Beschwer trotz Freispruch. Verhilft der EGMR Gustl Mollath zur Revision?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 29.03.2015

Im Sommer 2014 hat das LG Regensburg Gustl Mollath freigesprochen:

Einerseits aus tatsächlichen Gründen, nämlich insbes. hinsichtlich der angeklagten Sachbeschädigungen, denn diese blieben unbewiesen. Es gab sogar Hinweise darauf, dass die angebliche Serie von Reifenstechereien Gustl Mollath untergeschoben worden war.

Andererseits aus rechtlichen Gründen: Hinsichtlich der gefährlichen Körperverletzung an seiner damaligen Frau beruhte der Freispruch darauf, dass das Gericht eine  Schuldunfähigkeit Mollaths am 12.08.2001 nicht für ausgeschlossen hielt. Den Tatvorwurf selbst allerdings hielt das Gericht für erwiesen.

Gustl Mollath und viele seiner Unterstützer fanden das Urteil trotz des Freispruchs inakzeptabel: Auch die gefährliche Körperverletzung sei nicht bewiesen, und die Annahme, Mollath sei bei Tatbegehung möglicherweise schuldunfähig psychisch krank gewesen, sei eine zusätzlich belastende Behauptung.

Nach der bisherigen Rechtsprechung zum Revisionsrecht bedarf es allerdings für die Zulässigkeit des Rechtsmittels einer „Beschwer“ aus dem Urteilstenor, es gilt der "Grundsatz der Tenorbeschwer".  Danach kann gegen einen Freispruch nur die Staatsanwaltschaft Revision einlegen, nicht aber der Freigesprochene. Ein sich (nur) aus den Urteilsgründen ergebender Nachteil soll dagegen nicht genügen. Deshalb erscheint bislang sehr zweifelhaft, ob eine Revision, mit der Gustl Mollath Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung rügen könnte (z.B. dass man früheren Aussagen seiner Ex-Frau Glauben schenkte, obwohl sie in der Hauptverhandlung nicht erschienen war), überhaupt zugelassen wird.

Nun hat heute Oliver Garcia im Blog „delegibus“ auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg, hingewiesen. Nach der Entscheidung des EGMR im Fall Cleve gegen Deutschland  vom 15.01.2015 können die  Urteilsgründe eines freisprechenden Urteils einen Verstoß gegen die Unschuldsvermutung darstellen. Cleve war vom Vorwurf des sex. Missbrauchs  freigesprochen worden; allerdings hatte das Landgericht Münster in den Urteilsgründen geäußert, Cleve habe wohl tatsächlich "sexuelle Übergriffe“ begangen; die genauen Umstände und Tatzeiten seien aber nicht mehr beweisbar. Cleve konnte gegen das freisprechende Urteil keine Revision einlegen. Das BVerfG hatte seine Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen. Der EGMR sprach nun Cleve Schmerzensgeld zu, denn Art. 6 Abs.2 EMRK (Unschuldsvermutung) sei durch die Urteilsgründe verletzt. Einige zentrale Aussagen:

 “In cases in which a criminal court rejected an indictment and acquitted the accused or discontinued the proceedings against him, both the Court and the Commission stressed that the reasoning in the domestic court’s decision forms a whole with, and cannot be dissociated from, the operative provisions. Therefore, the Convention organs had to examine the reasoning of the domestic court’s decision in the light of the presumption of innocence despite the fact that the indictment was rejected” (…) “The Court, thus, considers that once an acquittal has become final
– be it an acquittal giving the accused the benefit of the doubt in accordance with Article 6 § 2 – the voicing of any suspicions of guilt, including those expressed in the reasons for the acquittal, is incompatible with the presumption of innocence”

Für die weitere Argumentation möchte ich auf Oliver Garcia verweisen, der sehr detailliert argumentiert, diese EGMR-Entscheidung müsse auch bei anders gelagerten Fällen und insbesondere bei Gustl Mollath zur Folge haben, dass künftig  eine Beschwer, die sich aus den Urteilsgründen ergibt, für eine Revisionszulassung genüge.  Ob dies Gustl Mollath tatsächlich unmittelbar zur Revision beim BGH verhilft, ist aber derzeit noch offen. Die Entscheidung des EGMR ist noch nicht rechtskräftig. Zudem könnte der BGH argumentieren, ein Verstoß gegen die Unschuldsvermutung – wenn ein solcher im Fall Mollath überhaupt vorliege - solle auf anderem Wege als durch Revision gerügt werden. Allerdings erscheint mir die Argumentation von Garcia sehr beachtlich. Die Begrenzung auf die Tenorbeschwer lässt sich dem Gesetzeswortlaut des § 333 StPO nicht zwingend entnehmen. In der Wissenschaft wird seit Jahren um die Tenorbeschwer gestritten, u. a. gerade mit dem Argument, dass die Annahme der Tatbegehung bei gleichzeitiger Feststellung der Schuldunfähigkeit eben eine Belastung des Freigesprochenen darstelle, die ihn durchaus hinreichend "beschwere".

Für die hiesige Diskussion rege ich an, sich auf die angesprochene Frage der Revisionszulassung zu konzentrieren. Viele weitere Einzelheiten zum Fall Mollath und zur Entscheidung des LG Regensburg sind in den fast 2000 Kommentaren zum früheren Beitrag bereits verhältnismäßig erschöpfend abgehandelt worden und benötigen auch keine Wiederholung.

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62 Kommentare

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@ OGarcia

Ich kenne keinen Vertreter des "Dogmas von der Tenorbeschwer", dafür aber eine ganze Menge Anhänger. 

@ atropa belladonna

Jedenfalls wollte ich darauf hinaus, dass der Angeklagte bei einer Einstellung (153 ff StPO) besser dastehen kann als bei einem Freispruch, weil der Eingriff in den grundrechtlich geschützten Bereich weniger intensiv ist und durch sein Zustimmungserfordernis gänzlich aufgehoben wird. Die Annahme geringer Schuld wirkt demnach weniger belastend als die nicht ausschließbare Schuldunfähigkeit in Anwendung des Zweifelssatzes zu Gunsten des Angeklagten, ohne dass die begünstigende Wirkung erkennbar wäre und sich daher schon verbieten dürfte. Zumal ein Strafausspruch wegen Verschlechterungsverbots ausgeschlossen ist. 

Bedeutend ist auch der von Ihnen zitierte Satz aus der Entscheidung des BVerfG (E 82, 106 [118]). Das BVerfG greift dabei die Rehabilitationswirkung und damit den Rehabilitationsanspruch auf, an den auch schon Henning Radtke angeknüpft hatte. Wenn die Rehabilitationswirkung der Verfahrenseinstellung hinter einem Freispruch aus tatsächlichen Gründen steht, dann steht die Rehabilitationswirkung eines Freispruchs wegen nicht ausschließbarer "Unzurechnungsfähigkeit" hinter der Verfahrenseinstellung. An dem Angeklagten bleibt nicht nur das sozial-ethische Unwerturteil haften, sondern auch eine nicht ausschließbare Geisteskrankheit. Beides greift unzumutbar in den grundrechtlich geschützten Wert- und Achtungsanspruch des Angeklagten.

Henning Radtke verneint einen Rehabilitationsanspruch des Angeklagten, der wegen "Unzurechnungsfähigkeit" freigesprochen wurde mit dem Hinweis auf die ihm erhalten bleibende Unschuldsvermutung. Die Unschuldsvermutung wird aber dann zu einer hohlen Phrase, wenn Strafe von vornherein nicht in Betracht kommt, das sozial-ethische Unwerturteil bestehen bleibt und dem Angeklagten eine nicht ausschließbare Geisteskrankheit attestiert wird. Dies führt auch zur Eintragung in das BZR.

Freispruch ist nicht Freispruch. M.E. kommt auch eine Auslegung der Tenorierungsvorschrift dahingehend in Betracht, dass eine Unterscheidung der Freisprüche aus tatsächlichen Gründen und aus Rechtsgründen bereits im Tenor zum Ausdruck gebracht wird und nicht erst in der Urteilsbegründung. Gegen diese Auslegung wird eingewandt, sie verstoße gegen sie Unschuldsvermutung. Wie kann sie gegen die Unschuldsvermutung auf den Tenor beschränkt verstoßen, wenn die Feststellungen in den Urteilsgründen enthalten sind und auch zwingend enthalten sein müssen, der Tenor die Urteilsgründe also nur wiedergibt. Zumal bei Verstößen gegen die Unschuldsvermutung irrelevant ist, ob sie sich aus dem Tenor oder nur aus den Urteilsgründen ergeben.

Noch nicht genannt - meine ich - wurde die Entscheidung des BVerfG (E 74, 358) zu Beschwer, Tenorbeschwer und Unschuldsvermutung bezüglich Einstellungs- und Kostenentscheidung:

http://www.servat.unibe.ch/dfr/bv074358.html

Bei dieser Gelegenheit möchte ich die Frage aufwerfen, ob das Ermessen des Gerichts in der Tenorierung des Freispruchs nicht dahingehend reduziert sein dürfte, dass gegebenenfalls der Zusatz "aus rechtlichen Gründen" nicht nur zulässig, sondern geboten ist.

Gem. 260 Abs. 4 S. 5 StPO "unterliegt die Fassung der Urteilsformel dem Ermessen des Gerichts". Üblich ist die einheitliche Fassung aller Freisprüche "Der Angeklagte wird freigesprochen" ohne Zusatz. Mit dem Zusatz "aus rechtlichen Gründen" wäre aber schon aus dem Tenor ersichtlich, dass es sich um einen Freispruch handelt, der hinter dem Freispruch aus tatsächlichen Gründen steht, der Angeklagte mithin also beschwert ist. Doch erst dadurch, dass dieser Zusatz weggelassen wird, entfällt die Tenorbeschwer und damit möglicherweise das Recht des Angeklagten, das Urteil auf Rechtsfehler in der Rechtsmittelinstanz überprüfen zu lassen. 

Kann das Gericht in seiner Ermessensausübung so frei sein? Ist das Rechtsmittelgericht nicht gehalten, bei der Prüfung der Zulässigkeit hinsichtlich der Tenoreschwer, die Fassung des Freispruchstenors um den fehlenden Zusatz zu ergänzen?

Ich hatte in meinem Beitrag http://blog.delegibus.com/4096 geschrieben:

[...] weil der für die Revision zuständige 1. Strafsenat des BGH für eine grundsätzliche Änderung der Rechtsprechung zur Tenorbeschwer die Frage dem Großen Senat für Strafsachen hätte vorlegen – und damit ein großes Faß aufmachen – müssen. Diese Vorlagepflicht hat sich nun erledigt. Denn es ist anerkannt, daß eine Vorlagepflicht nach § 132 GVG entfällt, wenn sich die rechtlichen Grundlagen der früheren Entscheidungen geändert haben, wozu auch die Klärung einer Rechtsfrage durch das BVerfG zählt (BGH, Beschluß vom 10. August 2005 – 5 StR 180/05). Gleiches muß für die Rechtsprechung des EGMR gelten (vgl. zu dessen Einbettung in das deutsche Rechtsmittelsystem § 359 Nr. 6 StPO).

Der 2. Strafsenat hat heute diese Argumentation umgesetzt. Aus der Pressemitteilung zu BGH, http://dejure.org/2015,12739:

Auf der Rechtsfolgenseite war der 2. Strafsenat daher nicht an die bisherige Rechtsprechung gebunden, weil diese durch die Entscheidung des EGMR überholt ist und der Bundesgerichtsgerichtshof gehalten ist, die europarechtliche Rechtsprechung des EGMR in nationales Recht umzusetzen, um weitere Verurteilungen der Bundesrepublik wegen Menschenrechtsverletzungen zu vermeiden. Daher war auch eine Vorlage an den Großen Senat für Strafsachen nicht geboten, denn über die Rechtsfrage, die sich stellte, war auf der Grundlage der neuen menschenrechtlichen Rechtsprechung vom Bundesgerichtshof noch nicht entschieden.

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Am 9.07., also in gut drei Wochen, kommt der Dokumentarfilm "Mollath - Und plötzlich bist du verrückt" in die Kinos. Eine der beiden Regisseurinnen ist die aus Regensburg stammende Annika Blendl (am letzten Sonntag spielte sie im Tatort mit). Sie und Leonie Stade haben Gustl Mollath seit 2013 begleitet. Zwei bekannte mollathkritische Journalisten nehmen im derzeit in den einschlägigen Kinos verbreiteten Flyer und im Trailer des Films

https://www.trailerloop.de/movies/mollath#trailer_1508

neben Gustl Molath und Gerhard Strate eine wichtige Rolle ein. Ich bin gespannt.

 

Wie lange kann der BGH denn noch brauchen?

Wenn ich das richtig abschätze, liegt die Revision bald ein 3/4 Jahr ...

 

Keine wirkliche Überraschung:

Der BGH hat über die Revision entschieden - unzulässig!

siehe BGH-Pressemitteilung

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Gast schrieb:

Keine wirkliche Überraschung:

Der BGH hat über die Revision entschieden - unzulässig!

siehe BGH-Pressemitteilung

Pressemitteilung:

http://goo.gl/jJmCkh

Der dazugehörige Beschluss:

http://goo.gl/schMfK

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Sehr ausführlich. Sehr überzeugend. Wie im Lehrbuch.

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Leser schrieb:

Sehr ausführlich. Sehr überzeugend. Wie im Lehrbuch.

Gerade der Abschnitt, der sich mit der Entscheidung des EGMR im Fall Cleve gegen Deutschland vom 15.01.2015 befasst, überzeugt nicht.

Der BGH meint, im Unterschied zum Mollath-Fall sei beim EGMR-Fall ja gerade ein Freispruch aus tatsächlichen Gründen erfolgt, lediglich die Urteilsbegründung habe hierzu Widersprüche enthalten. Im Fall Mollath hingegen sei der Freispruch nur aus rechtlichen Gründen erfolgt. In der Sache sei die Beweisführung nicht zu beanstanden und stünde auch nicht im Widerspruch zum Urteilstenor.

 

In eine vertiefte Prüfung ist der BGH allerdings gar nicht erst eingetreten ("wäre auch unbegründet"). So wäre ja durchaus interessant, ob die Hauptbelastungszeugin (und einzige Zeugin des Tatgeschehens) auch dann glaubhafter sein kann als der Angeklagte, wenn sie jegliche Aussage verweigert. Warum man nun der Nicht-Aussage der Frau Ex-Mollath mehr Glauben schenken konnte als dem bestreitenden Angeklagten, erschließt sich mir nicht so ganz und hat auch das LG Regensburg nicht darlegen können.

 

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Gast schrieb:

In eine vertiefte Prüfung ist der BGH allerdings gar nicht erst eingetreten ("wäre auch unbegründet"). So wäre ja durchaus interessant, ob die Hauptbelastungszeugin (und einzige Zeugin des Tatgeschehens) auch dann glaubhafter sein kann als der Angeklagte, wenn sie jegliche Aussage verweigert. Warum man nun der Nicht-Aussage der Frau Ex-Mollath mehr Glauben schenken konnte als dem bestreitenden Angeklagten, erschließt sich mir nicht so ganz und hat auch das LG Regensburg nicht darlegen können.

 

Der BGH muss doch aber auch nicht vertieft auf die Begründetheit eingehen, wenn er schon die Zulässigkeit für nicht gegeben erachtet. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe mir noch kein abschließendes Urteil gebildet, ob ich dem BGH zustimme oder nicht. Allerdings sehe ich nicht, warum vertiefte Begründetheitserwägungen - das ist ja u.a. die Frage der Beweiswürdigung (wer ist glaubhaft/glaubwürdig) - nötig sein sollen wenn bereits die Zulässigkeitsprüfung negativ verläuft.

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Ja, wie im Lehrbuch, das zur Unschuldsvermutung viel verspricht und nichts davon hält, sich vor Ausführungen dazu gänzlich drückt. Die Kunst der Mogelpackung.

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