Loveparade 2010 - was wird aus dem Prozess?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 27.02.2015

Was ich im letzten September befürchtete, scheint sich nun  leider nach Presseberichten zu bestätigen:

Die Staatsanwaltschaft hat mit ihrer Strategie, die Polizeiketten aus der Erklärung des konkreten Geschehens bei der Loveparade 2010 herauszuhalten, das Gericht nicht überzeugen können. Die Eröffnung des Hauptverfahrens verzögert sich. Nichtjuristen müssen dazu wissen: Es kommt  in der Praxis nicht häufig vor, dass im Zwischenverfahren, noch dazu nach so langen und intensiven Ermittlungen der Staatsanwaltschaft, ein Gericht erhebliche Probleme sieht, das Hauptverfahren zu eröffnen und erhebliche Rückfragen hat.  Die Rheinische Post schrieb gestern von 75 Fragen zu 15 Themenkomplexen an den Sachverständigen Keith Still.

Unter anderem geht es darum:

"Der Panikforscher soll dem Gericht unter anderem darlegen, wie sich Planungsfehler im Vorfeld auf den konkreten Veranstaltungsablauf auswirkten."

Das ist der auch von mir schon monierte Zusammenhang, der offenbar dem Gericht noch fehlt: Um die Frage zu beantworten, ob und wie sich die fahrlässig pflichtwidrige Planung auf das konkrete Unglück auswirkte, muss z. B. klar sein, wie viele Menschen am Tag des Unglücks tatsächlich vor Ort waren, ob also die Grenzen des noch ungefährdeten Zugangs, die Still berechnet hat, wirklich ausgeschöpft bzw. überschritten wurden. Dass die geplanten (vorab geschätzten)  Besucherzahlen das Nadelöhr nicht hätten passieren können, ist klar, aber das begründet nur eine Pflichtwidrigkeit, noch nicht (allein) die Kausalität für den konkreten Erfolg: Die vor Ort  tatsächlich anwesenden Besucher müssen gerade durch die pflichtwidrige Planung in Gefahr geraten sein.

"Still soll zudem genau erklären, ob die Polizeikette, die den Zulauf aufs Gelände stoppen sollte, Auswirkungen auf den Unglückshergang hatte."

Exakt die Frage, die wir hier (hier im Beck-Blog schon seit September 2010!) gestellt haben. Wie ich letztes Jahr (am Ende meines Beitrags) schrieb: Es kann schlimme Folgen haben, die Polizeiketten herauszulassen aus der Erklärung des Unglücks. Denn diese gehören nach allem was wir wissen GANZ OFFENSICHTLICH zur Ursachenkette dazu.

Wenn die Staatsanwaltschaft (in der Pressekonferenz zur Anklageerhebung) äußerte:

"Andere Ereignisse am Veranstaltungstag sind strafrechtlich nicht relevant geworden. Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade."

... dann war diese Aussage bezüglich der Tatsachen erkennbar FALSCH. Sie entsprach nebenbei gesagt auch gar nicht der Aussage des Gutachtens Still.

Jeder, der hier mitgelesen hat, weiß, dass ich immer verfochten habe, dass ALLEN Verantwortlichen der Prozess gemacht werden sollte, den Planern, Genehmigern und Verantwortlichen der Polizei, weil ich alle drei Ebenen für ursächlich halte. Zumindest aber muss eine mit den sichtbaren Tatsachen kompatible Beschreibung der Ereignisse Grundlage der Anklage sein. Die völlige Herausnahme der Polizei aus der Anklage kann nun dazu führen, dass der ganze Prozess leidet. Die Strafkammer des LG Duisburg sieht dies offenbar genauso. 

Weiter heißt es im Bericht der RP:

"Ein am Verfahren beteiligter Jurist sagte unserer Redaktion, dass das Still-Gutachten zu viele offene Flanken biete, die die Gegenseite ausnutzen würde - und es auch schon täte, indem sie immer neue Einwände gegen die Expertise einbrächte. "Es ist ein grundlegender Fehler der Staatsanwaltschaft, fast die gesamte Anklage auf ein Gutachten aufzubauen", sagte der Jurist. Dem Landgericht könne man deshalb aber keine Vorwürfe machen."

Das sehe ich genauso, hoffe aber nach wie vor, dass sich die Lücken schließen lassen und die Hauptverhandlung nur verschoben ist.

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Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 6000 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 10000 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 14000 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 11000 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 35000 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 26000 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 19000 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 33000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 40000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

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67 Kommentare

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@Entrüsteter Zweifel, 22.03.2015 (w. Taubertal) ,

Sie beziehen sich in Ihrem Beitrag auf einen Artikel , der auf einer Mail eines in der Tat besorgten Anwohners basiert.

Diese Mail wurde in Auszügen dargestellt und diese Auszüge waren korrekt widergegeben, denn dieser Anwohner war ich.

Ich befuhr damals mit meinem Sohn die A59 von Süden kommend. Das Gelände war bereits eingezäunt, die Zelte standen, und es wirkte in der Tat insgesamt ziemlich gestaucht (das könnte an unserer Perspektive gelegen haben). Jedenfalls hat mein Sohn diesen Vergleich gezogen, weil er das Taubertal-Festival bereits besucht hatte.

Unter diesem Eindruck habe ich die Mail an die Stadtverwaltung am 22.7.2010 in drei Minuten "hingerotzt", auch in Kenntnis der Pläne, die die von Restriktionen betroffenen Anwohner bereits Anfang Juli 2010 als Flyer im Briefkasten vorfanden. Dabei war mir die Situation im Tunnel / an der Rampe auch schon vorher durchaus bekannt .

Im Prinzip mache ich mir nur einen Vorwurf: ich hätte erstens bereits Anfang Juli reagieren müssen, und ich hätte zweitens meine Einwände schriftlich und höchstpersönlich beim Planungsamt oder beim Polizeipräsidium vorbeibringen müssen (mit Eingangsstempel).  Aber da dachte ich noch, dass der liebe Gott vielleicht Hirn vom Himmel fallen lässt.

Was für eine trügerische Hoffnung.

 

 

5

Heutiger Artikel von Bernd Dörries auf  sueddeutsche.de:
http://www.sueddeutsche.de/panorama/loveparade-herr-still-antwortet-nich...

Apropos: "Direktor der Feuerwehr"  ist eine zutreffende Bezeichnung in den Großstädten von NRW und anderen Bundesländern. Warum sollte ein solcher Amtsträger nicht auch "Feuerwehrdirektor" genannt werden dürfen? Auch entrüstete Zweifel sollten nicht vom Googlen abhalten.

Oje, ich sehe gerade, es droht die nächste Verzögerung:

http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/opfer-anwaeltin-haelt-loveparad...

Herr Professor Müller, darf ich fragen, ob Sie den Befangenheitsantrag für gerechtfertigt halten?

Es ist mir noch dunkel in Erinnerung dass dieses teure "Gutachten" von Ute Jasper, Heuking etc. ein unsäglicher Versuch der Irreführung war (Nööö, die Stadt war ja gar nicht zuständig...), aber das wird hier wohl kaum auschlaggebend sein. Zumal der Mann der Richterin ja offenbar nicht daran beteiligt war, folglich auch nicht dafür bezahlt wurde und auch keine weiteren Aufträge in diesem Zussammenhang erwarten kann.

Es grüßt

Der Klenk

0

Die Verzögerung droht nicht im Strafverfahren, sondern im Schadenersatzprozess.

Aufgrund der Informationen aus der Presse allein (Ehemann der Richterin arbeitet in einer Kanzlei, die ein Gutachten zugunsten eines Teils der Angestellten erstellt hat) lässt sich m.E. eine Befangenheits-"Besorgnis" noch nicht objektivieren. Der entsprechende Vortrag (in der Presse wiedergegeben), soll lauten:
"Die Richterin könne nicht objektiv urteilen, wenn sie mit jemandem verheiratet sei, der von der Gegenseite bezahlt werde"
 

Die Richterin ist nicht von der "Bezahlung der Gegenseite"  abhängig, sondern bekommt ihre eigene Besoldung. Eine inhaltliche Vorbefassung wird auch nicht einmal für den Ehemann behauptet.

Aber es ist natürlich möglich, dass die Presse hier nicht über den vollständigen Hintergrund dieses Ablehnungsgesuchs verfügt.

 

Henning Ernst Müller schrieb:

Die Verzögerung droht nicht im Strafverfahren, sondern im Schadenersatzprozess.

Aufgrund der Informationen aus der Presse allein (Ehemann der Richterin arbeitet in einer Kanzlei, die ein Gutachten zugunsten eines Teils der Angestellten erstellt hat) lässt sich m.E. eine Befangenheits-"Besorgnis" noch nicht objektivieren. Der entsprechende Vortrag (in der Presse wiedergegeben), soll lauten:
"Die Richterin könne nicht objektiv urteilen, wenn sie mit jemandem verheiratet sei, der von der Gegenseite bezahlt werde"
 

Die Richterin ist nicht von der "Bezahlung der Gegenseite"  abhängig, sondern bekommt ihre eigene Besoldung. Eine inhaltliche Vorbefassung wird auch nicht einmal für den Ehemann behauptet.

Aber es ist natürlich möglich, dass die Presse hier nicht über den vollständigen Hintergrund dieses Ablehnungsgesuchs verfügt.

 

 

Vielen Dank für Ihre Einschätzung und sorry, ich wollte nicht Strafverfahren und Schadenersatzprozess miteinander vermengen...

Gruß

Klenk

0

Ganz an den Haaren herbeigezogen ist der Befangenheitsantrag m.E. auch nach den wenigen Informationen aus der Presse nicht.

Nach BGH (https://dejure.org/2012,4825) kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn sein Ehegatte als Rechtsanwalt in der Kanzlei tätig ist, die den Gegner vor diesem Richter vertritt. Dabei "ist es einer Partei nicht zuzumuten, darauf zu vertrauen, dass eine unzulässige Einflussnahme durch den Gegner unterbleiben wird, und den Richter erst dann abzulehnen, wenn dies doch geschieht und ihr das bekannt wird" (BGH a.a.O., unter III. 2. b)).

Es kommt also nicht unbedingt auf eine Vorbefassung des Ehemanns der Richterin im Loveparade-Verfahren an.

Der Loveparade Fall unterscheidet sich insoweit, als die Kanzlei nicht vor Gericht auftritt. Abhängig davon, wie entscheidend das Gutachten für den Fall letztendlich ist, könnte aber schon der Eindruck der Befangenheit bei der Gegenseite entstehen. Man kann das Ganze m.E. nur anhand der Einzelheiten des Falles entscheiden.

0

Sehr geehrter MT,

vielen Dank für Ihren Hinweis auf die Entscheidung des BGH in Zivilsachen (BGH I ZR 121/92, NJW 1995, 1677), in der es zur Begründung heißt:

Schon die besondere berufliche Nähe der Ehefrau des Richters zu dem Prozessbevollmächtigten des Gegners gibt der Partei begründeten Anlass zur Sorge, dass es dadurch zu einer unzulässigen Einflussnahme auf den Richter kommen könnte. Auch wenn grundsätzlich davon auszugehen ist, dass Richter über jene innere Unabhängigkeit und Distanz verfügen, die sie befähigen, unvoreingenommen und objektiv zu entscheiden, ist es einer Partei nicht zuzumuten, darauf zu vertrauen, dass eine unzulässige Einflussnahme durch den Gegner unterbleiben wird, und den Richter erst dann abzulehnen, wenn dies doch geschieht und ihr das bekannt wird (zur Begründetheit einer Ablehnung in diesem Falle: vgl. KG, NJW-RR 2000, 1164, 1165). 

In der Tat bestätigt diese Entscheidung eher eine möglicherweisende zutreffende Richterablehnung auch im vorliegenden Fall, wenn auch die Kanzlei nicht im Prozess tätig sein sollte.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

Vor dem 5. Jahrestag der Loveparade erscheinen in den Medien einige umfassendere Publikationen.

Am letzten Donnerstag nahm das Magazin der Süddeutschen Zeitung das Thema als "Aufmacher":
http://bit.ly/lopa-szmag

Auch das Portal von NRZ und WAZ "Der Westen" bringt eine ausführliche Dokumentation:
http://specials.derwesten.de/loveparade/

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