Notwehr: BGH hält am formellen Rechtmäßigkeitsbegriff bei hoheitlichem Handeln fest

von Prof. Dr. Bernd von Heintschel-Heinegg, veröffentlicht am 09.06.2015

Mit Urteil vom 9. Juni 2015 – 1 StR 606/14 (die Urteilsgründe sind auf der Homepage des BGH noch nicht eingestellt) bestätigt der BGH die bisherige Rechtsprechung, dass es für die Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns im strafrechtlichen Sinne lediglich darauf ankomme, dass der handelnde Beamte örtlich und sachlich zuständig sei sowie die für sein Handeln vorgeschriebenen Förmlichkeiten einhalte (sog. formeller Rechtmäßigkeitsbegriff). Sind diese Voraussetzungen gegeben, stehe dem von der hoheitlichen Maßnahme Betroffenen kein Notwehrrecht zu. Er wird auf die nachträgliche Prüfung der Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns verwiesen. Die Grenzen dieser Duldungspflicht sind aber nach der Rechtsprechung erreicht, wenn das Handeln des Beamten sich als willkürlich oder als grob unverhältnismäßig erweist.


Worum ging es in der Sache? – Das LG Stuttgart hatte den Angeklagten mangels Rechtfertigung wegen versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Der Asylantrag des Angeklagten, einem irakischen Staatsangehörigen, war rechtskräftig abgelehnt worden. Er war vollziehbar ausreisepflichtig. Sein inländischer Aufenthalt wurde aber aufgrund entsprechender Entscheidungen der zuständigen Ausländerbehörde zunächst für einen gewissen Zeitraum geduldet. Später verfügte die Behörde dann die Abschiebung und beauftragte die Polizei, diese durch Verbringen zum Flughafen zu vollziehen. Den mit der Abschiebung betrauten Polizeibeamten war allerdings das Bestehen einer zum Zeitpunkt der Abschiebung wirksamen Duldung unbekannt. Als diese die Abschiebung vornehmen wollten, drohte der Angeklagte zunächst mit Selbstmord und versteckte sich anschließend auf dem Balkon einer Nachbarwohnung. Zur Verstärkung herbeigerufene Polizeikräfte spürten den Angeklagten auf. Gegen den polizeilichen Zugriff wehrte sich der Angeklagte mit mehreren wuchtigen Messerstichen gegen einen der eingesetzten Polizisten, bevor er überwältigt werden konnte. Der Polizeibeamte blieb unverletzt.

 

Der 1. Strafsenat billigt diese Rechtsauffassung im Ergebnis und hat deshalb die Revision des Angeklagten verworfen.


Gespannt bin ich darauf, ob sich die BGH-Entscheidung mit dem im Vordringen befindlichen materiellen Rechtmäßigkeitsbegriff auseinandersetzt (zB Matthias Jahn Das Strafrecht des Staatsnotstands, 2004, S. 426 f; ders. JuS 2013, 268, 269 jeweils mwN). Denn seit BVerfGE 92, 191, 201 = NJW 1995, 3110 ist entgegen der im Kern vorkonstitutionellen Konstruktion des  formellen  Rechtmäßigkeitsbegriffs  – dieser  vermindert in der Sache die Anforderungen, die an die Rechtmäßigkeit des Handelns von Hoheitsträger gestellt werden müssen  –  die verwaltungsrechtliche Primär- und von der strafrechtlichen Sekundärebene strikt zu trennen. Die auf Situationsebene bestehende  Duldungspflicht des Bürgers entscheidet  – bei richtiger Sichtweise – eben noch nicht automatisch über die Sanktionsebene.

 

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