Elektronische Gerichtsakten?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 10.06.2014

Der Bayerische Richterverein - ein Zusammenschluss von rd. 2400 bayerischen Richtern und Staatsanwälten hat in seiner jüngsten Stellungnahme auf Probleme mit der elektronischen Aktenführung hingewiesen, die in den nächsten Jahren landesweit eingeführt werden soll.

Über die Betroffenheit der Richter in ihrer täglichen Arbeit hinaus sind einige Punkte von allgemeinpolitischem Interesse:

Die elektronische Speicherung bietet nicht nur (arbeitsökonomische) Vorteile, sondern bringt auch Gefahren mit sich, für den Datenschutz sowie für die richterliche Unabhängigkeit. Während heute die Akten, soweit sie nicht mehr nur in Papierform vorgehalten werden, elektronisch vor Ort auf Servern des jeweiligen Gerichts gespeichert werden, sollen künftig die Justizakten in ganz Bayern zentral gespeichert und vorgehalten werden - bei den großen Rechenzentren des Bayerischen Landesamts für Steuern.

Der Richterverein zutreffend:

Insbesondere für die Fachgerichtsbarkeiten wie Verwaltungs-, Finanz- und Sozialgerichtsbarkeit bedeutet dies im Ergebnis, dass die Gerichtsakten vom Prozessgegner verwahrt werden.

Hinzu kommt, dass es in einem zentralen EDV-Netz Administratoren mit dem sogenannten Masterpasswort durch wenige Befehle und innerhalb kürzester Zeit möglich ist, Dokumente einzusehen, Informationen über deren Entstehungsprozess aufzuzeichnen (Meta-Ebene) sowie Dokumente zu kopieren und an Dritte weiterzuleiten. Derartige Administratoren sind nicht nur an der am Oberlandesgericht München eingerichteten Gemeinsamen IT-Stelle der Bayerischen Justiz (GIT) tätig, sondern auch in den von der Exekutive betriebenen Rechenzentren und sogar bei Privatunternehmen, den Firmen Unisys und IBM, beides Töchter US-amerikanischer Unternehmen.

Zudem werden zu den Aktenzeichen auch Entwürfe, Voten etc. gespeichert und auffindbar, die dem Beratungsgeheimnis unterliegen.

Die Sachbehandlung oder vorläufige Würdigung eines den Dienstherrn des Richters betreffenden Rechtsstreits - etwa auf den Gebieten der Staatshaftung oder der Finanzgerichtsbarkeit – oder eines Verfahrens, das Mitarbeiter der Exekutive privat betrifft, könnte ebenfalls von der Dienstaufsicht als Teil der Exekutive gezielt angesteuert werden.

Als Lösung fordert der Richterverein ein Gesetz, das die zentrale Speicherung von Gerichtsakten regelt und dabei den besonderen Schutzbedarf der Akten berücksichtigt.

Schon seit mehr als zehn Jahren wird in den Bundesländern diskutiert, geplant und programmiert, um die Aktenberge künftig abzubauen  und von Papier auf Bildschirmarbeit umzustellen. Es werden dazu etliche Millionen eingesetzt mit der vagen Aussicht auf eine künftig schnellere, effektivere (und billigere?) Verfahrensbearbeitung. Allerdings hat sich z.B. in Berlin herausgestellt, dass man dort nicht nur Flughäfen nicht bauen kann....


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17 Kommentare

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Ich sehe da noch ganz andere praktische Probleme.

 

Eine Urkunde ist nur als Original ein Beweismittel. Wenn jetzt alles - soweit nicht zulässigerweise per E-Mail übermittelt - eingescannt wird, was geschieht mit den Originalen, die bislang in die Akte geheftet wurden? Werden die geschreddert? Oder wird doch noch eine "reale" Zweitakte angelegt? Werden z.B. Eröffnungsbeschlüsse oder Urteile im Strafrecht auch nur noch digital abgefaßt? Mit "Daumenunterschrift" der Richter auf dem iPad?

 

Ich freue mich auch schon auf die mündlichen Verhandlungen bzw. Hauptverhandlungen, wenn alle hilflos auf ihren iPads herumwischen, um Band IX, Blatt 353 d.A. zu finden. Bislang mußte man zwar dicke Ordner auf dem Tisch hin- und herbewegen. In wenigen Sekunden hat aber jeder Verfahrensbeteiligte dank des menschlichen Daumens die passende Seite gefunden. Wie das künftig ablaufen soll, ist mir schleierhaft. Schon jetzt nerven die Kollegen, die nur ein Tablet dabei haben und über jene die Nase rümpfen, die noch Akten wälzen, aber selbst den ganzen Betrieb aufhalten, weil sie die Dokumente nicht finden.

 

Bei vielen - nicht nur älteren - Richtern und Kollegen kann ich mir das gar nicht vorstellen. Das mündet nicht nur im Chaos, sondern wird auch zahlreiche weitere rechtliche Probleme mit sich bringen.  Schon jetzt gehe ich bei Kollegen, die nur noch mit Laptops oder Tablet arbeiten, dazu über, sie mögen bitte das Original der Urkunde vorlegen, auf das sie sich beziehen. Schlecht, wenn man keine "echte" Akte dabei hat...  Für Strafrichter und Staatsanwälte wird künftig nichts anderes gelten. Ich werde es jedenfalls nicht zulassen, daß ein Mandant aufgrund einiger Pixel auf einem Bildschirm verurteilt wird (demnächst vielleicht noch via Facebook?). Da möchte ich doch gerne das Original auf dem Tisch sehen.

 

 

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Das Heilsversprechen arbeitsökonomischer Vorteile würde ich auch durchaus kritisch sehen. Ich hatte das Vergnügen, in verwaltungsrechtlichen Verfahren Akteneinsicht bei Behörden mit elektronischer Aktenführung nehmen zu dürfen... Ich würde es so formulieren: ich wäre über eine chronologisch geordnete Akte in Papierform, die ich schnell hätte durchblättern können, heilfroh gewesen. Bevor eine elektronische Aktenführung landesweit eingeführt wird, würde ich diese (sofern noch nicht geschehen) mal an ein, zwei (Amts-)Gerichten ausprobieren und abwarten, ob die für alle Beteiligten erwarteten Vorteile auch wirklich eintreten.

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Ich stimme völlig zu, dass ein solches "Heilsversprechen" trügt - auch mir erscheinen Papierakten einfach "handlicher". Immerhin kann man aber bei umfangreichen Verfahren, die sich über mehrere Ordner erstrecken, einen wesentlichen Vorteil darin sehen, dass man mit der Suchfunktion etwa alle Erwähnungen bestimmter Vorgänge und Namen in den Akten auffinden kann. Dies ist bei bloßer Papierform nicht möglich.

 

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

Ihre Kommentare und Meinungen schätze ich. Aber hier offenbart sich ein generelles Problem der Rechtswissenschaft. Sie beschäftigt sich nicht oder nicht eindringlich mit dem elektronischen Rechtsverkehr (einschließlich elektronische Akte). Auch im Strafprozess stellen sich interessante rechtliche Probleme und Fragestellungen. Leider gibt es so gut wie keinen wissenschaftlichen Vorlauf oder eine wissenschaftliche Begleitung. Neben den rechtlichen Aspekten fehlen empirische Untersuchungen des Ist-Zustandes, um daraus Modelle für den ERV abzuleiten bzw. nach Einführung vergleichend zu untersuchen.

Zu Berlin: Ein über fünf Jahre altes gescheitertes Projekt anzuführen ohne die Hintergründe zu kennen und anzuführen, ist nicht ganz fair. Nach meiner Meinung war dieses Projekt der Zeit zu weit voraus. Es hat leider eindrucksvoll gezeigt, dass die eAkten-Systeme für die Verwaltung für ein so komplexes System wie die Strafakte bzw. das Strafverfahren halt nicht geeignet sind.

Das funktioniert aber nur, wenn sämtliche Behörden und Gerichte über Scanner verfügen, die in der Lage sind, jeweils Vor- und Rückseite eines Aktenblattes einzuscannen und die jeweilige Druck- und/oder Handschrift zu "lesen". Das gelingt im Hinblick auf die Vielzahl der Papiersorten und Schriftbilder in einer Akte nur sehr unvollkommen, zumal Einzugsscanner nicht selten dazu neigen, Blätter "aufzufressen", also bis zur Unkenntlichkeit  im Einzug zu knicken, so daß das Ergebnis später weder für das menschliche Auge noch für die Software lesbar ist.  Vielfach getackerte Seiten müssen erst mühsam entklammert werden, Seiten ggf. mehrfach eingescannt und manuell in das PDF-Dokument einsortiert werden, etc.  Eine Arbeitserleichterung und Zeitersparnis tritt dadurch nicht ein. Im Gegenteil: Geschäftsstellenpersonal am Rande des Nervenzusammenbruchs...

 

Wer meint, durch die Suchfunktion alle relevanten Vorgänge und Namen zu entdecken, irrt. Die Software vermag oftmals nur einen Teil dieser Vorgänge in suchfähige Daten umzusetzen. Das kann zu fatalen Fehleinschätzungen führen, wenn z.B. entlastendes Material gerade nicht durch die Suchfunktion erschlossen werden kann. Nicht, daß man in Papierakten nicht ebenfalls Schriftstücke übersehen kann. Man hat aber nicht dieses trügerische Sicherheitsgefühl.

 

Letzlich muß man die Akte von vorne bis hinten lesen. Das gelingt für meinen Geschmack mit einer Papierakte besser, da das "Blättern" in elektronischen Dokumenten sehr mühsam und zeitaufwendig sein kann.

 

Es gibt, nicht nur in der Provinz, noch immer Gerichte, in denen ein alter Gerichtsschreiber das Protokoll handschriftlich fertigt (übrigens sehr "lustig" zu lesen; der Inhalt der Verhandlung wird in der hanschriftlichen Version zumeist auf 0,5% des gesprochenen Wortes verkürzt). Dort haben noch nicht einmal PCs den Weg in den Arbeitsalltag gefunden. Wie soll man dort mit einer elektronischen Gerichtsakte fertig werden.

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Tja,

und dann passiert das am Terminstag, was in der letzten Zeit des öfteren bei den Grundbuchämtern passiert. .

Das Programm ist abgestürzt und der Fehler selbst nach mehr als einem Tag nicht behoben. So hat man zwei Tage lang keinen Zugriff auf die Daten.

Man stelle sich dies für einen Strafprozess vor.

Terminsverschiebung pp.. Nicht zuletzt die Frage, wer für die zusätzlichen Kosten (Zeitaufwand, Fahrtkosten) des Verteidigers oder anderer Prozeßbeteiligter aufzukommen hat. Wohl die Staatskasse!

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Grundvoraussetzung für eine elektronische Datenverarbeitung ist die Eignung der Vorlage für eine Digitalisierung und Datenstrukturierung. Text ist grundsätzlich gut geeignet. Viel unstrukturierter Text aber schlecht. In einem ähnlich textlastigen und bisher unstrukturierten Bereich mit Massendaten, nämlich der Bioinformatik, kämpfen Spezialisten mit einer Unzahl von datentechnisch unbrauchbaren Vorlagen, die integriert werden müssen, um das Know how nicht zu verlieren. Das ist ein Forschungsschwerpunkt über viele Jahre! Die Beteiligten sind im Grundsatz strukturiertes Denken und Arbeiten gewöhnt, hatten jedoch viele Insellösungen produziert.

Es gibt Bereiche in der Justiz, in denen es befremdlich wirkt, wie wenig bisher überhaupt strukturiert wurde. Ich kenne juristischen Text der Art: "für x 100 und für y 100 und nocheinmal für z 100" verfasst von einem m.E. in der Sache korrekt arbeitenden Juristen, aber die Struktur, um himmelswillen. Einfache strukturierte mathematische Ausdrucksformen werden seit ewigen Zeiten in der Grundschule auch Juristen gelehrt. Auch wenn dieses Beispiel sicher extrem wirkt, die Chancen für einen schnellen Effizienzgewinn durch digitales Arbeiten in der Justiz sind nicht besonders hoch. Es fehlt  schon an der grundlegenden Evaluation der notwendigen Voraussetzungen und der absehbaren Hemmnisse für Arbeiten mit digitalen Daten. Einer Entwicklungsfirma ein paar Millionen zu überweisen und zu erwarten, dass sie die unbenannten Probleme schon irgendwie lösen wird, entspricht der heutigen Denke politischer und behördlicher Planer. Die Fehlschläge und prozentualen Mehrkosten solcher Projekte liegen deutlich höher als die übliche Wahlbeteiligung. Für Justiz 2.0 benötigt man zuerst Personal mit Problembewusstsein. Problembewusstsein benötigt aber selbstkritisches Denken. Weitgehend Fehlanzeige in der Justiz. Lösungskompetenz fällt auch nicht vom Himmel und eine erfolgreiche Umsetzung ist Teamarbeit zwischen kompetenten Anbietern und Anwendern. Alles andere endet in Chaos, Workarounds und schlechten Ergebnissen.

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Also ganz ohne Papierakte ist das nicht denkbar. Das sehe ich auch so. Denken kann man sich aber z.B. eine Geschäftsstelle, in der die Papierakten nur verwahrt, mit Eingängen und Ausgängen vervollständigt und die Eingänge digitalisiert werden. Der Aktentransport fällt also weg - zum Teil. Hinzu kommt aber der Aufwand der Digitalisierung von Eingängen und der Verwaltungsaufwand für alle Ausgänge, die quasi als interne Post zu den Papierakten eingereicht werden. 

Es wird auch Bereiche geben, für die auch diese mögliche Organisationsstruktur nicht in Betracht kommt. Spontan denke ich dabei an das Nachlassgericht und z.B. an die Öffnung von Testamenten. 

Aber auch in Strafsachen ist das nicht völlig unproblematisch. Aktenführende Behörde ist grundsätzlich die Staatsanwaltschaft mit Ausnahme der Zeit, in der die Sache bei Gericht anhängig ist. Während des Gerichtsverfahrens muss m.E. das Gericht zwingend die Herrschaft über die Papierakte und über die Behandlung der Ein- und Ausgänge haben. Es wird also nicht möglich sein, dass die Papierakten während des Erkenntnisverfahrens bei der Staatsanwaltschaft bleiben und das Gericht nur Zugriff auf die Digitalakte hat. Das gilt auch, wenn Rechtsmittel eingelegt werden. Also wird der Aktentransport nicht gänzlich wegfallen können. 

Es ist kaum vorstellbar, dass der zusätzliche Aufwand durch den teilweise eingesparten Aktentransport kompensiert werden kann. Das müsste das bayerische Justizministerium erst einmal rechnerisch belegen.

Wer nur halbwegs die Organisation der Justiz von innen kennt, der wird auch wissen, wie schwierig es ist auch nur kleine Veränderungen im Geschäftsablauf durchzusetzen und zu etablieren. Jede Umstellung, vor allem bei großen Justizbehörden, kann mehr Schaden als Nutzen bringen und bedarf der allergrößten Planungssorgfalt. Einen so radikalen Schnitt wie mit der geplanten Einführung der digitalen Akte, hat es meines Wissens noch nie gegeben. Aus Erfahrung mit verhältnismäßig kleinen Veränderungen muss man mit dem Allerschlimmsten rechnen. 

Schließlich noch zu einer der wichtigsten Qualitätsanforderungen an Gerichtsakten: Das ist ihre Lesbarkeit und Lesefreundlichkeit. Als Textverarbeitungsprogramme die Schreibmaschine ablösten, hätte man auch meinen können, dass die Lesefreundlichkeit des gerichtlichen Schriftverkehrs deutlich verbessert wird. Mitnichten. Während zuvor jede halbwegs ausgebildete Kanzleikraft ganz genau wusste, wo und wie der Textkörper auf einem Blatt Papier zu erscheinen habe, sind die heutigen Schriftsätze, Schreiben und Entscheidungen häufig eine typographische Zumutung. U.a. sind die Zeilen viel zu lang, die Ränder zu klein, so dass der Text teilweise im Aktenbund verschwindet, die Schrift zu klein (nicht jede 12pt-Schrift ist echte 12pt groß), die Zeilenabstände entweder zu klein oder zu groß. Wenn dann auch noch der Text im Block erscheint und das noch ohne Silbentrennung und hässliche Löcher im Text entstehen, dann wird deutlich: Das war kein Fortschritt. So etwas will und kann doch kein Mensch über mehrere Seiten lesen. 

Nicht, dass die heutigen Schreibkräfte schlechter wären. Sie können aber nur so gut sein wie das Programm, das ihnen zur Verfügung gestellt wird. Das fast ausnahmslos genutzte und nicht gerade kostengünstige MS-Word ist aber für lange juristische Schriftsätze offensichtlich nur begrenzt geeignet. Das ist doch nicht zu übersehen. Es ist mir ein Rätsel, warum trotzdem daran so festgehalten wird. 

Mit der Digitalisierung der Akten ist mit weiterer Verschlechterung der Lesbarkeit und damit der Arbeitsbedingungen zu rechnen.

Sehr geehrter Herr Kegel,

danke für Ihren kritischen Kommentar.

Sie schreiben:

Aber hier offenbart sich ein generelles Problem der Rechtswissenschaft. Sie beschäftigt sich nicht oder nicht eindringlich mit dem elektronischen Rechtsverkehr (einschließlich elektronische Akte).

Auch wenn Ihrer Analyse sicher stimmt: Ich habe gar nicht behauptet, mich mit der Problematik der e-Akten wissenschaftlich beschäftigt zu haben oder damit hinreichend auszukennen und glaube auch nicht, dass ich diesen Eindruck fahrlässig erzeugt habe. Der bayerische Richterverein hat bestimmte Besorgnisse ausgedrückt, die ich wert befand in diesem Forum (mit vielen Praktikern) zu diskutieren.

Auch im Strafprozess stellen sich interessante rechtliche Probleme und Fragestellungen. Leider gibt es so gut wie keinen wissenschaftlichen Vorlauf oder eine wissenschaftliche Begleitung. Neben den rechtlichen Aspekten fehlen empirische Untersuchungen des Ist-Zustandes, um daraus Modelle für den ERV abzuleiten bzw. nach Einführung vergleichend zu untersuchen.

Das sehe ich genauso. Leider ist es nicht so, dass alles, was man wichtig befindet, auch gleich (allein) ins Werk gesetzt werden kann. Wenn die Politik eine wissenschaftliche Begleitung nicht für nötig befindet (weil man z.B. seitens der Rechtswissenschaft bremsende Kritik befürchtet), wird ein entspr. "Auftrag" nicht erteilt. Dann wird eine kritische Begleitung davon abhängig sein, dass sich Wissenschaftler für das Thema erwärmen und von sich aus recherchieren und zu Wort melden. Dazu ist erforderlich, dass das Problem überhaupt auf die Agenda gesetzt wird. Dazu könnte der Blog einen klitzekleinen Beitrag leisten. Mehr kann und will ich im Moment gar nicht behaupten oder tun.

Zu Berlin: Ein über fünf Jahre altes gescheitertes Projekt anzuführen ohne die Hintergründe zu kennen und anzuführen, ist nicht ganz fair. Nach meiner Meinung war dieses Projekt der Zeit zu weit voraus. Es hat leider eindrucksvoll gezeigt, dass die eAkten-Systeme für die Verwaltung für ein so komplexes System wie die Strafakte bzw. das Strafverfahren halt nicht geeignet sind.

Ich räume ein, das war ein Schnellschuss aus Google-Recherche, der wegen des Zeitablaufs nicht ganz fair war. Ihr Kommentar lässt aber ein zwiespältiges Fazit zurück: War es nur ein verfrühter Versuch oder weist das Scheitern auf generelle Ungeeignetheit der e-Gerichtsakte hin? Wissen Sie Genaueres über den derzeitigen Stand? Dann bitte geben Sie uns die Information!

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

Henning Ernst Müller schrieb:

Ihr Kommentar lässt aber ein zwiespältiges Fazit zurück: War es nur ein verfrühter Versuch oder weist das Scheitern auf generelle Ungeeignetheit der e-Gerichtsakte hin? Wissen Sie Genaueres über den derzeitigen Stand? Dann bitte geben Sie uns die Information!

Das Berliner Projekt war ein verfrühter Versuch. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur eAkten-Systeme (DMS) für die Verwaltung. Mit diesen Programmen konnte man (stark vereinfacht formuliert) in einem Workflow nur Anträge entgegennehmen, an den Sachbearbeiter weiterleiten, den Antrag positiv oder negativ bescheiden und archivieren. Eine elektronische Strafakte verlangt ein wenig mehr. Ein weiteres Manko war der Versuch, in einem DMS zwei Fachverfahren zu integrieren: Die eAkte und das staatsanwaltschaftliche Fachverfahren. Ein staatsanwaltschaftliches Fachverfahren ist ein hoch komplexes Programm. Damit ist ein eAkten-System bzw. DMS völlig überfordert. Interessant, in Berlin wähnte man sich nach einer positiven Machbarkeitsstudie für eine elektronische Strafakte einer renommierten Beraterfirma auf der sicheren Seite.

Die Landesjustizverwaltung Nordrhein-Westfalen hat vor ca. 5 Jahren eine Projektgruppe „Ergonomie der elektronischen Akte“ gebildet. Das mehr als beachtenswerte Ergebnis "e2A" wurde auf dem EDV-Gerichtstag 2013 präsentiert. Wesentlich mehr Ergonomie mit der vorhandenen Hard- und Software geht kaum. Das jeweilige gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Fachverfahren wird geschickt integriert. Die eAkte kann der User neben dem Bildschirm auch auf einem Tablet lesen und ggf. bearbeiten. Das finde ich entscheidend. Denn die intellektuelle Aktenbearbeitung schlägt sich in der Körpersprache wider: Man "umkreist" ein Problem oder betrachtet Probleme von "verschiedenen Seiten", d.h. der Körper bewegt sich entsprechend. Das geht beim starren Blick auf den Bildschirm fast gar nicht. M.E. sollten sich mit e2A mindestens 70-80% aller Strafakten bearbeiten lassen.

Die bayerische Landesjustizverwaltung hat durch IBM in den letzten Monaten mit eIP ein ähnliches eAkten-System, zunächst zugeschnitten auf das gerichtliche Fachverfahren forumSTAR, entwickeln lassen.

Die Rechtsgrundlage für eine elektronische Aktenführung wurde mit dem Justizkommunikationsgesetz im Jahr 2005 in allen Prozess- und Verfahrensordnungen geschaffen; bis auf das Strafverfahren. Das Bundesjustizministerium hat 2012 einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Einführung der elektronischen Akte in Strafsachen zur Diskussion gestellt und das Vorhaben in der neuen Legislaturperiode aufgegriffen. Auf die kritischen Einwände der Landesjustizverwaltungen soll die Einführungsphase deutlich erweitert werden und eine Pilotierung schon ab 2016 möglich sein. Der neue Referentenentwurf ist für die kommenden Wochen angekündigt worden.

Die elektronische Aktenführung in Strafsachen wird sich meiner Überzeugung nach nicht sofort vollständig umsetzen lassen. Nicht alle IT- und Rechtsprobleme lassen sich theoretisch und gedanklich vorhersehen. Dazu ist das Projekt viel zu komplex. Je tiefer man in das Projekt dringt, umso mehr Detailprobleme offenbaren sich. Daher wollen die Staatsanwaltschaften mit der Bundespolizei in einem überschaubaren Bereich die elektronische Strafakte 2015 in NRW pilotieren und wertvolle Erfahrungen gewinnen.

Einen guten Überblick über den aktuellen Stand des elektronischen Rechtsverkehrs und der elektronischen Akte erhält man auf dem 23. Deutschen EDV-Gerichtgstag vom 24.09.2014 bis 26.09.2014 in Saarbrücken.

Der Richterverein schreibt unter

2.1.6   Flexibilität der e-Akt
Die e-Akte muss aus einer unveränderbaren Originalakte und einer bearbeitbaren Handakte bestehen.
Eine pdf-Datei zum Durchscrollen mit dem Mausrad ist ungeeignet.

Versteht das jemand? Warum soll die pdf-Datei dafür ungeeignet sein?

WR Kolos schrieb:

Der Richterverein schreibt unter

2.1.6   Flexibilität der e-Akt
Die e-Akte muss aus einer unveränderbaren Originalakte und einer bearbeitbaren Handakte bestehen.
Eine pdf-Datei zum Durchscrollen mit dem Mausrad ist ungeeignet.

Versteht das jemand? Warum soll die pdf-Datei dafür ungeeignet sein?

PDF ist als Format nicht zur Bearbeitung optimiert. Generell wird eine elektronische Akte nicht in einem Standard-Dateiformat realisiert werden können. Erforderlich wäre vielmehr ein DV-System, das gewissermaßen den Aktenordner bildet, und verschiedene Dateiformate aufnimmt, Metadaten verwaltet und die historisch nachvollziehbare Bearbeitung ermöglicht, zugänglich z.B. über ein Webinterface.

An sich nichts besonderes und bei Unternehmen wie Behörden tausendfach im Einsatz.

Dass sowas in der Justiz aber "mal eben" brauchbar und unter Beachtung aller Sicherheitsaspekte hingestellt wird, darf bezweifelt werden, zumal bei den Digitalisierungsanhängern die Fehlvorstellung grassiert, damit Geld zu sparen. Das weiß die Wirtschaft längst besser.

Papierloses Arbeiten hat gewisse Vorteile, die man sich sehr teuer erkaufen muss. Ich frage mich, wie sich das bei Justizakten, die wohl einmalig, eben in einem Verfahren, in Gebrauch sind, rechnen soll. Niemand wird im Jahre 2020 in allen Verfahren des AG Augsburg des Jahres 2015 "googeln" müssen/dürfen. Solange die Massenverarbeitung der Digitalisate nicht im Raum steht, ist die Digitalisierung meist überflüssig.
Für relevante Vorgänge ist außerdem die parallele Archivierung der Originale notwendig. Die von Lösungsanbietern versprochene "revisionssichere" Identität von Original und digitaler Kopie gibt es nicht, da helfen auch keine Signatur-Spielereien. Was, wenn sich später herausstellt, dass schon die Firmware oder der Treiber eines verwendeten Scanners zu Kompressionszwecken in ganz bestimmten Situationen einen Bildbereich durch einen ähnlich aussehenden ersetzt? Alles schon vorgekommen.

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Gast schrieb:
 PDF ist als Format nicht zur Bearbeitung optimiert.

 

Ja, also für die "unveränderbare Originalakte" bestens geeignet. PDF/A ist auch der ISO-Standard für Langzeitarchivierung. 

Erforderlich wäre m.E. ein Dokumentenmanagementsystem. Wenn Kosten und Unabhängigkeit gewichtige Aspekte bei der Auswahl sein sollen, dann kommt man an der freien DMS-Software (plattformunabhängig) nicht vorbei. Das gilt auch für Latex als "Schreibprogramm" und PDF-Latex. 

Wenn die Einführung der elekronischen Akte als gesetzliches Ziel ernst genommen wird, dann darf auf das Zwischenziel nicht verzichtet werden, dass die E-Akte parallel zur Papierakte geführt wird. Aus der Erfahrung der Praxis wird man dann sehen können, ob und inwieweit auf die Papierakte verzichtet werden kann. Auch dafür bietet die freie DMS-Software konkurrenzlose Vorteile. 

Schließlich noch eine Frage an Herrn Professor Müller:

Sehr geehrter Herr Professor, 

gibt es bei Ihnen heute die Möglichkeit, z.B. die Hausarbeiten in elektronischer Form abzugeben, vorausgesetzt natürlich, dass die typographischen Formalien eingehalten werden? 

Ein Kernproblem sehe ich darin, die Bestände zu digitalisieren. Wo soll das Personal dafür herkommen?

Vielleicht wäre es nicht schlecht, die Digitalierung einmal mit (zumeist) zeitlich und inhaltlich überschaubaren Verfahren wie Bußgeldsachen zu beginnen. Da könnten die Datensätze bei der Verwaltungsbehörde beginnen und dann von der StA und schließlich vom Gericht übernommen werden. Das alles aber nur für neue Verfahren ab einem vorher festgelegten Zeitpunkt. Und bitte nur, wenn alle Beteiligten mit der erforderlichen Hardware und einem Datennetz mit hinreichender Bandbreite ausgestattet sind.

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Die Angst der Richter vor der E-Akte (SZ)

Münchner Richter befürchten aber eher den Albtraum und haben zusammen mit ihren Kollegen aus Nürnberg ein internes Papier verfasst, das der SZ vorliegt.
...
Für ihre Sorgen haben sie Gründe aufgezählt und in einem umfangreichen Schreiben dem Hauptrichterrat in Bayern vorgelegt, damit dieser beim Justizminister interveniert, bevor es zu spät ist.
...
Mit Grausen denken sie vielmehr an das bröckelige Fundament, das dieses neue System tragen soll, das jetzt schon verwendete justizeigene Computerprogramm "Forum-Star". Selbst Außenstehenden, die regelmäßig mit Gerichten zu tun haben, ist diese extrem störanfällige Software längst ein Begriff.

Hauptproblem Nr. 1 sind wohl Hackerangriffe. Schließlich enthalten Verfahrensakten regelmäßig sensible persönliche oder geschäftliche Informationen.

Ein digitales Aktensystem müsste daher vollkommen unabhängig vom Internet betrieben werden, um Hackerangriffe unmöglich zu machen. Dies bedeutet, es müsste in jedem Gericht ein komplett eigenständiges, verkabeltes Rechnernetz installiert werden, über welches die Akten verwaltet werden.

Kommt ein Verfahren vor ein anderes Gericht oder erhält ein Rechtsanwalt Akteneinsicht, so müssten die Daten weiterhin in physischer Form (verschlüsselter USB-Stick o.ä.) per Post verschickt werden.

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