Umformulieren statt novellieren – Zum nunmehr dritten Versuch eines JMStV-Entwurfs

von Prof. Dr. Marc Liesching, veröffentlicht am 06.09.2015

„Zu befürchten“ heißt jetzt „anzunehmen“, „Kommission für Jugendmedienschutz“ wird jetzt „KJM“ abgekürzt. Die neuste Version eines Neuregelungsversuchs zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wird dominiert von redaktionellen Scheinregelungen und ist noch substanzloser als die vorherigen Neufassungsversuche. Die fast einzige verbliebene substanzielle Neuregelung ist verfassungswidrig. Die dringlichen Fragen eines zeitgemäßen Schutzes von Kindern und Jugendlichen im Web 2.0 bleiben vollumfänglich unbeantwortet. – Eine Kapitulation vor der Medienwirklichkeit, welche die Länderparlamente nachgerade auffordert, diesem Papier nicht zuzustimmen.

1. Historie der Novellierungsversuche

Nachdem die JMStV-Novelle des 14. RundfunkÄndStV schon Ende 2010 gescheitert war, hatte ein bereits mit den Staatskanzleien abgestimmtes neues "Diskussionspapier" der zuständigen Rundfunkreferenten im März 2014 ein noch früheres Ende gefunden.  Das damalige Papier missachtete u.a. simple Grundlagen der Providerverantwortlichkeit, wie sie seit über zehn Jahren im TDG bzw. TMG und noch länger in der E-Commerce-Richtlinie verankert sind.

Ein weiterer Regelungsentwurf („Eckpunktepapier zum JMStV“ vom 12.03.2015), der vorherige Versäumnisse durch Rücknahme der ersten Vorschläge zu berücksichtigen versuchte, indes kaum neue Ansätze enthielt, wurde im Rahmen einer Online-Konsultation sowie in diesem Blog kritisiert. Die in der Online-Konsultation geäußerte Kritik betraf unter anderem eine Verschärfung der Werbebestimmung des § 6 Abs. 1 sowie eine systemfremde Zivilrechtsnorm, wonach Uploader hätten verlangen können, dass Plattformbetreiber die nutzerseitige Alterskennzeichnung ermöglichen.

Im nunmehr dritten Papier (Fassung vom 11.8.2015) wurde auchinsoweit wieder ein Rückzieher gemacht. Die genannten umstrittenen Regelungen wurden namentlich wieder ersatzlos gestrichen. Statt umfassendere Vorschläge gerade für den heute dominierenden Bereich der Kommunikationsplattformen und sozialen Netzwerke anzubieten, gibt es nun gar kein Regelungsvorschlag mehr. Auch der Medienkonvergenz wird mit keiner einzigen Regelung Rechnung getragen, sondern stattdessen die antiquierte Medienverspartung weiter perpetuiert.

Nachfolgend wird ein Überblick über das im neuen Papier verbliebene Novellierungsrudiment gegeben.

2. Redaktionelle Umformulierungen und deklaratorische Scheinregelungen

Statt auf die dringlichen Fragen eines zeitgemäßen Jugendmedienschutzes Antworten zu geben, wird das Papier nun von redaktionellen semantischen Verschlankungen und Schaufensterregelungen dominiert, welche an der aktuell bestehenden Rechtslage und an der Jugendschutzpraxis nichts ändern. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind etwa folgende Beispiele zu nennen.

  • In §§ 2 und 3 werden hinsichtlich des Geltungsbereichs und einiger Begriffsbestimmungen Umformulierungen bzw. Streichungen vorgenommen, welche mit keiner Veränderung des Jugendmedienschutzes verbunden sind. Sie sind rein redaktionell.
  • § 5 Abs. 1 Satz 2 benennt nun die Altersstufen 6, 12, 16, 18 Jahren. Über die reine Benennung ergeben sich keine materiell-rechtlichen Auswirkungen. Auch bisher schon waren diese Altersstufen in der Bewertungspraxis im Rundfunk und Telemedien überwiegend maßgeblich. Es ändert sich hierdurch nichts.
  • In § 5 Abs. 3 Nr. 1 wird nun ausdrücklich geregelt, dass der Anbieter zur Erfüllung seiner Pflicht zur Wahrnehmungserschwernis entwicklungsbeeinträchtigender Telemedien „das Angebot mit einer Alterskennzeichnung versieht, die von geeigneten Jugendschutzprogrammen nach § 11 Abs. 1 und 2 ausgelesen werden kann“. Dies wird in einer Anmerkung im Papier als „Einführung der freiwilligen Alterskennzeichnung als zusätzliche Handlungsmöglichkeit für den Anbieter“ verkauft. In Wirklichkeit besteht diese Möglichkeit schon immer, da Anbieter längst zur Erfüllung ihrer Anbieterpflicht ihre Angebote für Jugendschutzprogramme labeln können. Die rein deklaratorische Regelung entspricht alter Rechtslage und Praxis, sie verändert nichts.
  • In § 5 Abs. 3 Satz 2 wird folgender Satz formuliert: „Nicht entwicklungsbeeinträchtigende Angebote können als »ohne Altersbeschränkung« gekennzeichnet und ohne Einschränkung verbreitet werden“. Auch hieraus ergeben sich keinerlei rechtlichen Auswirkungen. Auch bislang hat jeder Anbieter sein Angebot mit „ohne Altersbeschränkung“ bezeichnen und ohne Einschränkung verbreiten können.
  • In § 5 Abs. 4 Satz 2 wird die Formulierung „zu befürchten“ jetzt durch „anzunehmen“ ersetzt.
  • § 5 soll ein Absatz 7 angefügt werden wie folgt: „Bei Angeboten, die Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text und Bild wiedergeben, können gegen den Anbieter erst dann Maßnahmen ergriffen werden, wenn die KJM festgestellt hat, dass das Angebot entwicklungsbeeinträchtigend ist“. Auch dies entspricht selbstverständlich bereits der bestehenden Rechtslage. Gemäß §§ 14, 16 JMStV hat die KJM stets erst über Angebotsverstöße zu entscheiden, bevor Maßnahmen ergriffen werden können. Angesichts des Regelungsvorschlags drängt sich erneut die Frage auf, ob Grundlagen des Jugendschutzrechts bei der Formulierung dieses Papiers hinreichend bekannt waren.
  • In § 6 Abs. 2 wird der Begriff „Minderjährige“ durch „Kinder und Jugendliche“ ersetzt. Auch dies zeitigt freilich keine Auswirkungen und ist rein redaktionell.
  • In § 8  wird die Ausformulierung „Kommission für Jugendmedienschutz“ gestrichen, und stattdessen nur noch die Abkürzung „KJM“ genannt.
  • In § 12 Satz 2 wird folgende Regelung vorgeschlagen: „Für Fassungen von Filmen und Spielen in Telemedien, die wie solche auf Trägermedien vorlagefähig sind, kann das Kennzeichnungsverfahren nach dem Jugendschutzgesetz durchgeführt werden“. Ungeachtet dessen, dass dies jetzt schon so ist und praktiziert wird, obliegt die Regelung zur Anwendung von JuSchG-Verfahren dem Bund. Eine Regelung durch die Länder ist – auch wenn sie hier eine rein deklaratorische Schaufensternorm darstellt – verfassungswidrig.

3. Verfassungswidrige Neuregelungen

a) Übernahme von Altersbewertungen als JuSchG-Trägermedien-Freigaben

Als eine der wenigen verbliebenen substanziellen Neuregelungen wird als so genannte Durchgriffswirkung von Altersbewertungen der Online-Selbstkontrollen auf Trägermedienverwertungen in § 5 Abs. 2 Sätze 2 und 3 folgende Fassung vorgeschlagen:

„Die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) bestätigt auf Antrag die Altersbewertungen, die durch eine anerkannte Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle vorgenommen wurden. Für die Prüfung durch die KJM gilt § 20 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 entsprechend. Von der KJM bestätigte Altersbewertungen von anerkannten Einrichtungen der Freiwilligen Selbstkontrolle sind von den obersten Landesjugendbehörden für die Freigabe und Kennzeichnung inhaltsgleicher oder im Wesentlichen inhaltsgleicher Angebote nach dem Jugendschutzgesetz zu übernehmen“.

Wie bereits dargelegt worden ist, ist die vorgeschlagene Regelung ungeachtet ihrer voraussichtlichen Praxisuntauglichkeit verfassungswidrig. Sie überschreitet die Gesetzgebungskompetenz der Bundesländer, da die Rechtsfolgen von Trägermedienfreigaben abschließend in §§ 12, 14 JuSchG geregelt sind. Die Regelung der Übernahme von Bewertungen unterliegt der Regelungskompetenz des Bundes und ist in § 14 Abs. 6 Satz 2 JuSchG abschließend erfolgt. Infolgedessen entfaltet die JuSchG-Norm gemäß Art. 72 GG  eine  Sperrwirkung, welche landesrechtlichen Regelungen entgegensteht (vgl. BVerfGE 109, 190, 228 ff. = NJW 2004, 750, 755).

b) Wiederholung von StGB-Tatbeständen unter landesgesetzlicher Bußgeldandrohung

Verfassungsrechtliche Bedenken bestehen in diesem Kontext auch gegen die Unzulässigkeitstatbestände des § 4 Abs. 1 S. 1 JMStV, soweit sie mit Ordnungswidrigkeitenbestimmungen verknüpft werden. Insoweit ist es nunmehr im dritten Anlauf des Novellierungsvorschlags zwar gelungen, § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 4und 10 JMStV an die Straftatbestände des §§ 130 und §§ 184b, 184c StGB „anzupassen“, wie es im neuen Entwurf heißt, ohne dass Regelungslücken verbleiben. Allerdings verstößt auch dies gegen die Sperrwirkung des Art. 72 GG.

Soweit der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag in Unzulässigkeitstatbeständen Straftatbestände des StGB inkorporiert und Verstöße in einem landesgesetzlichen Ordnungswidrigkeitenkatalog mit Bußgeld bewehrt werden, bestehen erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken aufgrund der Zuordnung der Regelungskompetenz des Strafrechts an den Bund. Hat dieser – wie vorliegend – im Strafrecht von der gesetzlichen Regelung und Sanktionierung in §§ 130 und 184 ff. StGB  Gebrauch gemacht, sind Länderregelungen im Bereich des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts aufgrund der Sperrwirkung des Art. 72 Abs. 1 und 2 GG verfassungswidrig (BVerfGE 109, 190, 228 ff. = NJW 2004, 750, 755). Dies gilt sogar dann, wenn Bundesgesetz und Landesgesetz inhaltsgleich sind (so zum „Bayerischen Straftäterunterbringungsgesetz“ mit Blick auf §§ 66 ff. StGB: BVerfGE 109, 190, 230 = NJW 2004, 750, 755). Nach dem Neuvorschlag im dritten Versuch enthält § 4 Abs. 1 S. 1 Nr. 10 JMStV nunmehr sogar eine explizite Bezugnahme auf § 184b Abs. 1 und 184c Abs. 1 StGB. Dies ist mit Art. 72 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht vereinbar.

4. Verbliebene bzw. erstmals vorgeschlagene Neuregelungen

a) Absenkung des Jugendschutzniveaus bei Programmankündigungen

Zu § 10 Abs. 1 JMStV wird nun erstmalig im dritten Regelungsvorschlag versucht, das Jugendschutzniveau bei Programmankündigungen mit Bewegtbildern im Rundfunk aufzugeben. Die vorgeschlagene Neuregelung lautet: „Werden Sendungen außerhalb der für sie geltenden Sendezeitbeschränkung angekündigt, dürfen die Inhalte der Programmankündigung nicht entwicklungsbeeinträchtigend sein“. Dies bedeutet freilich, dass künftig „18“ Horrorfilme und Thriller im Tagesprogramm mit Bewegtbildern beworben und Kinder und Jugendliche hierauf aufmerksam gemacht werden dürfen. Nach dem bisherigen Recht ist dies nicht möglich.

b) Schwächung der Selbstkontrollen

In dem dritten Entwurfsversuch ist in mehreren Anmerkungen zu praktisch unbedeutenden Richtlinienvorschriften von einer „Stärkung der Selbstkontrollen“ die Rede. Faktisch werden aber die seit vielen Jahren gut und unbeanstandet arbeitenden anerkannten Selbstkontrolleinrichtungen an den entscheidenden Normierungspunkten maßgeblich geschwächt. Insoweit soll ein Bewertungsprimat der Selbstkontrollen zu Bewertungen nach § 4 Abs. 1 JMStV bei vorlagefähigen Rundfunksendungen künftig nicht mehr gelten.

Erheblich ist des Weiteren, dass nach einem nun vorgeschlagenen § 19a Abs. 1 die zuständige Landesmedienanstalt durch die KJM Aufsichtsmaßnahmen gegen Entscheidungen einer anerkannten Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle ergreifen kann, wenn nach Ansicht der KJM die Grenzen des Beurteilungsspielraumes überschritten worden sind. Die staatliche Aufsicht soll bei Behauptung einer Spielraumüberschreitung die Selbstkontrollen nicht nur beanstanden, sondern darüber hinaus auch eine Aufhebung der Entscheidung verlangen können.

c) Sonstiges

Weitere wenige Neuerungen sind auch nach der Online-Konsultation erhalten geblieben bzw. neu hinzugekommen. Dies betrifft etwa

  • die Transparenz von Informationen zum Jugendschutzbeauftragten,
  • den Vorrang von Selbstkontrollrichtlinien im Rahmen der §§ 8, 9 JMStV, welche in der Praxis fast keine Rolle spielen,
  • eine Legaldefinition, die erklären soll, was „Jugendschutzprogramme“ sind sowie wenige Konkretisierungen der Anerkennungsvoraussetzungen; Punkte des vorherigen Entwurfsvorschlag wie z.B. die Anerkennungsvoraussetzung einer Verfügbarkeit „für die am meisten genutzten Betriebssysteme“, wurden wieder herausgenommen; immerhin soll die Programmanerkennung weiterhin durch anerkannte Einrichtungen der Selbstkontrolle erfolgen, was grundsätzlich zu begrüßen ist.

5. Schlussbemerkung

Hinsichtlich der Sinnhaftigkeit der im nunmehr dritten Versuch verbliebenen Normvorschläge kann man sicher ein Für und Wider diskutieren. Man kann es aber auch eigentlich lassen, da die verbliebenen Umformulierungen und wenigen Regelungsansätze, welche verfassungskonform sind, fast keine Auswirkungen haben werden – abgesehen von einer Anerkennungszuständigkeit der Selbstkontrollen für Jugendschutzprogramme und einer Liberalisierung von dann rund um die Uhr zulässigen bewegten Programmankündigungen für extrem entwicklungsbeeinträchtigende Nachtprogrammsendungen.

Die dringlichen Fragen zur Umsetzung eines modernen Jugendmedienschutzes im Zeitalter des Web 2.0 werden weiter vollumfänglich ignoriert. Kinder und Jugendliche werden in Bezug auf Kommunikationsrisiken in sozialen Netzwerken alleine gelassen. Automatisierte Altersbewertungssysteme wie IARC, welchen zweifelsohne die Zukunft im Rahmen der Altersklassifizierung gehören wird, werden in dem am alten Regelungsmodell festhaltenden Novellierungsversuch nicht berücksichtigt (Die Nennung in der „Modellversuchsregelung“ des vorgeschlagenen § 11 Abs. 6 Satz 2 JMStV-E weist eher darauf hin, dass immer noch nicht verstanden worden ist, was automatisierte Altersklassifizierungssysteme überhaupt machen und dass sie keine Jugendschutzprogramme sind).

Der Medienkonvergenz wird in keiner der vorgeschlagenen Regelungen Rechnung getragen. Es bleibt bei der Differenzierung in unterschiedlichen Mediensparten, welche den Medienrealitäten entrückt ist. Auch die faktische Immunitätsregelung der Herausnahme des öffentlich-rechtlichen Rundfunks aus der Aufsichtsägide wird unkommentiert fortgesetzt, obwohl ARD, ZDF sowie die weiteren Programme sich an Vorgaben des JMStV seit Jahren nicht in derselben Weise halten, wie es private Rundfunkveranstalter müssen. Die zu Recht von der KJM erhobene Forderung nach einer Eingliederung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in das allgemeine Aufsichtssystem wird beharrlich und unkommentiert ignoriert.

Das im dritten Versuch verbliebene Normrudiment ist ein Offenbarungseid und eine Kapitulation vor der Medienwirklichkeit. Insoweit kann kein anderes Fazit gezogen werden, als nach der letzten Entwurfsfassung. Die Vorlage hat im Falle ihrer Umsetzung keine praktischen Auswirkungen auf den jetzt schon hoffnungslos veralteten Jugendmedienschutz und mündet lediglich in den Befund, dass die Medienrealitäten einer phlegmatischen, ideenlosen und im Grunde hilflos erscheinenden Länderregulierung gänzlich enteilt sind. Dem steht ein in Verfassungsrang stehender und die Gesetzgeber bindender Auftrag zum Schutz von Kindern und Jugendlichen in ihrer heutigen Medienwelt gegenüber. Es bleibt zu hoffen, dass einige Bundesländer sich diesem Auftrag auch in der Medienwelt des 21. Jahrhunderts noch verpflichtet sehen und der hier vorgestellten Scheinnovelle nicht zustimmen werden.

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