Ferdinand von Schirach "Die Würde ist antastbar“

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 04.11.2014

Seit Tagen diskutieren wir im Blog über das Thema „Erschütternd: Jeder dritte Jurastudent will die Todesstrafe und nach jedem fünften darf Folter schon sein“. Dazu passt es, den aktuellen Bestseller von Ferdinand von Schirach "Die Würde ist antastbar“ zur eigenen Lektüre aber auch als Geschenk zumal für angehende Juristen vorzustellen. Das handliche Buch im Taschenbuchformat enthält alle 13 Essays, die von Schirach in den Jahren 2010-2013 bereits im SPIEGEL publizierte, aber nunmehr zusammengefasst nachgelesen werden können.

Schon im ersten Essay, dessen Überschrift auch dem Titel des Sammelbands seinen Namen gibt, erteilt der Autor der Todesstrafe indirekt eine eindeutige Absage. Anhand des bekannten Lehrbuchsfalls "Mignonette"  wird herausgearbeitet, dass ein Mensch niemals zum bloßen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf (S. 10). Der Staat könne ein Leben niemals gegen ein anderes aufwiegen (S. 11). Die westliche Welt, ihre Freiheit und ihr Selbstverständnis entscheiden sich am Umgang mit dem Recht! (S. 16). 

"Die Würde der Fürchterlichsten. Die Menschenrechtsklage des Kindermörders Gäfgen“ behandelt die Frage, ob im Rechtsstaat ausnahmsweise nicht doch gefoltert werden kann, zumal wenn es darum geht, das Leben eines Kindes zu retten. Die Antwort des Autors ist eindeutig: „Foltern ist verboten. Punkt. Ende der Diskussion." (S. 111). Unter der Überschrift „Wahrheit und Wirklichkeit“ untersucht der Strafverteidiger die Prozesse gegen Verena Becker und Jörg Kachelmann. Sehr kritisch setzt sich der Autor mit der Öffentlichkeitsarbeit der Staatsanwaltschaft unter dem Titel „Verfahren als Strafe“ auseinander.

Hoffentlich weckt diese kleine Auswahl an den rasch gelesenen Kabinettstückchen Ihr Interesse an den ebenso anregenden wie kenntnisreich geschriebenen Untersuchungen, die hoffentlich viele Leser unter der angehenden Juristengeneration finden.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

23 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Nur zur Ergänzung: "Mignonette" ist ein vom High Court of Justice (Queens Bench Division) tatsächlich entschiedener Fall (R v Dudley and Stephens (1884) 14 QBD 273 DC) des Kannibalismus unter Schiffbrüchigen, siehe: http://www.justis.com/titles/iclr_bqb14040.html. Das auf Mord und Todesstrafe lautende Urteil hat die Krone dann im Wege der Gnade auf "6 months imprisonment without hard labour" herabgesetzt.

5

Wer Menschenwürde und Menschenrechte und Bürgerrechte schützen will, der sollte vielleicht nicht ausschließlich bloß juristisch argumentieren.

Die Mehrheit der Menschen kann mit rein juristischen Argumenten meist nicht viel anfangen.

Vielleicht würde es helfen, den Menschen anschaulich zu vermitteln, daß die Wahrung von Menschenwürde und Menschenechten und Bürgerrechten in ihrem ureigensten Interesse ist, und daß es aber Kräfte gibt, die andere Interessen und andere Ziele haben und verfolgen.

Manche Hollywoodspielfilme und andere Medien tendieren seit geraumer Zeit ja leider dazu, dem Publikum mehr oder weniger subtil zu suggerieren, daß die Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten und Bürgerrechten vermeintlich Menschenleben kosten und vermeintlich bloß Terroristen nutzen würde.

Diese von Medien geschaffenen Fiktionen setzen sich allmählich in den Köpfen des Publikums (insbesondere beim jungen naiven ungebildeten Publikum) fest.

Ein Blick in die Vergangenheit könnte dagegen für Ernüchterung und mehr Realitätsinn sorgen.

Und damit meine ich nicht nur ausschließlich die deutsche Vergangenheit von 1933-1945.

Auch anderswo und zu anderen Zeiten war es sehr oft an der Tagesordnung, daß die einfachen (armen und machtlosen) Menschen bzw. Normalbürger entrechtet und unterdrückt und ausgebeutet wurden - und zwar nicht zufällig, sondern schlicht und einfach weil Gruppen von anderen Menschen, die mehr Macht als die Normalbevölkerung hatten, daran ein finanzielles oder machtpolitisches Interesse hatten.

Menschenrwürde und Menschenrechte und Bürgerrechte können auch heute von manchen finanziellen oder machtpolitischen Interessen als störend oder unangenehm empfunden werden.

Der Kapitalismus ist nicht darauf ausgerichtet, allen Menschen Menschenwürde und Menschenrechte und Bürgerrechte zu sichern, sondern bloß darauf, den "Playern" Profite zu versprechen und möglichst auch zu bescheren, und zwar wie und auf welche Art auch immer.

Alleine der Umstand, daß der Kapitalismus oft als Reflex (oder als unbeabsichtigte Kollateralwirkung) meistens auch mehr Wohlstand für alle mit sich bringt, ist für sich allein genommen noch keine hinreichender Schutz vor Entwürdigung und Entrechtung und Unterdrückung und Ausbeutung.

Wer mir diese Sätze hier nicht glauben will, der mag einmal ins neokapitalistische China fahren, oder ins kapitalistische Indien, oder nach Pakistan oder Bangla-Desh, oder sich bei unterdrückten und ausgebeuteten und quasi-versklavten Indios in Bodenschatzminen in Lateinamerikan umsehen, oder ins ultrakorrupte Mexiko, wo alleine Geld die Welt regiert, und zwar auch wenn es sich in den Händen von skrupellosen Schwerverbrechern befindet.

Die Gebote der Menschenwürde und Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit sind im wesentlichen erst in der Folge der französischen Revolution im christlichen Abendland nach und nach durchgesetzte Schutzwälle gegen Entwürdigung und Entrechtung und Unterdrückung und Menschenrechtsverletzungen.

Wer es zulassen will, daß in diese Schutzwälle (für vermeintlich gute Zwecke, wie etwa Verbrechensbekämpfung oder Terrorismusbekämpfun) Breschen geschlagen werden, der nimmt die Gefahr hin, daß die Schutzwälle insgesamt geschwächt werden, und in der Folge nach und nach weiter unterminiert und destabilisiert werden.

Menschenwürde und Menschenrechte effektiv zu schützen und zu verteidigen, erfordert, Menschenrechte und Menschenwürde absolut anzuerkennen, und auch nicht für bestimmte Personen (seien diese Personen auch so schlimm wie Gräfgen oder binLaden) zu suspendieren.

Eine auch bloß teilweise Suspendierung von Menschenwürde und Menschenrechten sollten wir nicht erlauben.

Für Mitglieder von Sicherheitskräften, die zum Schutz der Öffentlichen Sicherheit vor jeweils gegenwärtigen erheblichen Gefahren rechtliche Grenzen überschreiten, kann man in der Praxis durchaus auch ohne das Gebot der Menschenwürde zu relativieren oder ohne die Menschenrechte teilweise zu suspendieren, in den jeweiligen Einzelfällen (manchmal kreative) angemessene Lösungen finden, wie dies ja auch bereits seit vielen Jahren (mal mehr und mal weniger diskret) geschieht.

5

 zu # 1

Danke für die Erläuterung des Mignonette-Falls. Dazu möchte ich aus dem Essay zitieren (S. 12 f):

"Aber wir dürfen niemals einen Unschuldigen für unser eigenes Überleben opfern, wir können Leben nicht gegen Leben abwägen – auch wenn das andere Leben `nur` ein magerer, halbtoter Schiffsjunge ist oder wenn es ´nur´164 Reisende in einem Flugzeug sind. Der Richter in dem Fall`Die  Königin gegen Dudley und Stephens´brachte es auf den Punkt: `Wie schrecklich die Versuchung war, wie schrecklich das Leiden (der Seeleute) … Aber wie soll der Wert von Leben verglichen werden?´  Dann heißt es weiter: `Soll es Kraft sein oder Intellekt oder etwas anderes? … In dem Fall wurde das schwächste, das jüngste, das widerstandsloseste Leben gewählt. War es richtiger, ihn zu töten, als einen der erwachsenen Männer? Die Antwort muss lauten: `Nein`."

 

 

zu # 2

 

Sie haben meine volle Zustimmung: "Wer Menschenwürde und Menschenrechte und Bürgerrechte schützen will,  der sollte vielleicht nicht ausschließlich bloß juristisch argumentieren.“

 

Jährlich stellt Prof. Dr. Reinhard Zimermann in der NJW die juristischen Bücher des Jahres vor und in diesem Jahr ist u.a.das Buch von Peter Bieri "Eine Art zu leben: Über die Vielfalt menschlicher Würde"

in die Empfehlungsliste aufgenommen worden. Die "Laudatio" für dieses Buch belegt anschaulich, dass das Thema "Menschenwürde" umfassender als nur juristisch anzugehen ist.

 

Hier die Besprechung im Wortlaut:

 

"Peter Bieri hat sich sowohl als Philosoph wie als Romanschriftsteller einen Namen gemacht; sein „Handwerk der Freiheit“ und sein „Nachtzug nach Lissabon“ waren Bestseller. Bieris neues Buch „Eine Art zu leben“ handelt seinem Untertitel gemäß von der „Vielfalt menschlicher Würde“. Es ist keine systematische Abhandlung, sondern der Versuch eines wachen und genauen Blicks auf die mannigfaltigen Erfahrungen, die wir mit dem Wort „Würde“ einzufangen suchen. Diese Erfahrungen sichtbar und verstehbar zu machen ist das Ziel Bieris.

Ihren Ausgang nimmt die von Bieri unternommene Erkundungsreise bei dem anthropologischen Befund, dass das Leben des Menschen als denkendem, erlebendem und handelndem Wesen zerbrechlich und stets gefährdet ist. Der Versuch, diese Gefährdung in Schach zu halten und unser Leben selbstbewusst zu bestehen, macht Bieri zufolge unsere Würde aus. Würde ist demnach nicht primär ein Wert oder der Gegenstand eines Rechts, sondern eine Lebensform. „Es kommt darauf an, sich von erlittenen Dingen nicht nur fortreißen zu lassen, sondern ihnen mit einer bestimmten Haltung zu begegnen, die lautet: Ich nehme die Herausforderung an.“ Ob es dem Einzelnen gelingt, diese Haltung auszubilden und durchzuhalten, hängt, wie Bieri hervorhebt, nicht nur davon ab, wie er von den anderen behandelt wird, sondern auch davon, wie er selbst mit anderen umgeht: „Wenn jemand einem anderen die Würde nimmt, verspielt er seine eigene.“

In dem Maße, in dem unsere Würde davon abhängt, wie andere uns behandeln, ist sie laut Bieri „in der Erwartung, dem Anspruch und dem Recht begründet, nicht bloß als Mittel zu einem Zweck benutzt, sondern als Selbstzweck behandelt zu werden“. Diese Formel ist jedem Juristen bekannt. Bei ihrer Anwendung auf konkrete Konfliktfälle, vom Zwergenweitwurf über den Abschuss entführter Flugzeuge bis zu Folter und aktiver Sterbehilfe, ist Bieri zufolge der Tatsache Rechnung zu tragen, „dass moralisch gewichtige Situationen sehr dichte Situationen sind und dass keine der anderen gleicht“. Mit einem „bürokratischen Blick“, der sich an starren Imperativen und Maximen orientiere, komme man der normativen Ambivalenz derartiger Sachlagen nicht bei. Es bedürfe vielmehr einer „moralischen Sensibilität“, die sich dieser Vieldeutigkeit stelle, statt die den eigenen Präferenzen zuwiderlaufenden rechtsethischen Intuitionen von vornherein für illegitim zu erklären.

Wie schmerzhaft dieser Prozess der Selbstverunsicherung sein kann, illustriert Bieri anhand eines ticking bomb-Szenarios: Der verhörende Polizist droht dem gefangenen Terroristen an, er werde erhängt werden, wenn er nicht endlich rede. Einerseits scheine die rechtsethische Verwerflichkeit eines solchen Verhaltens auf der Hand zu liegen. „Eine Würde, die verhandelbar ist und im Prinzip auch zur Disposition gestellt werden kann: Das ist doch eigentlich keine mehr.“ Andererseits müsse man gestehen: „Wir wären, wenn die Dinge so geschehen würden, froh, heilfroh, dass er zur Schlinge greift. Es wäre albern und unaufrichtig, das zu leugnen.“ Wie man sich in dieser Situation auch immer positioniert, es bleibt ein massives, womöglich sogar erdrückendes Unbehagen zurück. Moralische Überlegenheitsgesten sind jedenfalls denkbar fehl am Platz.

Insgesamt führt Bieris Kartographierung der labyrinthisch verzweigten Vielfalt unserer lebensweltlichen Würdeerfahrungen den Juristen eine Art des Zugangs zu einem ihrer Leitbegriffe vor, der zwar nicht der ihrige sein kann, ihnen aber die Begrenztheit ihres eigenen Blicks eindringlich vor Augen führt. Der Fachmann wird in Bieris Buch kein Argument finden, das er nicht schon anderswo gelesen hat. Aber er wird mit anderen Augen darauf schauen."

Die Würde ist ein ausfüllungsbedürftiger Begriff, deren festgeschriebene "Unantastbarkeit" keine Einzelfallresultate vorschreibt. Das ist auch verfassungsrechtlich gewollt.
Für die Entscheidungen, ob nun eine lebenslange Freiheitsstrafe, Folter oder die Todesstrafe grundrechtlich ausgeschlossen ist, gibt es keine juristischen Argumente, weil sie von der gegenwärtigen und subjektiven Ausfüllung dieses Begriffs abhängen. Deshalb ist mir der verlinkte Thread zu den Ansichten von Jurastudenten auch zu theatralisch.

Misstrauen ist vielmehr dann angebracht, wenn so getan wird, als sei ein bestimmtes, von einer Wertentscheidung abhängiges Ergebnis durch objektives Recht festgelegt. Das BVerfG hat dazu leider selbst mit der Umdeutung einer bloßen Rechtsordnung in eine "objektive (!) Werteordnung" unsägliche Vorarbeit geleistet. Leider sieht es die deutsche Rechtstradition, weit mehr als etwa die angelsächsische, vor, dass Richter ihre Ansichten mit solchen Taschenspielertricks dem staunenden Volk als objektiv verkaufen müssen.

3

Das juristische Recht ist nicht Ordnungsprinzip des Lebens. Es bildet einen Rahmen, ein Raster zur Orientierung und einen Minimalkonsens. Leider wird das vergessen, gerade auch von Juristen.

Die juristische Folterdiskussion im Fall Gäfgen hatte mich damals sehr überrascht. Da blitzte bei mir erstmals bewusst auf, dass sich Einige (vor allem wohl Juristen) das Recht als Bedienungsanleitung für das Leben vorstellen. Ein armseliges Leben.

Dabei wäre es juristisch ganz einfach. Einzige Voraussetzungen: Verfassungstreue Gesetzgeber und gesetzestreue, fähige Juristen.

Im Fall Gäfgen bestand für die Ermittler eine emotional schwierige Situation, ganz klar. Der Ermittler muss sich persönlich entscheiden, bleibt er beim Recht und lebt mit dem Gefühl zur Rettung des Kindes nicht alles versucht zu haben oder setzt er sich aus eigener Verantwortung und Gewissensgründen über das Recht hinweg und droht mit Folter. Eine Straftat, die bei Bekanntwerden zur Verurteilung führen muss. Bei einer Rettung des Kindes, hätte man über Strafe wohl nicht lange nachdenken müssen. Wer sollte dann eigentlich Opfer sein? Gäfgen, der dann kein Mörder gewesen wäre? Der reale, erfolglose Fall kommt vor einen korrekten Richter, der die sauber aufgeklärte Zwangssituation in Urteil und Strafmaß berücksichtigt. Damit muss der verhinderte Held leben. Das war sein Einsatz. Für alle anderen Optionen wie Rettungsfolter etc. gibt es logisch und menschlich keinen Platz in einem Rechtsstaat.

4

"In dem Maße, in dem unsere Würde davon abhängt, wie andere uns behandeln, ist sie laut Bieri „in der Erwartung, dem Anspruch und dem Recht begründet, nicht bloß als Mittel zu einem Zweck benutzt, sondern als Selbstzweck behandelt zu werden“."

 

Und für diesen Satz. Ich werde ihn auswendig lernen, obwohl auswendig lernen meine Schwäche ist. 

3

Es kann moralisch richtig sein, was juristisch verboten ist - und umgekehrt.

Im Fall Gäfgen mag man moralisch richtig finden, den Täter zu bedrohen. Erlaubt war es aber nicht. Und dieses Folterverbot ist richtig. Von den Regimen, die Folter praktizieren, sollte sich die BRD weiterhin abgrenzen, so wie bisher m. E. erfolgreich geschehen. Denn wer die "kleine" Folter erlaubt, muss damit rechnen, dass die Praxis das weit auslegt und man faktisch dann sehr viel mehr erlaubt hat, als man eigentlich erlauben wollte.

Pragmatisch betrachtet, kann Folter vernünftig sein. Jedoch wäre es pragmatisch auch richtig, all die drogenabhängigen Kleinkriminellen friedlich einzuschläfern - denn mal ehrlich, die Rehabilitationsquote ist so gering, dass sich diese Anstrengungen rein wirtschaftlich kaum lohnen. Werden die wenigen Rehabilitierten mehr Steuern zahlen, mehr zum BIP beitragen, als die Rehabilitation, die Straftaten, die Strafen der anderen kosten werden? Sicherlich nicht. Und eine Herzoperation für eine 83jährige ist ebenfalls wirtschaftlich wenig sinnvoll. Wir entscheiden aber eben nicht nach reinem (scheinbaren) Pragmatismus, nach kurzfristiger Wirtschaftlichkeit, sondern haben so etwas wie ein Gewissen - und langfristig mag es sogar wirtschaftlich besser sein, weiterhin so etwas wie Mitgefühl und Anstand zu zeigen. Wie wäre eine Gesellschaft, die fallen lässt, wer sich nicht mehr rechnet, die foltert und tötet, wer sich daneben benimmt? Vermutlich keine, in der man leben wollen würde, und vermutlich auch keine, die in wirtschaftlicher Hinsicht besonders gut funktionieren würde.

In moralischer Hinsicht mag man im Einzelfall anderer Meinung sein. Held ist, wer Grenzen überschreitet - Grenzen der Vernunft, der Rücksichtnahme auf eigene Interessen, manchmal auch des Rechtes. Die am gescheiterten Hitler-Attentat vom 20.07.1944 würden wir wohl als (gescheiterte) Helden betrachten. Aber rechtlich wären sie wohl sogar als Mörder zu betrachten, denn auch unser guter Gröfaz war ein Mensch, den durch Hinterlist zu töten in § 211 StGB verboten war.

Doch würde man ein moralisches Urteil fällen über den Polizisten, der das Leben eines Kindes zu retten versucht und dabei eine rechtliche Grenze überschreitet? Nein. Als Richter würde ich persönlich ihn verurteilen, die Umstände bei der Strafzumessung berücksichtigen und ihm als einem anständigen Mann, dem ein anderer anständiger Mann eine Strafe aufbrummen muss, die Hand schütteln. Und hoffentlich würde er verstehen, dass er dafür eine Strafe bekommt, die weniger Anständigen von der Nachahmung seines Verhaltens abzuschrecken. Als Held gehört es häufig dazu, einen Preis für die Tat zahlen zu müssen, der wenig gerecht ist.

Rechtlich bieten StPO und StGB genügend Möglichkeiten, durch Strafmilderung, Einstellung, Entschuldigung usw. auf diesen Konflikt zwischen Moral und Recht zu reagieren. Die Konstitution unserer Gesellschaft und der Richterschaft ist hoffentlich stabil genug, hier keinen Missbrauch einziehen zu lassen.

5

Leser schrieb:

Es kann moralisch richtig sein, was juristisch verboten ist - und umgekehrt.

 

In moralischer Hinsicht mag man im Einzelfall anderer Meinung sein. Held ist, wer Grenzen überschreitet - Grenzen der Vernunft, der Rücksichtnahme auf eigene Interessen, manchmal auch des Rechtes.

Doch würde man ein moralisches Urteil fällen über den Polizisten, der das Leben eines Kindes zu retten versucht und dabei eine rechtliche Grenze überschreitet? Nein.

Der Witz ist doch, dass die Grenzen des Rechts überaus verhandelbar sind.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich den Gäfgen-Fall je nach Tagesform anders beurteile. 

Was mich nur bei dem allgemeinen Tugend-Konsens "Man kann Menschenleben nicht gegeneinander aufrechnen" gestört hat, ist der Umstand, dass das Recht -soweit ich weiss- den finalen Rettungsschuss durchaus im Einzelfall billigt, um dem Opfer in einer Geiselnahmesituation durch Tötung des Geiselnehmers das Leben zu retten.

Wie ungleich milder erscheint mir im Gäfgen Fall doch die tatsächlich getroffene  Wortwahl des damaligen Polizisten in dessen vermeintlichen Notstand.

 

1

@Leser

Ich bin nicht sicher, ob ich den Inhalt der Diskussion richtig verstehe.

Das Folterverbot leitet sich m.E. aus der persönlichen Freiheit i.e.S ab. Dieser Schutz der psychischen Integrität wird durch Art. 2 GG i.V. Art. 3 EMRK u. Art.7 S.1 UNO-Pakt II wird absolut gewährt (Art. 15 Abs. 2 EMRK).

 

Nach meiner Auffassung wird also durch das Androhen der Folter nicht primär die Menschenwürde des Betroffenen tangiert. Vielmehr wird in den absoluten Schutzbereich von Art. 2 GG eingegriffen.

Wenn also auf die Begrifflichkeit der Menschenwürde abgestellt wird, frage ich mich vielmehr, ob es nicht eben dieser im Sinne des Entführungsopfers Gäfgens widerspricht, von ihm zu verlangen, es ertragen zu müssen, zwecks Aufrechterhaltung der juristischen Ordnung auf Massnahmen zu verzichten, die zu seiner Rettung führen könnten. 

Wenn im Fall Gäfgen ein Umgang in Frage steht, das der Menschenwürde widersprechen könnte, dann ist es doch der Umgang mit dem Opfer als Objekt eines Theorems.

 

Aber vielleicht verstehe ich das alles auch falsch...

2

Ok, ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil..  ;-)

Nach huschem Querlesen hat die Kammer im Gäfgen Fall nicht Folter angenommen, sondern eine "unmenschliche Behandlung" i.S. von Art 3 EMRK und sich somit mit dem Begriff der Menschenwürde auseinandergesetzt.

 

 

3

@Max Mustermann

"Die juristische Folterdiskussion im Fall Gäfgen hatte mich damals sehr überrascht. Da blitzte bei mir erstmals bewusst auf, dass sich Einige (vor allem wohl Juristen) das Recht als Bedienungsanleitung für das Leben vorstellen. Ein armseliges Leben." schrieb ich oben und Sie bestätigen mir meinen Eindruck.

Ich will mich nicht auf juristische Detailfragen stürzen, sondern wie auch Leser am 11.11. darauf hinweisen, dass Moral und Recht nicht identisch sind und Helden eigenverantwortlich auch Recht brechen (können / müssen). Das schützt sie nicht vor den Konsequenzen der Rechtsverletzung und darf es auch nicht. Genauso kann das juristische Recht Opfern selbst bei bester Formulierung und Durchsetzung nicht unbedingt Wiedergutmachung verschaffen, oft nicht einmal Genugtuung.

Das juristische Recht ist also kein Einzelfallrecht nach Stimmungslage, sondern allgemeine Vorschrift für rechtsstaatliche Verfahrensweisen, die auf den Einzelfall in angemessener Weise anzuwenden sind. Wie sollte eine Androhung von Rettungsfolter denn juristisch und praktisch umgesetzt werden, ohne ein Scheunentor für den Missbrauch des Gewaltmonopols des Staates zu eröffnen?

Leider liegen in der staatlichen Umsetzung von behaupteten Selbstverständlichkeiten zum rechtstaatlichem Verhalten durch Gesetzgeber, Richter, Staatsanwälte, Polizei viel größere Probleme als im Verhalten der schutzbefohlenen Bevölkerung oder in dramatischen und speziellen Kriminalfällen. Es gibt immernoch die unbestrittene Schätzzahl 25% Fehlurteile oder Fehleinschätzungen, dazu Unwillen, Unfähigkeit, Komplizen- und Kameradschaft und juristische Praktiken der Rechtsverweigerung durch Amtspflichtverletzungen. Das ist durchaus als systematisch angelegt bekannt und soll aber durch Verschweigen und Verleugnen marginalisiert werden. Könnten Sie sich vorstellen, das in anderen Bereichen 25 % Fehlerrate einfach akzeptiert würden, ohne den Tatsachen und Ursachen nachzuforschen?

Beim Staat und in der Justiz arbeiten nur sehr wenige Helden, es sei denn man zählt die verantwortlich und korrekt arbeitenden Juristen in einem insgesamt eher ungünstigen Umfeld schon als Helden. Nach meiner Einschätzung und Erfahrung mit der Justiz wäre das allerdings angemessen.

3

@Lutz Lippke

Vorweg darf ich anmerken, dass ich mich von dem verklausulierten Vorwurf der Lebensuntüchtigkeit in dem von Ihnen beschriebenen Sinne überhaupt nicht angesprochen fühle.

Gerade das Gegenteil nehme ich für mich in Anspruch: Das selbstätig reflektieren über Recht und Unrecht. Frei von der Vorstellung, das einmal gesetzte Recht sei wie Gottes Gebote auf ewig in Stein gemeisselt. (Und auch die haben das ja nicht lange überstanden, wenn Sie sich die Geschichte in Erinnerung rufen...)

Ich kann mich mit Ihrer Vorstellung allgemeiner Vorschriften rechtsstaatlichen Handelns als Selbstzweck so gar nicht anfreunden.

Denn ob eine solche allgemeine Verfahrensweise sich als tauglich erweist, kann sich ja nur am Einzelfall erweisen. Gerade im konkreten, einzigartigen Lebensfall entzündet sich doch die Legitimationsfrage. Die Diskrepanz, was Recht ist und was Recht sein soll, ist kein theoretischer sondern ein geradezu lebenspraktischer Bruch. 

Vielleicht verlangt das Recht von allen auch ungerechte Konsequenzen bei Überschreitungen zu akzeptieren und zu erdulden. Aber auf Dauer?

Und gleicht Ihr Vortrag dann nicht vielmehr der von Ihnen so verachteten "Lebensanleitung"?

Warum soll man sich den schämen, in solch Grenzsituationen sich seine eigene Ambivalenz einzugestehen?

Gerade wenn das Rechtssystem ja selbst den finalen Rettungsschuss nicht nur in der richterlichen Anwendung straflos stellt, sondern ihn durch explizite Festsetzung in verschiedenen Polizeigesetzen geradezu legitimiert und damit in sich sich schon ambivalent präsentiert.

 

Es gibt eben Gründe für beide Lösungen. 

Warum Rettungsfolter strafbar ist. Rettungsschüsse es aber nicht sind, wirft doch Fragen auf.

Diese Frage umschiffen Sie elegant, stattdessen verweisen Sie m.E zu Recht auf Gefahr des Missbrauchs bei weiteren Fällen hin. 

Womit wir also nicht vor einem ethischen Problem oder Moralphilosphischen Dilemma stehen, sondern vor der praktischen Erkenntnis, dass dem Menschen nicht zu trauen ist und er missbraucht, was ihm gegeben wird.

Mit solch pragmatischen Einsichten sind wir dann aber weg von der schöngeistigen Vorstellung der Unantastbarkeit der Menschenwürde, dessen Behandlung, wie mir scheint, sowieso den akadamischen Kreisen vorbehalten ist.

Die Betroffenen selbst kommen anscheinend auch ohne diese geschichtliche Last ganz gut zu Recht.

Und nicht nur die. Auch der amerikansichen Verfassung sind derartige Dünkel, soweit mir bekannt, gänzllich fremd. 

 

 

 

 

 

2

"Warum Rettungsfolter strafbar ist. Rettungsschüsse es aber nicht sind, wirft doch Fragen auf."

Eine berechtigte Frage. Einige Unterschiede gibt es schon, aber wirklich präzise kann ich daran auch nicht erklären, wieso das eine erlaubt ist, das andere nicht. Es scheint sich mir darum zu drehen, dass beim finalen Rettungsschuss tendenziell in einer ganz konkreten Gefahrensituation etwas unternommen wird, bei Folter aber etwas überlegtes, planvolles passiert. Nun kann auch der Rettungsschuss geplant sein, die Folter sehr spontan erfolgen.

Weiß jemand eine Antwort? Gebildet sei dafür folgender Fall:

Drei Terroristen haben in einem Krankenhaus Geiseln genommen, alles weiße, schwangere Krankenschwestern, die in ihrer Freizeit kranke Hundelwelpen pflegen, Mitglied der gerade regierenden Partei sind, keine Vorstrafen aufweisen und ihre Steuern ein Jahr im Voraus zahlen.

- Einer der Geiselnahmer hält einer Geisel eine Pistole an den Kopf - ein Polizist schießt ihm in den Kopf, damit er nicht mehr abdrücken kann. Der Geiselnehmer stirbt, die Geisel überlebt.

- Ein zweiter Geiselnehmer verhält sich genau so. Ein Polizist hat jedoch seine Waffe verloren und wirft ihm einen herumstehenden Becher mit Säure ins Gesicht, damit er vor Schmerzen hinfällt. So geschieht es. Der Geiselnehmer überlebt, ist aber schrecklich entstellt und leidet unter starken geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen.

- Ein dritter hat einer Geisel einen Sprengstoffgürtel mit Zeitzünder umgebunden, der in 5 min explodieren wird. Der Gürtel ist nicht zu entfernen und muss mit einem Code entschärft werden. Ein Polizist entwaffnet den Bankräuber, der aber den Code nicht verraten will, um so seine Freilassung zu erpressen. Der Polizist bricht ihm nach und nach Finger, bis der Bankräuber den Code verrät. Frau und Geiselnehmer überleben.

- Der Kopf der Bande wird etwas später entdeckt. Auch er hat eine Geisel gleicher Bauart genommen und vermint, der Zeitzünder ist aber auf 30 Tage eingestellt. Eine Entschärfung mag ohne den Code gelingen oder auch nicht. Ein Polizist bricht ihm nun jeden Tag einen Finger, bis er den Code verrät.

Eine junge, engagierte Staatsanwältin mit größerer Liebe für Terroristen als Krankenschwestern klagt alle vier Polizisten wegen verschiedener Körperverletzungs- und Tötungsdelikte an. Ein kurz vor der Pension sehr entscheidungsfreudig gewordener Richter lässt die Anklage zu. Es kommt zur Hauptverhandlung . Wer sollte verurteilt werden und warum? Und was sagt das Publikum aus Philosophen, Thelogen und Lehrern dazu?

2

@Leser

Gestern war immerhin der 11.11., aber nicht der 1.April. Aber manche sind ja das ganze Jahr jeck;-)

@ Max Mustermann

Ich habe Sie persönlich nicht in diesem Sinne angesprochen oder gemeint. Ich kenne Sie doch gar nicht. Meine Aussage war grob und etwas provokativ. Für die Missverständlichkeit entschuldige ich mich höflichst.

Zu den trotzdem ernsthaft aufgeworfenen Fragen gibt es oder sollte es notwendigerweise rechtstheoretische Antworten zur Rechtssystematik, praktische Antworten und moralisch-gesellschaftliche Antworten geben. Rechtstheorie ist etwas für Experten, ich kenne seit Kurzem nur die "Schweinehundtheorie". Darüber würde ich auch diskutieren wollen. Praktische Fragen müssten durch Fallanalysen aus verschiedenen Blickwinkeln, Rollenverständnissen und Kontexten beantwortet werden. Auch dafür benötigt man zumindest ergänzend Experten. Schnellschüsse durch stringentes Erzählen von moralisch aufgeladenen Fallbeispielen oder wie häufig aufgrund aktueller realer Einzelfälle sind vollkommen fehl am Platz. Wesentlich ist aber Relevanz, Häufigkeit, Neben- und Folgewirkungen nicht außer acht zu lassen. Die Denkverkürzung "Ein Fall - Ein Urteil - Weglegen" ist selbst für einfache Rechtsfälle in der deutschen Justiz keine Selbstverständlichkeit. Da gibt es ein Füllhorn von Schwachstellen, die durch Aktionismus in moralisierten Randthemen verdrängt werden. Moralisch-gesellschaftlich sollte nach meiner Meinung das Strafrecht insgesamt nicht überbewertet werden. Natürlich schreckt Haftstrafe von falschen, meist affektiv veranlassten, strafbaren Reaktionen ab. Aber weit überwiegend nur dann, wenn zuvor massive Verletzungen der Menschenwürde oder Störungen der sozialen Entwicklung sich aufsummiert haben und zu emotionalen Überreaktionen führen. Es gibt wohl die Einschätzung, das jeder zum "Unmenschen" werden kann, es muss nur das Maß voll sein, oben noch etwas drauf kommen und das Gefühl bestehen, die Selbstbehauptung nur durch Straftat sichern zu können. Selbst krasse Mitmenschen tendieren nicht anlasslos zu menschenverachtenden Straftaten ohne sich für diesen "Ausnahmefall" eine moralische Rechtfertigung zu basteln. Die Todesstrafe ist wohl auch deswegen abgeschafft, weil man sich eben nicht auf das gleiche klapprige moralische Kartenhaus stellen will, wie z.B. Auftragskiller.   Verharmlosung von Gewalt in Medien und die gesellschaftliche Missachtung der Prinzipien der guten Nachbarschaft, des Leben und leben lassen, Machtasymmetrien, Verachtung für Gescheiterte etc. führen sicher zu mehr Gewaltbereitschaft bis hin zu Terrorismus, als ein rigides Strafrecht mit Totalermächtigung verhindern könnte. Gesellschaftlich gesehen ist also Strafrecht eine falsche Fährte für die gesellschaftliche Regulierung, zumindest wenn es isoliert von sozialen und psychologischen Fragen gesehen wird. Gerade Ausnahmefälle etwas für sachliche Experten und erfahrene Praktiker, die ihre Abwägungen transparent darlegen und ohne moralische Aufladung zur Diskussion stellen sollten. Für eine sachliche, methodisch fundierte Diskussion, die die Beteiligung der Gesellschaft ermöglicht.     

4

@Max Mustermann

Meine Reaktion war vielleicht etwas unwirsch, aber nicht unbegründet. Ich bin gerade persönlich mit dem Abfassen von Stellungnahmen etc. beschäftigt. Da würde ich gern Grundsätzliches reinschreiben, was aber kontraproduktiv ist. Das schlägt dann hier durch.

"Und wenn man schüchtern fragt, warum man -um das Opfer zu befreien- einem Kidnapper zwar eine Kugel in den Kopf jagen, aber keinesfalls dessen Fusssohlen mit einem Federkiel kitzeln darf, dann raten Sie, doch erstmal eine Reihe von Experten zu konsultieren."

Gut das Sie zu schüchtern zum Fragen waren. Sie wissen es natürlich auch besser. Ich nehme Ihre Polemik einfach mal ernst und behaupte, dass "man" mit der Kugel unweigerlich verurteilt wird, wenn unleugbar der Federkiel gereicht hätte. Wenn Sie aber behaupten, Androhen von Folter wäre harmlos wie Kitzeln mit dem Federkiel, dann geht es eigentlich nicht mehr um die Kugel. Seien Sie dann ehrlich und beschränken sich darauf, dass "Androhen von Folter" oder unmenschliche Behandlung nach Ihrer Meinung juristisch nach Bedarf auslegbar sein soll. Fordern Sie doch gleich ein Ermächtigungsgesetz. Grund- und Menschenrechte nur nach Bedarf und guter Führung. Der Richter entscheidet nach billigem Ermessen und freier Überzeugung. Gruselig.

5

@Lippke

Ich bin gerade auch ziemlich beschäftigt, daher konnte ich nicht schnell genug antworten, bevor der Radiergummi über uns gekommen ist.

 

Sie haben nämlich Ihren Gedankengang mit einer schönen Bemerkung geendet gehabt.

Mit der "Rechtfertigung der Metaebene" und genau darum ging es nämlich beim Gäfgen-Urteil.

Und damit käme man in eine wunderbare Diskussion über Bedeutungsinhalt und Tragweite von Art. 1GG sowie die rechtsdogmatische Konzeption im deutschen Recht.

Andere Rechtssysteme kennen diesen Satz in der Form nicht. Kommen aber zum selben Ergebnis.

Man wird den Eindruck nicht los, dass im Gäfgen Urteil an dem Polizisten einfach ein Exempel statuiert wurde. Und zwar vor dem Hintergrund eben gerade dieser deutschen Eigenart der Behandlung von Art.1 GG.

Ich bin manchmal halt nicht sicher, ob es dem Ansehen der deutschen Rechtssprechung nicht besser getan hätte, man hätte den Polizisten straffrei gestellt. Den Unrechtsgehalt bezweifelt ja keiner, bei den Rechtfertigungsgründen wirds schon ziemlich eng.

Aber bei der Feststellung der Schuld?

Und alles applaudiert, bis hoch in die Professoren-Ränge. Schliesslich geht es ums Prinzip.

Und da sehen gerade Sie mit Ihrer Schweinehund Theorie keinen Ansatz, dass der Richter was gemacht hat, weil er es zwar irgendwie noch rechtfertigen kann, aber der Tat und dem Täter (Polizisten) damit gar nicht gerecht wird?

Ist doch auch irgendwie nicht koscher, oder nicht?

Das sagt letztlich viel über den Umgang mit Art.1 GG aus, was darzustellen ich jetzt aber auch nicht die Zeit habe.

 

 

 

 

1

@Max Mustermann

"Und damit käme man in eine wunderbare Diskussion über Bedeutungsinhalt und Tragweite von Art. 1GG sowie die rechtsdogmatische Konzeption im deutschen Recht." ..."Schliesslich geht es ums Prinzip."

Art.1 GG (1): Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Ich bin kein Experte. Ich würde aber die Theorie des Strafrechts im Grundsatz so einordnen, dass Handlungen strafbar sein sollen, mit denen die Würde des einzelnen Menschen nachhaltig und irreversibel geschädigt wurde oder werden sollte (Versuch ist strafbar). Dazu gehört auch, sozusagen als Recht des potentiellen Täters, die vorbestimmte Festlegung, welche Handlungen strafbar sind, der zugehörige Strafrahmen und die Regeln des Ermittlungs- und Strafverfahren. Es sollen also nicht alle rechtswidrigen Handlungen strafbar sein, sondern nur die, die besonders nachhaltig in die Grundrechte Anderer eingreifen und vorbestimmt sind. Denn Folge einer Verurteilung ist i.d.R. die nachfolgende Einschränkung der Grundrechte des Verurteilten, die jedoch erst mit der rechtskräftigen Verurteilung selbst rechtmäßig werden. Dafür müssen Ausschlusskriterien und Gewichtungen gefunden werden, die eine gleichermaßen systematische wie gerechte Ordnung ermöglichen. Insofern könnte man das StGB als einen multidimensionalen Sortierkatalog ansehen, der verschiedene Sortiersystematiken und Widersprüche zwischen den Kriterien beachten und mit dem Anspruch der gerechten Strafe verbinden soll. Denkt man das mal ins Positive verkehrt, könnte man diesen Katalog mit einer Bestenliste vergleichen, wobei für "das Beste" verschiedene, konkurrierende Kriterien vorliegen (multidimensional). Eine solche (gerecnte) Systematik kann nicht adhoc auf Grundlage von Einzelfällen erstellt werden, sondern bedarf wissenschaftlicher Durchdringung des Gesamten und Methodik der Kriterienbildung und -gewichtung. Deswegen mein Ruf nach theoretischen Experten. Warum die Systematik des Strafrechts von Juristen wohl als Strafrechtsdogmatik bezeichnet wird, würde mich z.B. schon mal grundsätzlich interessieren.

Ein solches idealisiertes, vorbestimmtes Kriteriensystem trifft auf eine ungeordnete Realität und muss für alle Fälle irgendwie Anwendung finden. Es versteht sich von selbst, dass dies nicht zu 100 % gelingen kann. Es gibt Fälle die sich der Systematik entziehen oder als ungerechtfertigt eingeordnet erscheinen. Bevor jedoch aufgrund von Einzelfällen die Systematik geändert wird, muss geklärt sein, dass es sich wirklich um einen Fehler der Systematik oder einer Ausnahme von der Regel handelt und nicht ein Mangel in deren praktischer Anwendung. Deswegen mein Ruf nach praktischen Experten.

Klar ist dem systematischen Grundsatz nach, dass Folter oder Folterandrohung strafbar sind. Die Ermittlungs- und Verfahrensregeln sehen Folter nicht als zulässige Methoden vor. Also strafbar unabhängig davon, ob der Geschädigte selbst Straftäter ist. Deswegen meine Mahnung, nicht  mit aufgeladener Moral und Aktionismus in der Systematik rumzupfuschen.

Moralische Einwände und Fragen der Gerechtigkeit sind wegen der Multidimensionalität der Kriterien und dem Zwang zur Vorbestimmtheit nicht vollständig lösbar. Deswegen gibt es einen Strafrahmen und diverse Möglichkeiten der Anpassung im Einzelfall. Dazu gehört auch immer wieder die Erkenntnis und das verletzte Gerechtigkeitsgefühl, dass Manches strafbar sein sollte, es aber nicht ist und Anderes manchmal nicht strafbar sein sollte, es aber z.B. aus systematischen Gründen sein muss. Das muss man nicht fatalistisch hinnehmen, aber zumindest beachten.

Fazit: Ich sehe bisher keine Möglichkeit in der Strafrechtssystematik (alias Strafrechtsdogmatik) so etwas wie Rettungsfolter unterzubringen. Das hindert aber nicht daran, einem unfreiwillig straffällig Gewordenen Verständnis und in der Sache Einzelfallgerechtigkeit zukommen zu lassen. Wenn man mit der Absicht eine untragbare Konsequenz zu vermeiden geplant eine Straftat begeht, sollte man sich dessen bewusst sein und die Mittel und Möglichkeiten, sowie die Konsequenzen für einen selbst abwägen. Dann muss man zu seiner Entscheidung stehen, kann dafür aber auch alle vorgesehenen Rechte in Anspruch nehmen.

 

0

@ Lutz Lippke: sind Sie denn der Meinung, Daschner und Ennigkeit seien unfreiwillig straffällig geworden, hätten also in dieser Situation - die eine rationale Erwägung erlaubte - keinen freien Willen gehabt oder gegen ihn gehandelt? Daschners Vorgehen (Verwerfen einer anderen - erlaubten - Möglichkeit, Gäfgen unter psychischen Druck zu setzen, Aktenvermerk und die Benachrichtigung der StA darüber) spricht eine andere Sprache.

@Mein Name

Ich bin keiner Meinung zu Daschner und Ennigkeit, denn ich habe weder ermittelt, noch mich privat so intensiv mit dem Fall beschäftigt, dass ich hierzu "Feststellungen" treffen wollte. Bekannt ist mir, dass sich die Polizisten auf eine Notsituation berufen. Dazu meinte ich: Wenn man mit der Absicht eine untragbare Konsequenz zu vermeiden geplant eine Straftat begeht, sollte man sich dessen bewusst sein und die Mittel und Möglichkeiten, sowie die Konsequenzen für einen selbst abwägen. Dann muss man zu seiner Entscheidung stehen, kann dafür aber auch alle vorgesehenen Rechte in Anspruch nehmen.

Dazu gehört im Bereich des Strafrechts natürlich auch die Aussageverweigerung und alle anderen denkbaren Wege zur eigenen Entlastung, die nicht selbst wieder als Straftat festgestellt werden.

Dass mit dem "freien Willen" taugt sowieso nicht wirklich als Grundlage fürs Strafrecht, denn dessen Existenz ist faktisch gar nicht gesichert. Wir kennen bisher nur den phänomenalen Zustand des "freien Willen", der auch auf Einbildung beruhen kann. In meinem Kommentar hatte ich allerdings mehr die Frage thematisiert, in welchem grundsätzlichen Rahmen das Strafrecht ein schlüssiges Regulierungsmittel sein kann. Vielleicht zum Verständnis eine einfache Analogie:

"Die Zahl 2 ist Nachfolger der Zahl 1". Diese Aussage trifft absolut zu, allerdings nur im Bereich der natürlichen und ganzen Zahlen. Wer die Regeln dieses Bereichs z.B. einfach in den Bereich der rationalen Zahlen überträgt, begeht einen grundsätzlichen Fehler und baut dann systematisch Mist.

Strafrecht braucht also einerseits eine systematische Grundlage, die nicht allein auf dem Konzept "freier Wille" beruhen kann. Vor allem aber, benötigt das Strafrecht die Bestimmung eines Geltungsbereichs, für den die Regeln dann möglichst widerspruchsfrei funktionieren. Die wohl verbreitete Unfähigkeit diesen Geltungsbereich klar zu bestimmen und einzuhalten, weist auf erhebliche Defizite hin. Ob ich z.B. einen strafrechtlich verurteilten Bankräubers auch moralisch verurteile, könnte ich auch davon abhängig machen, wie ich den straffreien Betrug des Bankmanagers bewerte. Das hat dann aber nichts mit Strafrecht und dem "freien Willen" zu tun.          

0

@ Lutz Lippke: ich bin der Ansicht, dass die richtige Bedeutung der gebrauchten Worte sehr wohl eine Grundlage für das Recht, insbesondere für das Strafrecht sein muss und dort für die Beurteilung, ob jemand schuldhaft gehandelt hat, um eine von ihm subjektiv empfundenen (oder im Nachhinein behauptete) Notlage abzuwenden oder ob ihm andere Möglichkeiten zur Verfügung standen.

Und es gibt wenige Wörter, deren Bedeutung sich so einfach aufschlüsseln lässt wie un-frei-will-ig. 

Man kann natürlich lange darüber philosophieren, ob in einer ähnlichen, aber insofern anderen Situation, dass der Täter subjektiv keine andere Möglichkeit mehr sah, der Tatbestand zwar erfüllt ist, aber wegen eines "übergesetzlichen Notstands" nicht schuldhaft gehandelt haben soll. Da es dabei immer auf die genauen Umstände des Einzelfalls ankommt (weswegen ich mich auch auf einen solchen bezogen habe), halte ich das für fruchtlos und schon gar nicht für einen Ansatzpunkt dafür, eine "Rettungsfolter" einzuführen.

Insofern stimme ich mit Ihrem o.g. Fazit völlig überein.

Kommentar hinzufügen