Demnächst wird der BGH das Institut der "ungleichartigen Wahlfeststellung" vermutlich kippen

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 29.01.2014

Demnächst wird das Institut der "ungleichartigen Wahlfeststellung" (auch echte Wahlfeststellung genannt; genauer: gesetzesalternative Verurteilung, weil damit sprachlich schon das Problem nicht verdeckt sondern fixiert ist) wohl das Zeitliche segnen wie schon vor vielen Jahren das Institut des Fortsetzungszusammenhangs. Es scheint, dass die überzeugende Kritik von einigen wenigen Strafrechtswissenschaftlern (insbesondere Georg Freund „Nicht „entweder – oder", sondern "weder – noch" in Festschrift für Jürgen Wolter, 2013, Seite 35 ff) beim BGH nun Gehör gefunden hat. Sollte das eintreten, dann werden zumindest Modifikationen auch beim Institut der Postpendenz erfolgen müssen.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die Revision eines Angeklagten, der "wegen Diebstahls oder gewerbsmäßiger Hehlerei" in 19 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt worden war, die Verhandlung unterbrochen und bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob sie sich seiner Rechtsansicht anschließen, wonach die "ungleichartige Wahlfeststellung" gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit von Strafgesetzen (Art. 103 Absatz 2 Grundgesetz) verstößt. Es handle sich nicht nur um eine prozessuale Entscheidungsregel, sondern um eine sachlich-rechtliche Strafbarkeitsregel, die dem Gesetzesvorbehalt unterliege (Beschluss vom 28. Januar 2014 – 2 StR 495/12; die Beschlussgründe liegen noch nicht vor).

Bei der "ungleichartigen Wahlfeststellung" handelt es sich um eine in engen Grenzen bereits vom Reichsgericht anerkannte, auf richterlicher Rechtsfortbildung beruhende Rechtsfigur. Danach kann ein Beschuldigter "wahlweise", also wegen Verstoßes entweder gegen das eine oder gegen das andere Strafgesetz verurteilt werden, wenn nach Durchführung der Beweisaufnahme offen bleibt, welchen von beiden Tatbeständen er verwirklicht hat, und die Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass keiner von beiden erfüllt wurde. Entwickelt wurde diese Verurteilungsmöglichkeit ursprünglich für Fälle, in denen ungeklärt bleibt, ob ein Beschuldigter, bei dem gestohlene Sachen gefunden werden, diese selbst gestohlen (Diebstahl) oder von dem Dieb erworben hat (Hehlerei); beide Tatbestände schließen sich aus. Nach bisher ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann eine wahlweise" Verurteilung deshalb erfolgen, da beide Taten "rechtsethisch und psychologisch vergleichbar" seien.

Aus meiner Sicht ist das ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage allein richterrechtlich entwickelte Institut aufzugeben, das ich auch in Widerspruch zur Unschuldsvermutung sehe: „Wenn es keinen eindeutigen Tatvorwurf gibt, ist in einem rechtsstaatlichen Strafrecht ein Freispruch zwingend geboten“ (Freund aaO S. 59).

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9 Kommentare

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Sie glauben wirklich, dass der Große Strafsenat demnächst Herrn Fischer als neuem Messias huldigen und sich unter Tränen von einer jahrzehntelangen verfassungswidrigen Unrechtsjudikatur verabschieden wird??

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Begrüßenswert. Wenn der BGH sich jetzt auch noch von der Figur alic aufgibt, sind zwei der größten Sünden in der Strafrechtrechtssprechung beseitigt!

 

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Natürlich ist das auf bloßem Richterrecht beruhende Institut der Wahlfeststellung juristisch sehr problematisch.

Allerdings besteht sowohl für unser Gemeinwesen im Allgemeinen wie auch für die Strafrechtspflege im Besonderen gerade im Hinblick auf Straftäter, die entweder einen Diebstahl oder eine Hehlerei begangen haben, ein nicht zu leugnendes Bedürfnis, diese nicht straflos davonkommen zu lassen.

Aus meiner Sicht ist es nicht besonders schwierig, die gegenwärtige Rechtslage juristisch zu kritisieren.

Eine größere Leistung, als Kritik zu üben, wäre es, dem Gesetzgeber einen überzeugenden Verbesserungsvorschlag zu machen.

Aufgrund der gegenwärtig im Bundestag vorhandenen Zwei-Drittel-Mehrheit der Regierungsfraktionen könnte Artikel 103 Absatz 2 vielleicht um einen weiteren Satz ergänzt werden, der unter bestimmten Bedingungen Wahlfeststellungen erlaubt. Die Frage die sich stellen würde wäre, wie eine passende Regelung genau aussehen sollte.

Die Regelungen des § 242 StGB und § 257 StGB stehen bereits in ein und demgleichen Gesetz. Diese Regelungen nun vielleicht in einem neu gefassten Paragrafen zusammenzufassen dürfte, zumindest für sich allein genommen, wahrscheinlich wohl keine Lösung sein - jedenfalls fällt mir jetzt auf die Schnelle keine Formulierung ein, welche zukünftig eine Wahstellung überflüsssig machen würde. Wer sich mit den Materien auskennt und etwas Gehirnschmalz und Zeit investieren möchte , ist jedoch aufgerufen, über eine die Wahlfeststellung überflüssig machende Neuregelung nachzudenken, und diese vorzuschlagen.

Ob eine neu zu schaffende gesetzliche Regelung der Wahlfeststellung im Allgemeinen Teil des StGB vielleicht die juristischen Probleme beheben könnte, möchte ich auch nicht vorschnell beurteilen.

Da ich früher als Strafverteidiger jedoch mit erwerbsmäßigen Diebes- und Hehlerbanden zu tun hatte, kann ich sicher sagen, daß ein völliger und ersatzloser Verzicht auf die Wahlfeststellung in der strafrechtlichen Praxis die Bekämpfung dieser Kriminalität erheblich erschweren würde.

Verantwortungsvolle Juristen können Letzteres vernünftigerweise nicht ernsthaft wollen.

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@Volker: Falsch. Es ist gerade nicht Aufgabe der Gerichte, "dem Gesetzgeber einen überzeugenden Verbesserungsvorschlag zu machen.", wie Sie fälschlich meinen. Gesetzgebung ist ureigenste Aufgabe des Gesetzgebers! Nomen est omen!

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@ Gastmann

Die Argumentation gegen das Institut überzeugt mich uneingeschränkt. Deshalb glaube ich, dass der BGH das Institut kippen wird.

 

@ Volker

Ob ein "nicht zu leugnendes Bedürfnis" nach einer Strafbarkeit besteht, vermag ich nicht zu erkennen. Das Institut ist insofern praktisch als die Sachaufklärung eher abgebrochen werden kann, d.h. zumal bei Zweifeln, ob ein Diebstahl vorliegt. Bei weiterer Sachaufklärung vermute ich, dass in vielen Fällen sich eine eindeutige Tatsachengrundlage ergibt. Und wenn nicht, muss freigesprochen werden, weil ich nicht unter einen Tatbestand subsumieren kann, der nur möglicherweise vorliegt.

 

Wenn der Gesetzgeber eingreifen wollte, wird er sich mit der Unschuldsvermutung wie dem Tatschulprinzip befassen müssen; kein leichtes Unterfangen!

Sehr geehrter Herr BrainBug2,

entgegen Ihrer anderslautenden Äußerung hat in Wahrheit tatsächlich niemand behauptet, der Strafsenat des BGH habe die Aufgabe, dem Gesetzgeber Verbesserungsvorschläge zu machen.

Die hier im Beck-Online-Forum ausgesprochene Anregung, Verbesserungsvorschläge zu machen, richtete sich selbstverständlich nicht an die Richter des zweiten Strafsenats des BGH (das ist hier ja auch keine Webseite des BGH), sondern hier im Beck-Online-Forum natürlich an die Leser und Diskutanten der Beck-Online-Community.

Im Übrigen wäre es natürlich nicht verboten, wenn Rechtspolitiker oder beamtete Mitarbeiter des Justizministeriums oder auch Jura-Professoren oder auch Richter sich privat auch über Probleme und Belange Gedanken machen, die nicht unmittelbar in ihren Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich fallen.

In der Nachkriegszeit war es hierzulande sogar weitgehend Konsens, daß man bei seinem Handeln nicht ausschließlich nur  auf seinen jeweiligen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich schauen sollte, sondern daß man bei seinem Handeln auch außerhalb dieses Bereiches eintretende Konseuenzen bedenken sollte.

Es war wohl unter anderem Carl-Friedrich von Weizäcker, der dafür plädierte, an eine Gesamtverantwortung eines jeden Handelnden zu appellieren, und ein Zurückziehen auf die Haltung "nicht mein Aufgaben- und Zuständigkeitsbereich und interessiert mich deshalb nicht" nicht akzeptabel fand.

Aber das ist wohl ein erheblich zu weites Feld, um dies hier zu diskutieren.

Hier sollte vielmehr nur danach gefragt werden, ob irgend ein sach- und fachkundiges Mitglied der Beck-Online-Community etwas Gehirnschmalz und Zeit inverstieren möchte, um Verbesserungsvorschläge zu entwickeln oder vorzustellen.

Mit juristischen Laien wollte ich eigentlich nicht diskutieren.   

Mit freundlichen Grüßen

Volker Hannen

Master of Laws

Rechtsanwalt

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Sehr geehrter Herr Professor Heintschel-Heinegg,

auch wenn ich nicht sehr lange als Strafverteidiger tätig war, so waren da jedenfalls meistens die einzigen Beweismittel gegen die von mir verteidigten Mitglieder gewerbsmäßiger Diebes- und Hehlerbanden doch regelmäßig die bei ihnen beschlagnahmten Beutestücke.

Da normalerweise konsequent vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch gemacht wurde, war es für die polizeilichen Ermittler und die Gerichte in der Regel nicht aufklärbar, ob die einzelnen Angeklagten und Beschuldigten jeweils Diebe oder Hehler waren.

Meiner Einschätzung nach hätten da die Polizisten ermitteln können bis sie schwarz werden, ohne mehr herauszufinden.

Ohne das Institut der Wahlfeststellung wäre eine Verurteilung oft schwierig bis unmöglich geworden.

Soweit ich es beurteilen kann, ist dabei jedoch niemals ein Unschuldiger rechtskräftig verurteilt worden.

Falls das Institut der Wahlfeststellung ersatzlos gekippt wird, dürften bei einigen meiner ehemaligen Klienten wohl die Sektkorken knallen, und zugleich wohl in vielen Fällen dann auch neue Helfer für neue Beutezüge rekrutiert werden.

Man sollte es den Kriminellen nicht zu leicht machen.

Unschuldige sind hier wie gesagt in der Regel wohl ohnehin so gut wie nie betroffen.

Unschuldig Verurteilte gibt es meiner Einschätzung nach eher bei Tötungsdelikten, Vergewaltigungsvorwürfen und Betrugsvorwürfen.

 

 

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Die Argumente gegen die Wahlfeststellung sind sicher durchgreifend, aber letztlich gesetzgeberisch überwindbar.
In ihrem Anwendungsgebiet ist die Unschuldsvermutung zweifelsfrei widerlegt.

Das Zitat von Georg Freund ist in seinem Umkehrschluss von einer theoretischen Selbstgewissheit geprägt, die sich ein rechtsprechender Jurist meines Erachtens besser nicht zu eigen macht.

Denn wann ist ein verhandelter "Tatvorwurf" in jeder Dimension "eindeutig"? Er beruht innerhalb eines Tatbestands vielmehr auf Annahmen eines jedenfalls gegebenen Sachverhalts und seines subjektiven Spiegelbilds. Diese begründen die Reduktion eines so erheblichen Strafrahmens wie dem der §§ 259, 242 auf die konkret verhängte Strafe. Die hochtrabend als "schuldangemessen" ausgewiesene Strafe ist dabei ein Mindestmaß, richtigerweise begrenzt durch den Zweifelssatz und nicht selten auch die Prozessökonomie. Der Umgang mit Beweisanträgen z.B. im Buback/Becker-Verfahren spricht Bände zu dieser Frage.
Der Grundgedanke der Wahlfeststellung ist also jedem Schuldspruch immanent. Diesen Gedanken tatbestandsübergreifend fortzusetzen, ist zweifellos ein rechtsstaatliches Problem, aber wie gesagt ein regelungstechnisches und keines, dessen Lösung den Rechtsstaat infrage stellt.

Der Satz von Freund folgt auch der Neigung, den Rechtsstaatsbegriff mit einer systematischen Täterfreundlichkeit anzureichern, die ihm an sich zuwider läuft. Die Rechtsstaatlichkeit ist verletzt, soweit sich der Staat hier nicht des Instrumentes der Gesetze bedient, und dem ist abzuhelfen. Andererseits muss auch die Gesetzeslage, die derzeit ohne Wahlfeststellung einen Freispruch begründete, ihre Legitimität aus einem demokratisch konsensfähigen Rechtsempfinden ziehen. Ich behaupte, dieses allgemeine Rechtsempfinden ist verletzt, wenn jemand, dem verwirklichtes Unrecht in einem Mindestmaß nachgewiesen ist, gänzlich ungeschoren davon kommt, weil der Rechtsstaat es nicht vermag, dieses Unrecht in einen dedizierten Tatbestand zu fassen.

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@ Gottfried und Gast

Es wäre für die Praxis keine Katastrophe, wenn der BGH das richterrechtliche Institut kippt und der Gesetzgeber daraufhin tätig wird. Falls der Gesetzgeber schweigt, wird die Praxis damit leben müssen, bis der Druck auf Berlin zu stark wird. - Vielleicht äußert sich der BGH auch in dieser Richtung.

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