausgeführte Tötung; diese Regelung ging als § 211 in das StGB ein (s.o. = Joecks a.a.O.).

Daneben bestanden weitere Qualifikationen, insbesondere die Tötung zur Ermöglichung einer Straftat (§ 178 PrStGB, § 214 a.F. StGB).

Die im heutigen StGB enthaltenen Mordmerkmale werden in der ständigen gerichtlichen Praxis restriktiv ausgelegt.

Dies hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung BVerfGE 45,187 seinerzeit auch gefordert. 

Das Bundesverfassungsgericht hat den § 211 StGB aber gerade eben nicht für verfassungswidrig erklärt.

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Manche der aufgeregten Reformbefürworter sagen, bei der Strafbarkeit von Tötungen sollten Motive und Beweggründe zukünftig keine Rolle mehr spielen, weil es nicht zu rechtfertigen sei, auf Motive und Beweggründe abzustellen.

Dabei verkennen sie aber wohl doch, daß nicht nur im § 211 StGB, sondern vielmehr in zahlreichen Rechtsvorschriften auf die Motive und Beweggründe der Handelnden abgestellt wird (unter anderem auch in den §§ 213 und 215 StGB).

Wollen diese aufgeregten Reformer jetzt also (konsequenterweise) alle diese Vorschrigten abschaffen (oder wie auch immer "reformieren")?

Und verkennen diese Reformer nicht, daß gerade von den Motiven und Beweggründen oft die besondere Gefährlichkeit der Täter ausgeht?

Ein bezahlter Berufskiller, der wegen seiner Bezahlung mordet, bei dem also Habgier das Motiv ist, ist der etwa nicht besonders gefährlich?

Oder ein Neo-Nazi, der aus Rassenhass tötet, ist der nicht etwa besonders gefählich?

Merkwürdigerweise verlangen manche dieser Reformer an anderer Stelle gerade die Einführung sogenannte "Hate-Crimes", also von zusätzlichen Straftatbeständen oder Qualifikationen oder besonders schweren Fällen, wenn eine Straftat aus Hass begangen wird.

Das erscheint mit alles sehr inkonsequent und unausgegoren.

Ebenso dem Zeitgeist geschuldet erscheint es mir, daß die These, daß Frauen, die Männer töten, angeblich Opfer eines NS-Strafrechts (welches § 211 StGB darstellen soll) sein sollen (weil Männer angeblich "Haustyrannen" seien - während weibliche "Haustyrannen" in diesen politisch korrekten Vorstellungen wohl nicht vorgesehen sind), während Männer, die Frauen töten, angeblich durch NS-Strafrecht privelegiert würden.

Da schimmert aber doch wohl Ideologie (unter anderem vielleicht auch Feminismus?) und Stimmungsmache und Lust an Empörung und Zeitgeist und "political-correctness" als Motiv einiger der Reformbefürworter durch, oder etwa nicht?

Und will man wirklich ernsthaft allen Richtern, die bisher Strafen nach § 211 StGB ausgesprochen haben, und allen Staatsanwälten, welche Mord angeklagt haben, wirklich ernsthaft vorwerfen, sie hätten damit NS-Unrecht praktiziert?

Ist die (von manchen Politikern der Partei "Die Linke" erhobene sinngemäße) Behauptung, § 211 StGB stelle angeblich NS-Unrecht dar, nicht vielmehr ein "Totschlagargument", mit dem man ganz einfach Menschen, die eine andere Meinung vertreten, als vermeintliche Nazis verleumdnen und zu verstummen zwingen will?

Politische Verdächtigungsbereitschaft, Lust an der Verurteilung und Verunglimpfung Andersdenkender, das Schüren von desgleichen, sowie Angst und Aufgeregtheit und Hysterie und Empörung, und political-correctness, sind allesamt keine guten Ratgeber.

Das gilt bereits schon im Alltag für Jedermann.

Und erst Recht gilt das für einen Gesetzgeber.

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Andreas schrieb:

 

Ist die (von manchen Politikern der Partei "Die Linke" erhobene sinngemäße) Behauptung, § 211 StGB stelle angeblich NS-Unrecht dar, nicht vielmehr ein "Totschlagargument", mit dem man ganz einfach Menschen, die eine andere Meinung vertreten, als vermeintliche Nazis verleumdnen und zu verstummen zwingen will?

 

Bei Gruenwald hab ich gelernt, dass es hier um die Lehre vom normativen Taetertyp geht. Die wohl typisches Nazi-Denken war, ,mag die Formulierung der Tatbestaende auch kein typisches NS-Unrecht gewesen sein, denn dann gaebe es diese Regelung sicher nicht mehr.

 

Es kommt wohl nicht auf die Gefaehrlichkeit an, sondern eher nur den mit Ueberlegung herbeigefuehrten Erfolg. Wenn einer tot ist, kann es ihm egal sein, warum. Alles andere ist nur erweitertes Polizeirecht. Man sollte nicht positiv auf "niedrige Beweggeruende" abstellen, sondern allenfalls negativ, wobei der "Haustyrann" vielleicht doch eher der "Scheidung auf Italienisch" entspricht, die es schon bei den alten Roemern gab.

 

Rechtsgeschichte ist gar nicht so uebel, gerade wenn man systemtheoretisch denkt. Es klingt zwar etwas schraeg, das System sich auf Kosten von Menschen auspendeln zu lassen. So geschieht es aber sowieso, wobei es wohl besser ist, wenn die Opfer dieses Verfahrens nicht so genau erfahren, wie ueber sie in Hoersaelen gesprochen wird. "Noch vertretbar" interessiert einen "Knacki" nicht, sondern allenfalls richtig oder falsch.

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Sehr geehrter Herr Lippke,

Sie schrieben:

Bei derzeit 90.000 Tagen Haftentschädigung a 25 € im Jahr (Aussage des MdB und Juristen Bosbach in der ARD), komme ich schon ohne den Gerichts- und Verwaltungsaufwand auf 2.250.000 €. Angenommen man könnte mit der Evaluierung und Verbesserung des Strafprozesses Fehlurteile um die Hälfte reduzieren, es würden mindestens 1.125.000 € eingespart. Sind 1.125.000 € für Untersuchungen zu wenig?

Auch wenn Ihre Empörung verständlich ist, und auch wenn die Entschädigungssumme mit 25 Euro/Tag viel zu gering ist, muss ich Sie doch in einem Punkt korrigieren: Die gezahlte Haftentschädigung bezieht sich nicht primär auf "unschuldig Verurteilte", sondern auf zu Unrecht erlittene U-Haft und vorläufige Unterbringung - der Wikipedia-Artikel ist insofern falsch (NB: ich habe aufgegeben, bei Wikipedia etwas zu verbessrern, weil dort regelmäßig eifersüchtige Admins die Korrektur sofort wieder rückgängig machen). Es lässt sich leider nicht ganz vermeiden, dass strafrechtliche Ermittlungen zunächst auch Personen treffen, die nur verdächtig sind, bei denen der Verdacht sich dann aber nicht bestätigt. Die U-Haft ist dann praktisch ein "Sonderopfer", das der Betroffene für die Strafrechtspflege unfreiwillig erbringt. Selbst mit dem besten Strafrecht und den besten Juristen der Welt wird man das nicht ganz ausschließen können.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Müller,

herzlichen Dank auch für diesen Hinweis. Als Jemand, der nicht nur früher genötigt war "zwischen den Zeilen zu lesen", halte ich Ihren Kommentar auch ansonsten für aufschlussreich. Ich möchte Ihnen und Ihren Studenten anbieten, gemeinsam die Unklarheiten zu beseitigen. Es wären wohl die Fakten bis in Details zu ermitteln, das Dunkelfeld abzuschätzen und Hypothesen / Schlussfolgerungen zu zumutbaren Sonderopfern und der Qualität des Strafrechts und der Juristen abzuleiten. Dies könnte der Beginn einer rechtswissenschaftlichen Aufklärung sein, deren Möglichkeit wohl der Strafrechtler Julius von Kirchmann noch 1847 anzweifelte. http://fama2.us.es/fde/ocr/2006/werthlosigkeitDerJurisprudenz.pdf

Ziel von Wissenschaft ist m.E. grundlegend das immer bessere Verstehen und Nutzen von Ursachen, Zusammenhängen und Wirkungen.

Im Gegensatz zu 1847, gilt heute offiziell das unumstößliche Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Grund- und Menschenrechten. Wodurch in diesem Rahmen das unfreiwillige Sonderopfer "Haft ohne Schuld" zum Discountpreis verursacht ist und  gerechtfertigt werden könnte, wäre zu erforschen. Mich erinnert es eher an "Supergrundrecht" und "Rettungsfolter". Der Umstand, dass der deutsche Staat Mörder oder unschuldig als Mörder Verurteilte nicht mehr umbringt, kann Untätigkeit aus moralischen und fiskalischen Gründen nicht entschuldigen.

Mit freundlichen Grüssen

Lutz Lippke

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f) Kritik an der geltenden Regelung

Das System muss reizbar bleiben für neue Sachverhalte. „Komplexe Gesellschaften benötigen ein gewisses Mass an Instabilität, um auf sich selbst und auf ihre Umwelt reagieren zu können.“68 Nach Massgabe der durch das System verursachten Strukturfestigkeiten erzeugt 

das System wieder Unsicherheit. Strukturbildung setzt Überraschung voraus, ist darauf angewiesen, dass die Erwartungen sich immer und immer wieder an zeitlich begrenzten Ereignissen messen können, und von daher muss auch immer ein Moment der Unsicherheit in den Erwartungen liegen, damit sie nicht immer nur enttäuscht oder befriedigt werden. Je häufiger die fixen und absoluten Mordkriterien sicher zur Mordqualifikation führten, desto mehr musste das System Unsicherheit in Form flexibler Tatbestände in seine Strukturen wieder einbauen. Auch die Zunahme an verschiedenen Sachverhalten, die verschieden betrachtet werden konnten, machte eine Flexibilisierung notwendig, da man nicht seitenlange Bestimmungen, die ihrerseits nur weitere Argumentationsprobleme ausgelöst hätten, im Gesetz haben wollte.

Die Flexibilisierung schlug sich ab 1942 teilweise, und ab 1990 vollständig in der Gesetzgebung nieder. Es herrscht denn auch tatsächlich Unsicherheit im Rechtssystem. Bisweilen wird die heutige Regelung explizit als rechtsunsicherheitsfördernd kritisiert.69 Ganz allgemein wird dafür gehalten, dass die Unterscheidung zwischen Mord und vorsätzlicher Tötung „utopisch“70 und „gescheitert“71 sei: eine „niemals wirklich befriedigend gelöste Schwierigkeit“.72

DISCHS Vorschlag für einen einheitlichen Art. 111 StGB, der die vorsätzliche Tötung und den Mord auf ein Problem der Strafzumessung reduzieren will, verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung:73 Der Autor schlägt objektive Kriterien vor, die in einem Einheitstatbestand der vorsätzlichen Tötung schwere Fälle qualifizieren. Die Kriterien dazu sind: „Tötung mehrerer, Tötung eines Kindes, grausame Tötung, gemeingefährliche Tötung.“74 Für „besonders schwere Fälle“ kann überdies die lebenslängliche Freiheitsstrafe verhängt werden. So soll dem Unterscheidungsproblem zwischen zwei Tatbeständen entgegnet werden. Auch dieser Vorschlag kann der Ausdifferenzierung des Rechts nichts entgegenhalten. Denn die qualifizierenden Merkmale bedürfen nicht nur genauer Auslegung (also Differenzbildung), überdies müssten wohl auch bald Ausnahmen vorgesehen werden. Die Generalklausel des geltenden Art. 112 findet sich überdies sinngemäss in der Formulierung „cas particulièrement grave“75 wieder. So böte auch der vorgeschlagene Gesetzestext dem Rechtssystem genügend Komplexität, die mit Hilfe reiner Rechtsbegriffe reduziert werden müsste.

STRATENWERTH beschreibt dieses Problem so: „Je genauer die Voraussetzungen umschrieben werden, unter denen eine vorsätzliche Tötung als Mord gelten soll, desto häufiger müssen sie durch Ausnahmen wieder eingeschränkt werden. Je allgemeiner das Gesetz sich ausdrückt, desto unbestimmter wird die Grenze zum Mord.“76 Das heutige Rechtssystem in seinem hohen Grad an Ausdifferenzierung verlangt entweder eine hohe 

Ausdifferenzierung des Gesetzestextes für einen so vielschichtigen Tatbestand wie den Mord, oder aber es müssen andere Möglichkeiten der Verunsicherung — wie etwa eine sehr offene Generalklausel — zur Verfügung gestellt werden, um der Komplexität des Rechts und der Umwelt gerecht werden zu können. Ein Verharren in einfachen Regeln ist nicht mehr möglich, würde zu viele ‚ungerechte‘ (nicht individuelle, nicht genügend ausdifferenzierte) Urteile produzieren. Das Rechtssystem würde so an innerer Konsistenz einbüssen, denn es besteht ja gerade auch daraus, was in der Gesellschaft unter dem Code recht/unrecht kommuniziert wird. Starre Regeln würden, da ihre Anwendung viel sicherer geworden ist (verglichen z.B. mit dem 18. Jahrhundert), zuwenig Unsicherheit produzieren, wären zuwenig reizbar für Veränderungen der Umwelt.

Die Alternative lautet also: konkrete Aufzählungen im Gesetz, die komplizierte Ausnahmeregelungen erlauben müssen, oder: die Delegation des Problems an Lehre und Rechtsprechung. Beide Lösungen garantieren ein hohes Mass an Unsicherheit. Aufzählungen und erst recht die Ausnahmen dazu stellen neue Interpretationsprobleme, also verschiedene Möglichkeiten der Argumentation und folglich Unsicherheit. Generalklauseln sind sowieso auslegungsbedürftig, was nur mit Argumentation wettgemacht werden kann. 

 

 

 

Aus eine Seminararbeit von Martin Beyeler "Bei Argumentation: Mord" (2000) bei Prof. Niggli

leider nicht mehr online

Faelle, die man mit "Scheidung auf Italienisch" zusammenfassen kann, die eher nicht "vorsaetzlich" im Sinne des alten Mordtatbestandes sind, was der Sache vielleicht noch immer am besten gerecht wird.

 

Man sollte in jedem Fall nicht so tun, als ob es noch etwas Schlimmeres als diese "vorsaetzliche" Toetung gaebe, und im Uebrigen alle dieser Faelle um des Rechtsgutes Leben wegen jedenfalls grundsaetzlich gleichbehandeln. Der Gesetzgeber kann vielleicht von Vorbedacht sprechen.

 

Viel schwieriger ist, die Faelle der "Scheidung aufr Italienisch", wo dieser "Vorbedacht jedenfalls nicht in erster Linie den Ausschlag gibt, treffend zu beschreiben. Kann man das der Rechtsprechung ueberlassen? Zu den Fehlerquellen faellt auch noch Egon Schneider im Anwaltsblatt 2000, zum Systemversagen im schriftlichen Verfahren im Zivilrecht, aber ueber kurz oder lang wird es sich vielleicht doch schon zeigen..

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Ich wuerde es jedenfalls weiterhin Mord und Totschlag nennen und den Mord als den Regelfall ansehen, so es schon Eberhard Schmidt getan haben soll. Nur das wird dem Rechtsgut leben gerecht. Motivationen sollten dabei gr8undssaetzlich keine Rolle spielen. Tot ist tot und mehr sollte man auch der NSU nicht vorwerfen. Wir sollten Gesinnungsstrafrecht verneiden. Wie wir auch nicht die NSU mit den deutschen Einserjuristen nach 33 und der real existierenden deutschen Regierung gleichsetzen koennen. Das wuerde vor allem die von Tucholski beschriebenen Verhaeltnisse verharmlosen. Bruder Eichmann! Vielleicht waeren gerade die, die heute Strassen besetzen, die ersten, die den Arm zum offiziellen damaligen Gruss gehoben haetten. (Schade, dass man nicht editieren kann.)

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Heiko Recktenwald schrieb:

Ich wuerde es jedenfalls weiterhin Mord und Totschlag nennen und den Mord als den Regelfall ansehen, so es schon Eberhard Schmidt getan haben soll.

 

 

Finde das fuer den Mord immer noch das wichtigste und man sollte sich vielleict, ohne sozusagen mit ueberschappendem Eifer irgendeine Schlechtigkeit des Menschen weiter zu beschwoeren, lieber einmal umgekehrt fragen, warum in bestimmten Faellen die Strafe weniger hart sein soll.

 

 

Die Roemer hatten ihre Scheidung auf Italienisch. Was wollen wir noch?

Heribert Prantl nennt den im obigen Beitrag kritisierten Gesetzentwurf des Anwaltvereins also "klug". Das wundert mich wirklich.

Was macht Kröber bei dieser Kommission??? Warum wird er noch so hoch geschätzt, trotz Freiheitsberaubung???

 

Weiß jemand wie die Anderen "ticken"?

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Ein Student schrieb:

Was macht Kröber bei dieser Kommission??? 

Seit ich mitverfolgt habe, wer alles als "Experten" in der Anhörung für das verfassungswidrige Genitalverstümmelungserlaubnisgesetz geladen wurde, wundert mich gar nichts mehr. Bismarck hatte doch Recht mit dem Wurst-Vergleich.

recktenwald schrieb:

Trotzdem ist die Dogmatik von Mord und Tatschlag meines Erachtens vollkommen verkorkst und es lohnt sich vielleicht einmal nachzuschauen, wie man es vor 1943 gemacht hat und im Ausland noch macht.

Bitte sehr:

Deutschland

Österreich, Schweiz, Frankreich

Vielen Dank! Hauptsache ist fuer mich, dass das Rechtsgut klar ist. Dass der Mord vor dem Totschlag kommt, ist also schon mal gut, auch wenn das aus dem kindlichen Grundtatbestand/Qualifikationsschema herausfaellt. Wie gesagt, die Roemer hatten dann eine Privilegierung, die ich "Scheidung auf Italienisch" nenne. Danach muesste man vorgehen. Also nicht nach Mordmerkmalen suchen, sondern nach Privilegierungsgruenden. Vielleicht ist dann auch ein weiter Strafrahmen eher ertraeglich. Sozusagen die Richtung des Denkens umdrehen. Will jetzt nicht Flexibilitaet und Offenheit predigen, aber im Zweifel ist die besser als irgendein Trick 17 mit Selbstueberlistung. Ohne Fallgruppen geht es eh nicht, aber man fragt sich mit Savigny, ob unsere Zeit usw.. Ein Jahr Mindeststrafe fuer eine vorsaetzliche Toetung wird der Sache jedenfalls auf den ersten Blick kaum gerecht. Nicht weil ich unbedingt Leute wegsperren will, sondern weil mir das Leben wichtiger ist.

Sehr geehrter Professor Dr. Henning Ernst Müller

mich wundert das nicht, da Herr Prantl trotz des unvermeidlichen Attributs "war mal Staatsanwalt und Richter" sich in seinen Artikeln meist weitab von jeder forensischen Praxis und rechtswissenschaftlichen Diskussion bewegt. Ich denke da an seine grottenfalsche Behauptung im Zusammenhang mit der Frage, ob das OLG München beim NSU-Prozess eine Videoübertragung in einen weiteren Raum wagen sollte. Da meinte er recht mutig, eine "Phalanx" von Rechtswissenschaftlern sehe darin überhaupt kein Problem und man solle sich nicht so anstellen. Nachdem die allgemeine Aufregung abgeebbt war und der Prozess lief, war im Wissenschaftsteil der SZ ein recht langer Artikel zu lesen, in dem Kommunikationswissenschaftler und Juristen zu Wort kamen, die deutliche Argumente gegen eine solche Übertragung fanden. 

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Sehr geehrtes Gaestchen,

oft stimme ich mit Herrn Prantl überein (in der NSU-Frage allerdings auch nicht). Dass man unterschiedlicher Auffassung ist, ist aber normal unter Juristen. Aber was mag er "klug" an einem Vorschlag finden, der nicht weit entfernt wäre von einer Regelungsverweigerung des Gesetzgebers? Der Vorschlag lautet ja praktisch: "Wer einen anderen tötet, wird mit mind. einem Jahr und höchstens mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." Das ist eigentlich das Gegenteil von "klug" - nämlich dumm.  Herr Prantl müsste wissen, dass mit einem solchen Vorschlag der (auch von ihm kritisierten) Absprachewillkür Tür und Tor geöffnet würde.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Trotzdem ist die Dogmatik von Mord und Tatschlag meines Erachtens vollkommen verkorkst und es lohnt sich vielleicht einmal nachzuschauen, wie man es vor 1943 gemacht hat und im Ausland noch macht.

 

Vor allem kann man vielleicht auch zum unteren Strafrahmen von einem Jahr unterschiedlicher Auffassung sein. Goethe und die Kindsmoerderin fallen ein. Es ist ja doch das hoechste Rechtsgut. Vielleicht ist nur der Beginn des Lebens zu verruecken. Vielleicht muss zu der Geburt noch eine Annahme durch die Mutter kommen, wie angeblich bei den Germanen. Man kann sich alles moegliche Unchristliche vorstellen, aber eine Relativierung des Rechtsgutes an sich sollte es nicht geben.

 

Prantl ist fuer mich lifestyle.

Letztlich wird es dann vielleicht doch so sein, dass wir jedenfalls tendenziell Faelle waehlen, wo der Toetungswille nicht so stark ist.

 

Und welche Differenzierung wuerden Opfer wollen?

 

Watum sollte mein Leben weniger geschutzt werden als das eines anderen? Was gehen die Besonderheiten der einzelnen Faelle den Staat ueberhaupt an?

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