BAG lockert die Voraussetzungen einer betrieblichen Übung

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 24.08.2015
Rechtsgebiete: Arbeitsrechtbetriebliche ÜbungGratifikation9|9157 Aufrufe

Durch ein regelmäßiges, gleichförmiges und vorbehaltloses Verhalten des Arbeitgebers kann eine betriebliche Übung entstehen, die den Arbeitgeber auch für die Zukunft verpflichtet, die in der Vergangenheit gewährten Leistungen weiterhin zu erbringen.

Nach der bisherigen Rechtsprechung konnte ein gleichförmiges Verhalten des Arbeitgebers nur angenommen werden, wenn nach dem objektiven Empfängerhorizont der Eindruck entstehen konnte, der Arbeitgeber habe sich selbst eine Regel gesetzt und an diese auch gehalten. Daran fehlte es, wenn die Leistungsgewährung jeweils (objektiv erkennbar) auf einem neuen Willensentschluss des Arbeitgebers beruhte (BAG, Urt. vom 28.2.1996 - 10 AZR 516/95, NZA 1996, 758, 759). Gewährte der Arbeitgeber eine Leistung zwar regelmäßig, aber z.B. abhängig vom wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens im abgelaufenen Jahr in jeweils unterschiedlicher Höhe, fehlte es schon am objektiv geäußerten Verpflichtungswillen, die Leistung in gleicher Weise auch in der Zukunft zu gewähren (vgl. BAG, Urt. vom 16.4.1997 - 10 AZR 705/96, NZA 1998, 423, 423 f.). Ebenso wurde die Entstehung einer Betriebsübung verhindert, wenn die Maßnahme von Jahr zu Jahr neu unter dem Vorbehalt angekündigt wird, dass diese Regelung nur für das laufende Jahr gölte (BAG, Urt. vom 6.9.1994 - 9 AZR 672/92, NZA 1995, 418, 419).

Daran hält der Zehnte Senat des BAG jetzt nicht mehr fest und bestätigt zugleich seine Auffassung aus dem Urteil vom 13.11.2013 (10 AZR 848/12, NZA 2014, 368), dass ein Arbeitnehmer auch dann (zeitanteilig) Anspruch auf die Sonderleistung habe, wenn er vor deren Fälligkeit aus dem Arbeitsverhältnis ausscheide:

1. Hat der Arbeitgeber über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg vorbehaltlos jeweils zum Jahresende eine als "Sonderzahlung" bezeichnete Leistung in unterschiedlicher Höhe an einen Arbeitnehmer erbracht, darf der Arbeitnehmer daraus auf ein verbindliches Angebot i.S. von § 145 BGB auf Leistung einer jährlichen Sonderzahlung schließen, deren Höhe der Arbeitgeber einseitig nach billigem Ermessen festsetzt.

2. Soweit der Senat - im Kontext einer betrieblichen Übung - in der Entscheidung vom 28. Februar 1996 (- 10 AZR 516/95 -) vertreten hat, bei der Leistung einer Zuwendung in jährlich individuell unterschiedlicher Höhe fehle es bereits an einer regelmäßigen gleichförmigen Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen und es komme darin lediglich der Wille des Arbeitgebers zum Ausdruck, in jedem Jahr neu "nach Gutdünken" über die Zuwendung zu entscheiden, hält der Senat daran nicht fest.

3. Eine Sonderzahlung, die (auch) Vergütung für bereits erbrachte Arbeitsleistung darstellt, kann nicht vom ungekündigten Bestand des Arbeitsverhältnisses zu einem Zeitpunkt innerhalb oder außerhalb des Jahres abhängig gemacht werden, in dem die Arbeitsleistung erbracht wurde. Bei unterjährigem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis ergibt sich zum Fälligkeitszeitpunkt ein zeitanteiliger Anspruch auf die Sonderzahlung.

BAG, Urt. vom 13.5.2015 - 10 AZR 266/14, BeckRS 2015, 70359

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9 Kommentare

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@ gast24082015

Da der Mindestlohn spätestens am Ende des auf die Arbeitsleistung folgenden Monats fällig ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 MiLoG), scheidet die Anrechnung von Einmalzahlungen auf ihn weithin aus.

Christian.Rolfs schrieb:

@ gast24082015

Da der Mindestlohn spätestens am Ende des auf die Arbeitsleistung folgenden Monats fällig ist (§ 2 Abs. 1 Nr. 2 MiLoG), scheidet die Anrechnung von Einmalzahlungen auf ihn weithin aus.

Heißt das, dass man die Sonderzahlung - die üblicherweise im November gezahlt wird -  anteilig (nur) auf Oktober- und Novembermindestlohn anrechnen kann? Wenn ja, wäre das nicht etwas willkürlich?

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Mit der Fälligkeitsregelung will der Gesetzgeber erreichen, dass der Mindestlohn zeitnah ausgezahlt wird, damit der Arbeitnehmer davon seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Und diesen Zweck verfehlt eine Gratifikation, die nur einmal im Jahr gewährt wird. Denn von Lohnbestandteilen, die mir erst im November ausgezahlt werden, kann ich meine Miete im Mai nicht bezahlen. Also: Keine Willkür, sondern eine sachlich begründete Differenzierung.

Es ist eigentlich nur folgerichtig, die Betriebliche Übung in diesen Fällen in eine Entscheidung "dem Grunde nach" und eine Entscheidung "der Höhe nach" aufzuteilen.

 

Zur Anrechenbarkeit:

Herr Prof. Rolfs, ich verstehe Sie richtig, dass Sie von einer grundsätzlichen Anrechenbarkeit ausgehen, wenn auch nur für den Monat, für den die Zahlung ausgelöst wurde? Ich frage mich, ob eine Prämie, die für den Erfolg des Unternehmens gezahlt wird, eine "Normalleistung" des Arbeitnehmers abgelten soll. Vorausgesetzt, die "Unternehmenserfolgsprämie" ist nicht als Leistung mit Mischcharakter oder auch zur Honorierung der Betriebstreue ausgestaltet. Die Zahlung ist dem Grunde und der Höhe nach in den meisten - mir bekannten - Konstruktionen von einer individualisierbaren Leistung des Arbeitnehmers entkoppelt, anders als bei einer persönlichen Leistungszulage oder Erfolgsprämien, die auf individuell oder abteilungsbezogen definierten Zielen aufbauen.

Für Ihre Einschätzung hierzu schon vorab einen herzlichen Dank

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@ Justiziabel

Eine verlässliche Antwort kann ich Ihnen dazu nicht geben.

Erste (natürlich nur instanzgerichtliche) Rechtsprechung liegt insoweit vor, als dass unspezifische "Leistungszulagen", die nicht für eine konkrete Leistung gewährt werden, angerechnet werden dürfen (ArbG Berlin 4.3.2015 DB 2015, 1664; ArbG Düsseldorf 20.4.2015 – 5 Ca 1675/15). Zugelassen hat das BAG beim Mindestlohn nach dem AEntG auch die Anrechnung bloßer "Spätschichtzulagen", wegen § 6 Abs. 5 ArbZG nicht hingegen der Zulagen für Nachtarbeit (BAG 16.4.2014 NZA 2014, 1277). Ferner hat der EuGH für die Entsende-Richtlinie 96/71/EG entschieden, es dürften auf den Mindestlohn alle Leistungen des Arbeitgebers angerechnet werden, die unmittelbare Vergütung für die Arbeitsleistung sind, nicht jedoch aus vornehmlich sozialen oder ähnlichen Gründen gewährte Vergütungen (EuGH 12.2.2015 NZA 2015, 345).

Für die von ihnen geschilderten Zulagen schließe ich daraus: Gerade weil sie nicht an eine individualisierte Leistung des einzelnen Arbeitnehmers, sondern an den Gesamterfolg des Unternehmens anknüpfen, dienen sie der Vergütung des Arbeitnehmers für seine gewöhnliche Arbeitsleistung. Daher dürfen sie auf den Mindestlohn angerechnet werden, wenn sie innerhalb der Fälligkeit (also mindestens im Zwei-Monats-Rhythmus) gewährt werden.

Christian.Rolfs schrieb:

 Daher dürfen sie auf den Mindestlohn angerechnet werden, wenn sie innerhalb der Fälligkeit (also mindestens im Zwei-Monats-Rhythmus) gewährt werden.

Wenn Zahlungen, die nach Ablauf der Fälligkeit des Mindestlohn gezahlt werden, nicht auf den Mindestlohn angerechnet werden können, könnte man doch den Anspruch niemals erfüllen. Normalerweise haben Zahlungen, die im Verzug erfolgen trotzdem Erfüllungswirkung. Wie wäre es, wenn der Arbeitgeber auf die Differenz zum Mindestliohn ab Januar verklagt würde und im Laufe des Verfahrens im November die Sonderzahlung auch ausdrücklich zur Erfüllung der Mindestlohnforderung zahlte? Ordnungswidrig nach § 21 I Nr. 9 MiLoG bliebe das natürlich, aber träte gleichwohl Erfüllung ein?

Oder folgende Alternative: Der Arbeitgeber zahlte monatlich einen Abschlag auf die Sonderzahlung in Höhe eines Zwölftels. Könnte das dann angerechnet werden?

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@ gast24082015

Man muss unterscheiden: Zivilrechtlich hat (natürlich) auch die verspätete Zahlung Erfüllungswirkung (§ 362 BGB). Aber die rechtzeitige Zahlung des Mindestlohns ist nicht nur eine zivil-, sondern auch eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Arbeitgebers (§ 20 MiLoG) und ein Verstoß hiergegen wird mit einem Bußgeld geahndet (§ 21 Abs. 1 Nr. 9 MiLoG).

Die Gewährung eines monatlichen Abschlags auf die Gratifikation erscheint mir unproblematisch, solange die Gratifikation der Abgeltung der Arbeitsleistung dient und nicht aus vornehmlich sozialen oder ähnlichen Gründen gewährt wird (siehe meinen Kommentar #6 und EuGH 12.2.2015 NZA 2015, 345). Dann darf der Abschlag in die Berechnung des Mindestlohns einfließen. Er muss dann aber bedingungslos gewährt werden, darf also nicht zurückgefordert werden, wenn am Jahresende die Unternehmensziele, an die die Gratifikation anknüpft, verfehlt werden.

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