BGH: Keine Wiedereinsetzung nach Selbstmordversuch

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 06.09.2015

Klingt auf den ersten Blick sehr hart - die Entscheidung des BGH ist aber sicher nicht zu beanstanden. Wiedereinsetzungsanträge müssen ja bekanntlich gut begründet sein:

 Gegen dieses in seiner Anwesenheit verkündete
Urteil hat der Verurteilte mit Schriftsatz seines neuen Verteidigers vom
27. April 2015 Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung des Rechtsmittels beantragt. Die
Rechtsbehelfe erweisen sich bereits als unzulässig.
1. Das Wiedereinsetzungsgesuch des Angeklagten ist unzulässig.
Es entspricht nicht den Anforderungen des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO. Danach
ist der Antrag binnen einer Woche nach Wegfall des Hindernisses zu stellen.
Damit die Einhaltung der Wochenfrist überprüft werden kann, bedarf es zur
formgerechten Anbringung eines Wiedereinsetzungsgesuchs in den Fällen, in
denen dies nach Aktenlage nicht offensichtlich ist, der Mitteilung, wann das
Hindernis, das der Fristwahrung entgegenstand, weggefallen ist (vgl. BGH, Beschlüsse
vom 4. August 2010 – 2 StR 365/10, vom 11. Mai 2011 – 2 StR 77/11,
vom 8. Dezember 2011 – 4 StR 430/11, NStZ 2012, 276, und vom 22. Mai 2013
– 4 StR 121/13, NStZ 2013, 541). Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen
Stand vom 27. April 2015 verhält sich indes nicht dazu, wann der Verurteilte,
dessen Kenntnis für den Fristbeginn entscheidend ist, über die Versäumung
der Einlegungsfrist unterrichtet worden ist. Ausweislich des mit dem Antrag vorgelegten
Schreibens des Verurteilten vom 22. April 2015 hatte dieser in der
Nacht zum 24. März 2015 einen Selbstmordversuch unternommen, woraufhin
er für "ca. 3-4 Wochen" in einen besonders gesicherten Haftraum verlegt worden
war. Nach Rückkehr in seinen Haftraum fand er die Benachrichtigung vor,
dass das Urteil rechtskräftig geworden ist. Nach diesem zeitlichen Ablauf liegt
es nicht fern, dass der Wiedereinsetzungsantrag die Wochenfrist des § 45
Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gewahrt hat. Entsprechende Angaben waren vorliegend
daher nicht entbehrlich.
Im Übrigen wäre der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Revision auch unbegründet.
Der Verurteilte hat nicht nur nicht glaubhaft gemacht, dass er seinen Pflichtverteidiger,
der ihn im erstinstanzlichen Verfahren vertreten hat, mit der Einlegung
der Revision beauftragt hatte. Vielmehr ist durch die schriftliche Erklärung des
Pflichtverteidigers vom 7. Mai 2015 bewiesen, dass der Verurteilte diesen Verteidiger
weder in einer "Nachbesprechung" nach der Verkündung des Urteils
noch anlässlich eines Besuchs während des Laufs der Einlegungsfrist gebeten
hat, Rechtsmittel einzulegen. Ausweislich der anwaltlich versicherten Erklärung
wollte der Verurteilte das Urteil akzeptieren.

2. Da der Angeklagte die Frist zur Einlegung der Revision gemäß § 341
Abs. 1 StPO versäumt hat, war sein Rechtsmittel gemäß § 349 Abs. 1 StPO als
unzulässig zu verwerfen.

BGH, Beschluss vom 29.7.2015 - 4 StR 222/15

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15 Kommentare

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Am Rande: Der BGH verwendet den Begriff "Selbstmord". Haben sich sprachlich inzwischen nicht eigentlich "Selbsttötung" oder "Suizid" durchgesetzt?

 

Die Sachverhaltsdarstellung klingt nach einer menschlichen Tragödie. Die rechtliche Richtigkeit dieser Fallgestaltung beseitegestellt, muss man sich fragen, ob eine Rechtsordnung in derart krassen Fällen wirklich in dieser Schärfe an der Einhaltung von Fristen festhalten will. Wäre eine Überprüfung des Urteils uns als Gesellschaft nicht noch zuzumuten gewesen?

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@ Leser #1

Das BVerfG betont in anderer Sache immer wieder, dass die Anforderungen an das Vorliegen der Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach den maßgeblichen Vorschriften nicht überspannt werden dürfen (BVerfG, Urt. v. 02.09.2002, Az. 1 BvR 476/01; v. 18.10.2012, Az. 2 BvR 2776/10). Eine Verfassungsbeschwerde wäre insoweit also zumindest nicht von vornherein aussichtslos gewesen.

Allerdings kommt man damit nicht an der nach Ansicht des BGH gegebenen Unbegründetheit vorbei.

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Es geht doch gar nicht um die grundsätzliche Problematik "Wiedereinsetzung nach Selbstmordversuch", sondern darum, dass der Verurteilte ganz allgemein die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung, insbesondere Fristbeginn etc., nicht genügend glaubhaft gemacht, vgl.:

"Nach diesem zeitlichen Ablauf liegt es nicht fern, dass der Wiedereinsetzungsantrag die Wochenfrist des § 45 Abs. 1 Satz 1 StPO nicht gewahrt hat."

Ich finde, insofern besteht zu grundsätzlichen Erwägungen, was der "Gesellschaft zuzumuten ist" etc., überhaupt kein Anlass.

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Was mich an dem Beschluss für die Rechtspraxis beispielhaft interessiert, ist die offensichtlich als normal und beweiskräftig angesehene Dokumentationspraxis von Anwälten.

Das Hindernis zur Fristeinhaltung datiert der inhaftierte Verurteilte infolge eines Selbstmordversuchs um den 24.03.2015. Sein ehemaliger Pflichtverteidiger beweist erst mit schriftlicher Erklärung erst nach Ablauf der Einlegungsfrist unter "anwaltlicher Versicherung" vom 07.05.2015, dass kein Auftrag zum Einlegen eines Rechtsmittels erteilt wurde, sondern das Urteil akzeptiert werden sollte. Es gab demnach wohl eine Besprechung nach der Verkündung und einen Besuch noch während der Einlegungsfrist.

Da wird also Jemand zu 6 Jahren und 9 Monaten verurteilt und der Pflichtverteidiger findet bei 2 Besprechungen nicht einmal einen abgeknabberten Bleistift und ein Zettelchen, um den Inhalt und die Ergebnisse der Nachbesprechung und des Gefängnisbesuchs unmittelbar während der laufenden Frist zu dokumentieren und sich ggf. bestätigen zu lassen. Das nachträgliche Erklären, wie es wohl gewesen sei, ersetzt damit eine aus meiner Nichtjuristen-Sicht notwendige und logische Vorgehensweise einer professionellen Verteidigung, eben der nachprüfbaren Dokumentation.

Und "Anwaltliche Versicherung", was ist das?  Ist das ein Rechtsbegriff, eine Qualitätsstufe oder eine hierarchische Einordnung in eine informelle Machtstruktur von Rechtsorganen? Sind diese "Versicherungs"- Träger als Zeugen denn etwas anderes als normale Zeugen? Im vorliegenden Fall wohl sogar ein Zeuge, der kaum als unabhängig vom Ergebnis seiner Zeugenaussage oder seiner "anwaltlichen Versicherung mit Beweiskraft" gelten kann. 

 

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@ Leser #3

Die Frage ist eher, wie streng die Anforderungen für eine Wiedereinsetzung mit Blick auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) sein dürfen.

Wird ein Antrag bei der falschen Behörde eingereicht, ist das auch ein ziemlich eindeutiger Verstoß gegen die allgemeinen Voraussetzungen der Wiedereinsetzung ("ohne Verschulden", z.B. § 44 S. 1 StPO). Trotzdem hat das BVerfG die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung bejaht und das angefochtene Urteil aufgehoben (BVerfG, Urt. v. 02.09.2002, Az. 1 BvR 476/01).

Man sollte bei Wiedereinsetzung also nicht zu früh "das Handtuch werfen".

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@ Lutz Lippke #4

Bei der von Ihnen kritisierten Passage handelt es sich um ein sog. obiter dictum, d.h. es finden sich dort keine die Entscheidung tragenden Erwägungen. Das erkennt man daran, dass das Gericht (unter 2.) den Antrag als unzulässig verwirft und den Absatz zur Unbegründetheit mit dem Konjunktiv einleitet ("wäre...unbegründet"). Wenn es tatsächlich darauf angekommen wäre, hätte der BGH sich möglicherweise etwas genauer ausgedrückt.

Beim Antrag auf Wiedereinsetzung liegt die Beweislast* beim Antragsteller (hier der Angeklagte), d.h. der Angeklagte müsste beweisen, dass er seinen vorherigen Verteidiger mit dem Einlegen der Revision beauftragt hatte. Wenn der vorherige Verteidiger nun aber behauptet, nicht dazu beauftragt worden zu sein, und der Angeklagte keine weiteren Beweismittel vorlegt, verhält es sich mit dem Beweis der Beauftragung sehr schwierig.

Der Verteidiger hat, soweit mir bekannt, keine Dokumentationspflichten.

 

*eigentlich "Glaubhaftmachungslast", für Zwecke der vereinfachten Erklärung durch "Beweislast" ersetzt. Juristisch ist für ein "glaubhaft machen" ein herabgesetzter Beweismaßstab.

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@ MT

Danke für die Erläuterungen zum Beschluss selbst, die ich nachvollziehen kann. Trotzdem halte ich eben gerade die mögliche Tatsache: "Der Verteidiger hat keine Dokumentationspflichten" in diesem Zusammenhang für befremdlich. Was ist mit Berufspflichten des Anwalts wie Informations- und Beratungspflicht, Fürsorgepflicht, Sorgfaltspflicht, Handakte?

Ein Mediziner sollte oder ist auch tatsächlich zur Dokumentation der Behandlung, der Risikoaufklärung und Verfügungen / Einwilligungen des Patienten verpflichtet.

Ein Fachinstallateur muss den Auftraggeber nachweislich auf normverletzende Installtion oder deren Beauftragung hinweisen und die Ausführung/Abnahme evtl. sogar ablehnen, um aus Verschulden oder Haftung genommen zu werden.

In bestimmten Fällen führt die Verteilung von Wissen und Pflichten also doch zur Beweislastumkehr. Bei Anwälten nicht? Warum?

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@ Lutz Lippke #7

Weil es hier nicht primär um Pflichten aus dem Verhältnis Anwalt zu Mandant geht, sondern um die Frage der Wiedereinsetzung - also eine Sache zwischen Strafgericht und Angeklagtem. Wenn der Angeklagte seinen Anwalt vor dem Zivilgericht verklagt, kann es im Zivilprozess möglicherweise eine Beweislastumkehr oder -erleichterung geben. Das hat aber für den Strafprozess keine Bedeutung. Da gelten eben die Regeln der Strafprozessordnung.

Wenn es eine Dokumentationspflicht gäbe, wonach der Anwalt quasi als negative Tatsache aufzeichnen müsste, dass der Mandant kein Rechtsmittel einzulegen wünscht, dann könnte diese Aufzeichnung natürlich auch im Strafprozess herangezogen werden. Aber wie gesagt, ich habe davon noch nie etwas gehört, auch nicht was das Berufsrecht angeht.

Normalerweise hat ein Anwalt auch ein Interesse daran, weitere Rechtsmittel voranzutreiben - daran würde er ja verdienen.

Was den Zivilprozess gegen Anwälte angeht, da gibt es glaube ich weniger Bedürfnis für Aufzeichnungspflichten als bei anderen Berufszweigen - alles, was der Anwalt macht, ist ja gerichtlich dokumentiert oder gelangt zumindest dem Mandanten in Abschrift zur Kenntnis.

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Gut die Verfristung wird mit dem Fehlen genauer Angaben zum Ende des Hindernisses, der Kenntnisnahme der Frist und rechtzeitigem Fristantrag begründet.

Mein Kommentar berührt also nicht die Entscheidungsgründe, sondern die Ansichten des Gerichts unter "Im Übrigen":

"Vielmehr ist durch die schriftliche Erklärung des
Pflichtverteidigers vom 7. Mai 2015 bewiesen, dass der Verurteilte diesen Verteidiger
weder in einer "Nachbesprechung" nach der Verkündung des Urteils
noch anlässlich eines Besuchs während des Laufs der Einlegungsfrist gebeten
hat, Rechtsmittel einzulegen. Ausweislich der anwaltlich versicherten Erklärung
wollte der Verurteilte das Urteil akzeptieren."

Der Logik des Normalerweise und "alles, was der Anwalt macht ist ja gerichtlich dokumentiert" kann ich nicht folgen. Der Anwalt hat ein Mandatsverhältnis, dass das Gericht grundsätzlich nichts angeht. Der Anwalt kann das Mandat niederlegen oder sich entpflichten lassen, was ziemlich häufig und nicht nur durch Verschulden des Mandanten geschieht. Die Argumente gegen eine Dokumentationspflicht solch wichtiger Fakten wie zur Beratung und Verzichtserklärung zur Revision überzeugen mich nicht. Das es das bisher nicht gibt, ist für den Fall bedeutsam, aber für die Frage Warum nicht? keine Erklärung.  

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@ Lutz Lippke #9

Wie ich bereits schrieb (und was Sie - wenig überzeugend - weglassen): Es wird nicht nur in der Regel gerichtlich dokumentiert, sondern der Mandant bekommt auch immer eine Abschrift von allen Schriftsätzen. Das ist auch berufsrechtlich abgesichert.

Die Mandatsniederlagung (Kündigung) muss der Rechtsanwalt nachweisen können, sonst läuft das Mandat weiter. Deshalb wird das immer schriftlich erfolgen.

Was die Dokumentationspflicht angeht: Geld und Ruf sind nach meiner Meinung genügend Anreiz. Da scheint mir für die Lösung kein Problem zu existieren.

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Man weiß aufgrund des Sachverhalts doch garn nciht, ob der RA dokumentiert hat. Er hat später im Verfahren dem Gericht gegenüber eine Erklärung abgegeben. Was er am Tag der Unterredungen dokumentiert hat, ist nicht bekannt.

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Hier wurde wohl kein Suizidversuch bloß behauptet oder bloß geschauspielert und vorgetäuscht, sondern wohl tatsächlich ernsthaft durchgeführt. Die dürfte wohl ein Indiz auf eine schwere Depression sein. Schwere Depressionen können geschäftsunfähig und oder verhandlungsunfähig machen. Wenn der Angeklagte bzw. Verurteilte alleine deswegen willenlos und apathisch das Urteil hingenommen hat, könnte man vielleicht doch prüfen, ob der Angeklagte bzw. Verurteilte die Frist nicht vielleicht schuldlos versäumt hat. Das dürfte wohl von seinem gesundheitlichen Zustand, insbesondere seinen psychischen Zustand, im maßgeblichen Zeitraum abhängen. Wenn der Gesetzgeber dem Betroffenen insoweit eine volle Darlegungs- und Beweislast zuweist, finde ich das bedenklich - der Gesetzgeber sollte sich überlegen, ob er das wirklich will und als gerecht und menschlich erachtet. Die Gerichte haben hier das Recht zwar wohl richtig angewandt, aber der Gesetzgeber sollte sich fragen, ob es nicht humaner un der materiellen Gerechtigkeit dienlicher wäre wenn er die gesetzlichen Regeln abändern würde. Spielraum dürfte der Gesetzgeber (im Gegensatz zu den ans Gesetz gebundenen Gerichten) ja wohl haben. Und Form- und Fristvorschriften können insbesondere in derartigen Fällen zu Härten führen, bei denen der Gesetzgeber sich fragen sollte ob er sie so will.

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@ 12

Das schuldlose Fristversäumnis muss nicht nachgewiesen, sondern glaubhaft gemacht werden. Das Gericht kann/sollte also auf Beweise verzichten, wenn die Hinderung glaubhaft ist.

Man berichtige mich bitte, wenn ich Falsches behaupte.

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@MT #10

Dieses Thema zu vertiefen, würde wohl hier fehlplatziert sein. Für meine Kritik an den Umgang mit Dokumentationspflichten im juristischen Bereich einschließlich den Anwaltsmandaten gibt es genügend begründende Nachweise. Ein Mandat besteht gerade nicht nur aus der Kommunikation mit dem Gericht. Aber da muss man sich ja nicht einig sein oder werden.

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@ Erstsemester Rechtspolitik #12

Ihre Argumentation ist gar nicht mal schlecht. Wenn der Angeklagte tatsächlich durch Geschäfts- bzw. Verhandlungsunfähigkeit an der Revisionseinlegung gehindert war, dürfte das tatsächlich als unverschuldetes Fristversäumnis zu werten sein. Allerdings müsste das, denke ich, für (nahezu) den gesamte Fristlauf gelten. Ob das vom Angeklagten vorgetragen wurde, lässt sich anhand des BGH-Beschlusses nicht nachvollziehen.

 

 

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