Wie können sinkende Kriminalitätsraten erklärt werden?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 03.01.2015

Vor ein paar Monaten schrieb ich von der langfristigen Kriminalitätsentwicklung in Deutschland: Sowohl Hell- als auch Dunkelfeldstudien zeigen, dass dem in der ersten Hälfte der 1990er Jahre gemessenen Höhepunkt ein langfristiger Abwärtstrend folgte.

In den USA, mit ihren insgesamt deutlich höheren Kriminalitätsraten ist eine entsprechende Entwicklung etwas früher einsetzend und noch viel deutlicher zu beobachten: Bis 1990 stiegen dort die Zahlen an, um danach, bis heute, gravierend zurückzugehen, etwa auf den Stand von 1960. Diese Trendwende ist so unübersehbar, dass sie inzwischen eine kriminologische Generaldebatte ausgelöst hat, worin die Ursachen dieser Trendwende liegen könnten. „The Marshall Project“, ein US-basiertes fachjournalistisches Magazin, das sich mit Kriminologie und Kriminaljustiz befasst, hat nun zehn der („nicht völlig verrückten“) kriminologischen Hypothesen zum Kriminalitätsrückgang zusammengestellt. Diese Hypothesen waren zuvor Gegenstand einer kriminologischen Fachkonferenz (Roundtable on Crime Trends im November 2014)

1. Der „Abtreibungsfilter“ bezeichnet die These, dass die Legalisierung der Abtreibung für eine durchschnittlich höhere Qualität der Erziehung gesorgt habe (weniger unerwünschte und daher schlecht behütete Kinder und Jugendliche).

2. Die Ritalin-These behauptet, die verstärkte Medikation von ADHS-betroffenen Kindern und Jugendlichen habe für den Rückgang der Kriminalität gesorgt.

3. Die Blei-These geht davon aus, die Verbreitung des Schadstoffs Blei (Farben / Kraftstoffe) habe zunächst durch langfristig verhaltenswirksame Schädigung für den Anstieg der Kriminalität gesorgt. Das sukzessive Verbot (insb. verbleiter Kraftstoffe) habe dann mit 15 bis 20 Jahren Verzögerung für die Verringerung der (Gewalt-)Kriminalität gesorgt. Dieser These bin ich in einem Beitrag nachgegangen, der in der Gedächtnisschrift für Michael Walter (2014) erschienen ist.

4. Demographie-These (Alterung der Baby-Boomer-Generation): Die kriminell aktivste Altersgruppe wächst aus der Kriminalität heraus bzw. die große Anzahl Älterer kontrolliert die Jugend besser.

5. Die Technik-These: Klimaanlagen, Internet, Online-Banking, Kartenzahlung, Video-Überwachung und elektronische Wegfahrsperren sorgen dafür, dass Kriminalität, zumindest auf der Straße, zu schwierig bzw. wenig gewinnträchtig geworden ist. Zugleich macht es die neue Unterhaltungstechnik Jugendlichen bequemer, sich zuhause zu vergnügen.

6. Der Zusammenbruch des Crack-Booms: Man ist sich einige, dass ein wesentlicher Anteil der Großstadtkriminalität mit dem Crack-Boom in den USA (1980er) zu tun hatte, der allerdings nur eine Generation anhielt. Nachdem dieser vorbei war, gingen damit zusammenhängende Straftaten drastisch zurück.

7. Wirtschaftsentwicklung und Obama: Der wirtschaftliche Aufschwung während er 1990er Jahre habe zunächst die Leute von der Straße geholt, bislang sei der Zusammenhang zwischen Inflation und Kriminalitätsrate zu wenig beachtet worden. Nach der Krise von 2008/2009 habe zudem die Hoffnung der Jugend in die Präsidentschaft Obamas einem erneuten Trend zu mehr Straftaten entgegengewirkt.

8. Die Einsperrungsrate hat sich in den USA von 1970 bis 1990 vervierfacht. Wenn auch nur ein Bruchteil der Gefangenen in der Freiheit Intensiv-Straftäter geworden wären, hätte man durch ihre Inhaftierung eine erhebliche Anzahl von Straftaten verhindert.

9. Veränderte Polizeitaktik: In amerikanischen Großstädten hat man seit Mitte der 1980er Jahre mit verschiedenen Reformen versucht, die polizeiliche Kriminalprävention zu verbessern (Null-Toleranz, vermehrte Streifentätigkeit, community policing); einige dieser Strategien könnten Erfolg gehabt haben.

10. Einwanderung und Gentrifizierung: Gerade die (zu einem großen Teil illegale) Einwanderung aus Zentralamerika habe dafür gesorgt, dass in vormals „aufgegebenen“ Stadtvierteln in den US-Städten sich wieder Aufstiegsoptimismus verbreitet habe. Die Gentrifizierung dieser Viertel habe dann für eine Unterdrückung der Kriminalität gesorgt.

Einige dieser Thesen können sicher auch das Verständnis der deutschen bzw. europäischen Kriminalitätsentwicklung verbessern. Andere Thesen könnten durch entsprechende Vergleiche widerlegt werden.

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21 Kommentare

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Sehr geehrter Herr Prof. Müller,

könnten Sie bitte kurz zusammenfassen, zu welchem Ergebnis Sie in Bezug auf die Blei-Hypothese gekommen sind? Aus einer allgemeinen Neurotoxizität lassen sich mMn keine Rückschlüsse auf Verhaltensmuster ableiten; es wurd nicht einmal ein negativer Einfluss auf die Intelligenzentwicklung von Kindern sicher nachgewiesen (Quelle). Auch der Benzolgehalt im Benzin ist übrigens Anfang der 1980er Jahre stark reduziert worden, noch bevor bleifreies Benzin in Deutschland auf dem Markt verfügbar war.

Die Methylphenidat-These kann man für Deutschland ausschließen: dazu kam der Verschreibungsboom mindestens 10, eher 15 Jahre zu spät (Hellfeld-Fallzahlenmaximum 1993, breite Ausweitung der Medikation erst von 2000-2008). Gleiches gilt für Technik, Crack und BIP (in D von 1995 bis 2001 pro Kopf rückläufig, was nach der Hypothese ja mehr Verbrechen bedeuten müsste) sowie die letzten drei Punkte.

Bleiben Babyboomer und Abtreibung; und der Babyboomer-Effekt ist laut Ihren Angaben bzw. Antholz' Ergebnissen nur trendverstärkend.

Bleibt übrig: Levitt, nicht zuletzt weil Straffreiheit der Abtreibung in D 1974 bzw. 1976 und das Fallzahlenmaximum 1993 nicht nur vom Zeitabstand her bemerkenswert genau passen, sondern auch weil der enge Zusammenahng zwischen Erziehungsqualität und Kriminalitätsneigung wohl von niemandem ernsthaft bestritten wird. Ebenso korrelieren die Kriminalitätsmaxima bemerkenswert mit der Entkriminalisierung der Abtreibung: USA Roe v. Wade 1973 - 1990 = 17 Jahre; D Indikationsregelung 1976 - 1993 = 17 Jahre.

Mich wundert, dass die meisten Hypothesen stillschweigend davon ausgehen, dass das Böse im Menschen weiterhin persistiert, nun aber besser eingedämmt werden kann: der Personenkreis wurde bereits inhaftiert oder früh genug abgetrieben, konsumiert jetzt weniger Giftstoffe ein oder bessere bzw. konnte mit Polizeipräsenz verscheucht werden.

Könnte es nicht vielmehr sein, dass sich die Bevölkerung ganz einfach weiterentwickelt hat? Selbst in täglichen Trash-Talks finden Gespräche statt, die um Aufrichtigkeit bemüht sind und das Leben von Gewaltopfern thematisieren. Etwa seit Mitte der 80er Jahre wirken Formate wie Oprah Winfrey in die amerikanische Gesellschaft hinein. Analog dazu fand hier die Hansmeiserisierung statt.

Man kann zu solchen Sendungen stehen, wie man will. Sicher ist, dass sie eine gesellschaftliche Funktion erfüllten und erstmals Worte in familiäre Problemstrukturen brachten, wo vorher nur Gewalt oder Sprachlosigkeit herrschte.

„Null Toleranz“ ist vielleicht eine gute Sache, wenn man republikanischer Bürgermeister werden will. An der Empathiefähigkeit seiner Mitmenschen dürfte man keinen Anteil haben, so wie ich auch die ganzen anderen Hypothesen für wenig kausal halte.

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In bestimmten Deliktsbereichen (Mord, Totschlag, Vergewaltigung, schwerer Raub) ist die Gefahr, erwischt zu werden, durch technische Entwicklungen (moderne EDV) und kriminaltechnische Entwicklungen (insbesondere DNA-Analysen) und Überwachungsmethoden erheblich gestiegen.

Außerdem ist die Durchschnittbevölkerung in den vergangenen 40 Jahren nicht nur älter und weiser, sondern auch klüger geworden, und Kriminalität, die entdeckt wird, lohnt sich nun mal nicht (und weise oder kluge Menschen meiden Verhaltensweisen die sich nicht lohnen).

Es gibt heutzutage viel mehr Akademiker wie früher.

In der modernen Dienstleistungsgesellschaft kann sich kaum noch ein Arbeitnehmer erlauben, auch nur einige Monate in Haft oder Untersuchungshaft zu gehen.

Die Menschen sind auch aufgeklärter und gebildeter geworden, und wissen mit sich selbst und mit erlebten Frustrationen, Wut, Agressionen und so weiter heutzutage bewußter und kontrollierter umzugehen.

Die Menschen haben heutzutage mehr soziale Kompetenz, und können Konflikte sowie deren Eskalation besser vermeiden.

Abgesehen von Hoologans und ähnlichen Randgruppen ist der gewaltenthemmende Alkoholkonsum zurückgegangen.

In westlichen Staaten verhalten sich die Menschen zunehmend angepasster (unter anderem auch politisch korrekter) und gewöhnen sich daran - sie vermeiden zunehmend Provokationen und riskante Verhaltensweisen, insbesondere (erhebliche) Straftaten.

Bargeld spielt heutzutage eine geringere Rolle als früher, und ist jedenfalls was größere Summen angeht schwerer zu erbeuten und schwerer zu verstecken und zu waschen.

Der zweite Weltkrieg, der Koreakrieg, und der Vietnamkrieg, sind sehr brutal und unmenschlich geführt worden, und haben viele Menschen verrohen lassen - in Irak und Afghnanistan sind es nur kleinere Gruppen von Elitesoldaten, die persönlich eigenhändig in Gemetzel involviert sind, den Großteil erledigt die Luftwaffe anonym und aus der Distanz. Und die meisten Soldaten sind und bleiben Berufssoldaten, bleiben im Militärapparat, und werden nicht - wie etwa nach dem Vietnamkrieg - zu frustrierten respektlosen gewaltberauschten und gewaltorientierten desintegierten arbeitslosen Außenseitern.

Der Konsum von Drogen scheint zwar nach wie vor zuzunehmen, aber immer mehr Konsumenten haben heutzutage genug Selbstbeherrschung und Know-How um Kontrollverlusten vorzubeugen oder sie einzudämmen.

Es gibt heutztage weniger "angry-young-man", und zwar auch wegen der zunehmenden "political correctness" - wer sich nicht abgewertet oder schlecht behandelt fühlt, wird auch seltener rachsüchtig oder wütend.

Die Arbeitswelt verlangt uns heutzutage mehr ab als vor 40 Jahren - und wir sind nach der Arbeit meist zu müde, um noch Verbrechen zu begehen.

Auch für Arbeitslose gibt es heutzutage mehr Weiterbildungsmöglichkeiten und mehr sinnvolle Beschäftigungsmöglichkeiten.

Bei der Ruhigstellung von Menschen mögen Psychopharmaka wie Ritalin eine Rolle spielen - allerdings sollten wir uns insoweit fragen, ob es mit unserem Menschenbild und mit unserer Vorstellung von Menschenwürde wirklich vereinbar ist, Menschen ihrer Identität und ihrer Gefühle zu berauben und ihres Willens zu berauben und sie mittels Psychopharmaka zu betäuben oder zu anderen "neuen" Menschen zu machen.

Das Ziel, die Kriminalität einzudämmen, rechtfertigt meiner Meinung nach nicht jedes Mitte, auch wenn in manchen Medien genau dies häufig mehr oder weniger subtil suggeriert wird.

 

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Haben sich die Delikte geändert? Wieviele Beamten gibt es, die sich mit Internetkriminalität befassen?

Es gab mal einen Anstieg der Drogendelikte, bei der Suche nach dem Grund wurde festgestellt, dass kurz vorher eigene Komissariate dafür eingerichtet worden waren, verbunden mit einer Personalaufstockung.

Wieviele Abteilungen für Internetkriminalität gibt es? Wieviele Anzeigen werden erstattet, wenn doch das vom Konto abgebuchte Geld per Widerruf der Lastschrift wieder auf dem Konto ist?

Wie wird die Statistik aussehen, wenn mehr Abteilungen für Internetkriminalität bei Polizei und Staatsanwaltschaft eingerichtet sind?

 

 

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Gast schrieb:

Haben sich die Delikte geändert? Wieviele Beamten gibt es, die sich mit Internetkriminalität befassen?

Es gab mal einen Anstieg der Drogendelikte, bei der Suche nach dem Grund wurde festgestellt, dass kurz vorher eigene Komissariate dafür eingerichtet worden waren, verbunden mit einer Personalaufstockung.

Wieviele Abteilungen für Internetkriminalität gibt es? Wieviele Anzeigen werden erstattet, wenn doch das vom Konto abgebuchte Geld per Widerruf der Lastschrift wieder auf dem Konto ist?

Wie wird die Statistik aussehen, wenn mehr Abteilungen für Internetkriminalität bei Polizei und Staatsanwaltschaft eingerichtet sind?

Bei uns im Bereich gibt es für jeden sichtbar eine stetig zunehmende Drogenkriminalität (primär Meth). Die Statistik zeigt eine Abnahme. Die Statistik ist für einen OB, der sich Prävention (m.E. durchaus zu Recht) auf die Fahnen geschrieben hat, ein wunderbarer Beleg des Erfolgs, der freilich nichts mit der Realität zu tun hat. Die sieht so aus, dass keine oder zumindest kaum Polizei da ist, die in den Drogendelikten ermitteln könnte. Bei Statistik muss man schon genau hinsehen, was sie überhaupt betrifft und inwieweit sie irgendetwas mit der Realität zu tun hat.

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Hinsichtlich der Gesamtzahlen ist die Frage nach der Art der Delikte natürlich berechtigt. Insbesondere bei "opferlosen" Delikten (wie z.B. einvernehmlichem Drogenhandel) spielt natürlich die Motivation der Strafverfolger eine große Rolle.

Allerdings ist der genannte Trend eben auch (und sogar insbesondere) bei Straftaten zu beobachten, die typischerweise auch ohne Ermittlungseifer statistisch erfasst werden (dürfte für Mord, schwere Körperverletzung usw. gelten) und auch bei Straftaten, bei denen die Anzeigebereitschaft eher zugenommen hat (namentlich "einfache" Gewaltdelikte).

Delikte, bei denen sich die Strafbarkeit geändert hat (z.B. Abtreibung, homosexuelle Handlungen usw.) eignen sich natürlich überhaupt nicht für so einen Vergleich...

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Ein weiterer Erklärungsansatz sollte unbedingt noch mit einbezogen werden: die seit den 1970er Jahren zunehmende Ächtung des Prügelns von Kindern (wenn auch erst von der rot-grünen Regierung im Jahr 2000 das Züchtigungsverbot durch die Eltern endlich gesetzlich festgeschrieben wurde). In Bayern wurde die Schwarze Pädagogik in den Schulen erst im Jahr 1980 verboten, in den USA ist sie in über einem Drittel der Bundesstaaten noch erlaubt. Auch das Schlagen der eigenen Kinder ist dort nicht grundsätzlich verboten, daher spielt dieser Einfluss in der dortigen Debatte vermutlich keine Rolle.

Wenn Kinder die Erfahrung "Problemlösung mittels Gewalt" nicht mehr von ihren natürlichen Vorbildern lernen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie dies selbst als Erwachsene nicht tun.

@ Gast #4: laut dem im Eröffnungsbeitrag verlinkten früheren Thread sinkt auch die Kriminalität im Dunkelfeld.

@ NicolasHeym: ein gewisser Egoismus dürfte angeboren sein - bei manchen stärker ausgeprägt als bei anderen. Beobachten Sie mal einen Spielplatz: Kindern muss man des öfteren sagen, dass man anderen die Schaufel nicht einfach wegnehmen, sie anderen auf den Kopf hauen oder damit die Sandburg anderer kaputtmachen darf. Je nachdem, wie altruistisches und kooperatives Verhalten in der Erziehung belohnt und Anderen schadendes Verhalten sanktioniert wird, wird sich auch die Bereitschaft entwickeln, für den eigenen Vorteil abstrakte Regeln wie Gesetze zu übertreten.

 

Sehr geehrter "Name" (m/w/d ), bei Ihren Darlegungen sehe ich einen logischen Widerspruch. Zu Beginn schienen Sie zu bejubeln ("endlich"), dass klassische Zucht- und Sanktionsmittel wie Ohrfeigen, eine Tracht Prügel,, verboten worden seien. Am Schluss scheinen Sie realistisch zu sehen , dass  die Bereitschaft, für eigenen Vorteil Regeln und Gesetze zu übertreten, davon abhängt, inwieweit "Anderen schadendes Verhalten sanktioniert" wird. Ja klar - das war seit ewigen Zeiten realitätsnahe pädagogische Weisheit. Diese menschengerechte Vernunft gilt auch momentan laut Bundestag, wenn man etwa an § 315 d StGB denkt. Nur Druck hilft. Druck ist keine Totalgarantie für rechtmäßiges Verhalten, aber hilft enorm . Vor allem, wo er im Gutigutitum fehlt, breitet sich Hemmungslosigkeit aus. Erst recht und auch da, wo an Schulen Charakterlosigkeit von Schulleitung und Aufsichtsbehörde dazu führt, dass Lehrer davon abgehalten werden, Strafanzeigen zu stellen.

Ich sehe den von Ihnen konstatierten Widerspruch nicht:

Dass Menschen Gewalt (z.B die von Ihnen zitierten Ohrfeigen, Prügel usw.) nicht mehr als legitime Problemlösung wahrnehmen (und dergleichen auch nicht von Menschen mit Vorbildfunktion ausgeübt wird), bedeutet ja nicht, dass es keine Sanktion gibt.

Aber es verschiebt (wie ich finde, dankenswerterweise) die Standards von "wer meine Mutter beleidigt kriegt auf die Fresse" zu "zivilisierte Leute lösen ihre Streitigkeiten vor Gericht".

Wenn jemand auf (echtes oder vermeintliches) Unrecht nicht mit Gewalt sondern mit Einschalten der zuständigen Behörden reagiert, ist das (unabhängig davon, ob am Ende eine Sanktion steht und ggf. was für eine) ein zivilisatorischer Fortschritt. Ähnliches gilt für andere gewaltlose Anreize und Sanktionen (z.B. in der Erziehung). Ähnlich wie wir staatlicherseits Körperstrafen abgeschafft haben (und in den allermeisten Fällen schlicht Geldstrafen verhängt werden), lernen auch Kinder, dass bei (hinreichend grobem) Fehlverhalten typischerweise das Taschengeld gekürzt (und nicht geprügelt) wird.

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Nun, "Noch ein Name" (12.4. 11:44 Uhr)  - eventuell stehen Sie konkreten Lehrern ferner als ich. Allerdings lässt sich auch aus allgemein zugänglichen Quellen auswerten: Was denn anders als Körperstrafe ist etwa § 315 d StGB  mit Freiheitsstrafe (Einschluss des Körpers in engbegrenzten Raum bis zu zehn Jahre)? Ja, hier ist endlich einmal eine Koalition zwischen Gutigutitum, Greta Umweltschutz vor schnellem Autofahren und Realismus ( nur Druck hilft) gelungen. Bei einem gewissen Typ von Frechdachsen ist Fingerzeigen /Du Du Du, sei schön lieb!   wirkungsarm.

Sehr geehrte Kommentatoren,

bewusst habe ich mich einer (vorläufigen oder gar abschließenden) Bewertung zu den einzelnen Hypothesen enthalten. Einige Kritikpunkte sind schon in dem verlinkten Artikel des Marshall Project angesprochen, noch mehr natürlich in der Konferenz, die sich ja auf mehreren Tagungen mit unterschiedlichen Erklärungsansätzen befasste.

Schaut man sich näher einzelne der Hypothesen an, findet man schon sehr differierende Ergebnisse. Ich sehe die Blei-Hypothese nach längerer Befassung damit und dem Nachlesen etlicher Studien ziemlich skeptisch, kann sie aber nicht völlig zurückweisen; die neurotoxische Wirkung von Blei ist fast unbestritten, allerdings ist die langfristige Wirkung subklinischer Dosen auf die Straftatenbegehung eben doch sehr unbestimmt. Die kriminalstatistischen Berechnungen dazu stammen fast alle von Rick Nevin ("lead is the answer"), der über seine frühere Tätigkeit als Verkäufer für (bleifreie und bleidichte) Kunststoffenster zu seinen Hypothesen kam. Ich will damit nicht sagen, dass er nicht trotzdem Recht haben könnte, aber ein gewisser "bias" ist schon da und seine Beharrung auf monokausaler Erklärung ist kriminologisch eher abwegig.

Gleiches gilt - obwohl ich mich damit weniger befasst habe - für die Abtreibungsthese. Sie arbeitet mit mehreren Unterstellungen. Dabei ist nicht mal gesichert, dass (innerhalb der relevanten Gruppe) die Legalisierung überhaupt einen maßgeblichen Effekt auf die tatsächliche Abtreibungshäufigkeit hatte.

Im Übrigen vermute ich eine Kombination mehrerer Faktoren und halte auch einen Anteil allgemeiner kultureller Phänomene für relativ wahrscheinlich, wie sie oben ja auch schon von zwei Kommentatoren angesprochen wurden. 

Vielen Dank für weitere Diskussionsbeiträge.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

 

Aus österreichischer Sicht ein Blick auf Tötungskriminalität: Warum es immer weniger Mordopfer, aber kaum weniger Verurteilte gibt (Der Standard)

Da spielt dann bessere Notfallversorgung ebenso eine Rolle wie die geringere Quote an Obduktionen (die im Vergleich zu Deutschland immer noch vorbildlich hoch ist - wie war das mit den Kerzen auf den Grabsteinen?). Und die Schwierigkeit, Straftatbestände international vergleichbar zu machen.

Eine (auch grafisch gelungene) Darstellung und Diskussion zum Thema findet sich ab heute im Magazin The Atlantic:

http://www.theatlantic.com/features/archive/2015/02/the-many-causes-of-a...

In den dortigen Kommentaren wird auch ein Aspekt erwähnt, der bisher weniger Aufmerksamkeit bekommen hat ()oben im Beitrag die Nr.5): Die Verbreitung von modernerer Kommunikationstechnologie und die Verbreitung von Video- bzw. Computerspielen.

 

Straftaten werden überproportinal durch Jugendliche begangen.

Oft geschieht dies, weil die Jugendlichen irgendwo auf der Straße herumhängen, und sich langweilen und mit sich nicht anzufangen wissen.

Heutzutage gibt es viel mehr Ganztagsschulen als vor 40 Jahren.

Die Jugendlichen verbringen mehr Zeit in der Schule, und hängen weniger auf der Straße herum.

Dies könnte möglicherweise zum Absinken der Kriminalitätsraten beigetragen haben.

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Die (vermeintlich sinkende) Kriminalitätsstatistik könnte möglicherweise nicht ganz korrekt sein.

Zum Beispiel werden seit einiger Zeit in einigen Gegenden wohl mehrere Wohnungseinbrüchen und Autoaufbrüche in der Statistik bloß noch als eine einzige Tat erfasst, wenn die Polizei den Täter bzw. Tatverdächtigen für einen Serientäter hält, und die Taten nicht großen räumlichen und zeitlichen Abständen geschahen.

Dies werfen jedenfalls in manchen Bundesländern Oppositionspolitiker den Landesregierungen und Bezirksregierungen und Polizeibehörden vor.

4

Das Verhalten der Polizei bei der Anzeigenentgegennahme könnte vielleicht Einfluss auf die Statistik haben.

Als ich noch Student war und an meinem Studienort die Polzeiwache in Turnschuhen und Trainingsanzug betreten habe, um einen Fahrraddiebstahl zur Anzeige zu bringen, hat der Wachhabende versucht die Entgegenahme der Anzeige zu verweigern, und wollte mich rausschmeißen, und hat mir mit einer Strafanzeige wegen versuchten Versicherungsbetrugs und Hausfriedensbruch gedroht.

Erst als ich sagte, daß ich Jura studiere und seinen Vorgesetzten sprechen möchte, hat er eingelenkt, und die Diebstahlsanzeige aufgenommen.

Etwas ähnliches hatte ich bereits als Schüler erlebt, als ich eine Strafanzeige wegen Fahrraddiebstahls aufgeben wollte.

Und auch, als ich als Schüler einmal eine Strafanzeige wegen Körperverletzung aufgeben wollte, versuchten die Polizisten mich wegzuschicken.

Von Mandanten habe ich in schon häufig gehört in Fällen von geringfügiger Körperverletzung, Beleidigung und Hausfriedensbruch gehört, daß sie beim Aufsuchen von Polizeiwachen durch die diensthabenden Beamten der Polizei abgewimmelt wurden, so daß ich dann mit schriftlichen anwaltliche Strafanzeigen beauftragt wurde (welche ich dann meist direkt an die Staatsawaltschaften richtete)    

Möglichwerweise könnte sich die offenbar nicht selten geringe Bereitschaft vieler Polizisten, im Bereich der Bagtellkriminalität Anzeigen entgegenzunehmen, auf die Statistik auswirken.

 

 

 

 

 

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Sehr geehrter "Ehemaliger Schüler" (das sind wir ja fast alle...),

vielen Dank für Ihre Überlegungen, auf die ich kurz eingehen will. Sie schreiben:

Straftaten werden überproportinal durch Jugendliche begangen.

Oft geschieht dies, weil die Jugendlichen irgendwo auf der Straße herumhängen, und sich langweilen und mit sich nicht anzufangen wissen.

Heutzutage gibt es viel mehr Ganztagsschulen als vor 40 Jahren.

Die Jugendlichen verbringen mehr Zeit in der Schule, und hängen weniger auf der Straße herum.

Dies könnte möglicherweise zum Absinken der Kriminalitätsraten beigetragen haben.

Das ist ein Aspekt, der für die deutsche Situation durchaus in betracht zu ziehen ist, nicht aber für die USA - deren Diskussion ich hier referiert habe. In den USA ist das Schulsystem schon sehr lange  ein Ganztagsschulsystem mit Unterricht bis ca. 16 Uhr. Die Veränderung in den Kriminalitätsraten lassen sich in den USA jedenfalls nicht so erklären.

Die (vermeintlich sinkende) Kriminalitätsstatistik könnte möglicherweise nicht ganz korrekt sein.

Zum Beispiel werden seit einiger Zeit in einigen Gegenden wohl mehrere Wohnungseinbrüchen und Autoaufbrüche in der Statistik bloß noch als eine einzige Tat erfasst, wenn die Polizei den Täter bzw. Tatverdächtigen für einen Serientäter hält, und die Taten nicht großen räumlichen und zeitlichen Abständen geschahen.

Dies werfen jedenfalls in manchen Bundesländern Oppositionspolitiker den Landesregierungen und Bezirksregierungen und Polizeibehörden vor.

Sie haben Recht, dass man immer auf die reale statistische Erfassung durch die Polizei schauen muss, die ja auch Schwankungen ausgesetzt sein kann. Danke für den Hinweis. Ich vermute allerdings, dass es sich nicht um eine so massive Änderung des Erfassungsverhaltens durch die Polizei handelt, dass es sich auf die Gesamtstatistik stark auswirkt. Aber möglich ist es.

Das Verhalten der Polizei bei der Anzeigenentgegennahme könnte vielleicht Einfluss auf die Statistik haben.

Als ich noch Student war und an meinem Studienort die Polzeiwache in Turnschuhen und Trainingsanzug betreten habe, um einen Fahrraddiebstahl zur Anzeige zu bringen, hat der Wachhabende versucht die Entgegenahme der Anzeige zu verweigern, und wollte mich rausschmeißen, und hat mir mit einer Strafanzeige wegen versuchten Versicherungsbetrugs und Hausfriedensbruch gedroht.

Erst als ich sagte, daß ich Jura studiere und seinen Vorgesetzten sprechen möchte, hat er eingelenkt, und die Diebstahlsanzeige aufgenommen.

Etwas ähnliches hatte ich bereits als Schüler erlebt, als ich eine Strafanzeige wegen Fahrraddiebstahls aufgeben wollte.

Und auch, als ich als Schüler einmal eine Strafanzeige wegen Körperverletzung aufgeben wollte, versuchten die Polizisten mich wegzuschicken.

Von Mandanten habe ich in schon häufig gehört in Fällen von geringfügiger Körperverletzung, Beleidigung und Hausfriedensbruch gehört, daß sie beim Aufsuchen von Polizeiwachen durch die diensthabenden Beamten der Polizei abgewimmelt wurden, so daß ich dann mit schriftlichen anwaltliche Strafanzeigen beauftragt wurde (welche ich dann meist direkt an die Staatsawaltschaften richtete)    

Möglichwerweise könnte sich die offenbar nicht selten geringe Bereitschaft vieler Polizisten, im Bereich der Bagtellkriminalität Anzeigen entgegenzunehmen, auf die Statistik auswirken.

Dieses Verhalten der Polizei, "Abwimmelverhalten" könnte man es nennen, hat mit Sicherheit Auswirkungen auf die Statistik. Allerdings erscheint mir fraglich, ob es da eine Tendenz (zu immer geringerer Erfassung) gibt, denn die Klagen über dieses Verhalten von Polizeibeamten - und deren möglicher Einfluss auf die Kriminalstatistik - gibt es schon seit Jahrzehnten. Ob es mehr wird, weiß ich nicht.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

Dieses "Abwimmeln" nennt man in einschlägigen Kreisen das "Verweisen auf den Privatklageweg".....

 

Da die Staatsanwaltschaft Bagatelldelikte etc. erfahrungsgemäss ohnehin einstellt und auf den Privatklageweg verweisen wird, wird das ggf. bereits auf der Polizeiwache so kommuniziert. "Gehen Sie doch zum Rechtsanwalt" ist die übliche Floskel. 

 

 

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Der "Abwimmeltheorie" stehen zwei andere Thesen gegenüber:
1. solche Privatklagen wurden früher auch nicht angezeigt (z.B. Prügeleien unter Heranwachsenden, Sachbeschädigungen).
2. auch Offizialdelikte und andere schwere Verbrechen, die sicher nicht abgewimmelt werden, haben abgenommen - und das, obwohl im Bereich der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung die Anzeige- und Verfolgungsbereitschaft eher zugenommen hat.

Die im Artikel oben dargestellten Inhalte wurden aus dem englischen übertragen aus „Why the Crime Drop?“ von Graham Farrell, Nick Tilley, and Andromachi Tseloni. Dieser Ansatz ist überholt, weil er den langfristigen Rückgang seit dem Mittelalter und die weltweite Verbreitung den Phänomens nicht berücksichtigt. Besser ist „Why Crime Rates Are Falling Throughout the Western World.“ von Michael Tonry. Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand kann hier gefunden werden: https://de.wikipedia.org/wiki/Kriminalitätsrückgang

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Mein Beitrag basiert auf den dort (siehe oben) angegebenen Quellen. Er stellt keine Übertragung eines anderen Aufsatzes dar. Der von manchen historisch arbeitenden Kriminologen festgestellte allg. Gewaltrückgang seit dem Mittelalter, der auf einem Blick auf die durch verschiedene Quellen ungefähr belegbaren Mordraten bzw. Homizidraten beruht, ist ein anderes Thema, da Tötungsdelikte nur einen sehr kleinen Ausschnitt damaliger und heutiger Kriminalität (auch der Gewaltkriminalität) ausmachen. Deshalb kann man m.E. auch nicht behaupten, die Übersicht seit dem Mittelalter habe die Ansätze zur Erklärung des Kriminalitätsrückgangs seit den 1990er Jahren "überholt". Der wikipedia-Artikel ist dennoch interessant.

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