EuGH zur Massenentlassung: Geschäftsführer und Praktikanten können mitzählen

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 27.08.2015

Das Urteil ist zwar schon von Anfang Juli, bislang aber hier im BeckBlog noch nicht vorgestellt worden:

Bei Massenentlassungen verpflichtet § 17 KSchG in Übereinstimmung mit der Richtlinie 98/59/EG den Arbeitgeber, vor der Entlassung der Arbeitsagentur die beabsichtigten Entlassungen anzuzeigen (§ 17 Abs. 1 KSchG; Art. 3 der Richtlinie), den Betriebsrat hierüber zu unterrichten und mit ihm die Möglichkeiten zu erörtern, die Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken (§ 17 Abs. 2 KSchG; Art. 2 der Richtlinie). "Massenentlassungen" können nur von Betrieben vorgenommen werden, die mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigen, in kleineren Betrieben bestehen die vorgenannten Pflichten dagegen nicht.

Vom EuGH zu entscheiden war nun, welche Personen bei der Feststellung des Schwellenwerts von 20 Arbeitnehmern mitzuzählen sind. Im Ausgangsverfahren vor dem Arbeitsgericht Verden a.d. Aller klagte ein Servicetechniker gegen seine betriebsbedingte Kündigung. Diese hatte er erhalten, nachdem die Gesellschafterin seiner Arbeitgeberin gemeinsam mit dem Geschäftsführer beschlossen hatte, den Betrieb Mitte Februar 2013 stillzulegen. Wegen dieser Betriebsstilllegung war die Kündigung nach § 1 Abs. 2 KSchG sozial gerechtfertigt. Das ArbG Verden hatte jedoch Zweifel, ob die Arbeitgeberin nicht auch die Pflichten nach § 17 KSchG hätte beachten müssen: Zum Zeitpunkt der Kündigung waren zwar einschließlich des Klägers nur 18 Arbeitnehmer beschäftigt. Ein Mitarbeiter war kurz zuvor ausgeschieden, muss aber zur Überzeugung des Arbeitsgerichts im Rahmen des § 17 KSchG noch mitgezählt werden. Außerdem beschäftigte das Unternehmen einen Geschäftsführer und eine vom JobCenter geförderte Praktikantin in einer Umschulungsmaßnahme, die ihre Entlohnung von der Agentur für Arbeit enthielt.

Der EuGH entscheidet die ihm vorgelegte Rechtsfrage in einem dem Kläger günstigen Sinne: Sowohl der Fremdgeschäftsführer als auch die Praktikantin sind mitzuzählen:

  1. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung oder Praxis entgegensteht, die bei der Berechnung der in dieser Vorschrift genannten Zahl von Arbeitnehmern ein Mitglied der Unternehmensleitung einer Kapitalgesellschaft wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende unberücksichtigt lässt, das seine Tätigkeit nach Weisung und Aufsicht eines anderen Organs dieser Gesellschaft ausübt, als Gegenleistung für seine Tätigkeit eine Vergütung erhält und selbst keine Anteile an dieser Gesellschaft besitzt.
  2. Art. 1 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 ist dahin auszulegen, dass eine Person wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die im Rahmen eines Praktikums ohne Vergütung durch ihren Arbeitgeber, jedoch finanziell gefördert und anerkannt durch die für Arbeitsförderung zuständigen öffentlichen Stellen, in einem Unternehmen praktisch mitarbeitet, um Kenntnisse zu erwerben oder zu vertiefen oder eine Berufsausbildung zu absolvieren, als Arbeitnehmer im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist.

EuGH, Urt. vom 9.7.2015 - C-229/14, NZA 2015, 861 - Balkaya

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