Fall Frederike nach 35 Jahren: Rechtskraft oder Vergeltung?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 29.11.2015

Die Rechtslage ist eindeutig: Die Wiederaufnahme eines Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen ist nach § 362 StPO nur unter sehr engen Voraussetzungen möglich:

§ 362 StPO

Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zuungunsten des Angeklagten ist zulässig,

1. wenn eine in der Hauptverhandlung zu seinen Gunsten als echt vorgebrachte Urkunde unecht oder verfälscht war;

2. wenn der Zeuge oder Sachverständige sich bei einem zugunsten des Angeklagten abgelegten Zeugnis oder abgegebenen Gutachten einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Verletzung der Eidespflicht oder einer vorsätzlichen falschen uneidlichen Aussage schuldig gemacht hat;

3. wenn bei dem Urteil ein Richter oder Schöffe mitgewirkt hat, der sich in Beziehung auf die Sache einer strafbaren Verletzung seiner Amtspflichten schuldig gemacht hat;

4. wenn von dem Freigesprochenen vor Gericht oder außergerichtlich ein glaubwürdiges Geständnis der Straftat abgelegt wird.

Anders als bei einer Wiederaufnahme zugunsten eines Verurteilten gibt es nach einem rechtskräftigen Freispruch also keine Wiederaufnahme, wenn  - was der häufigste Fall ist - neue Tatsachen bekannt werden.

In dem Fall, der seit einigen Monaten Aufsehen erregt, ist ein des Mordes Tatverdächtiger vor mehr als 30 Jahren freigesprochen worden – das LG Stade hatte seine Zweifel nicht überwinden können und die vorhandenen Indizien nicht für überzeugend gehalten.

Bericht der FAZ (Auszüge):

Frederike war 17 Jahre alt, als sie im November 1981 als Anhalterin in ein Auto stieg. Die Schülerin aus Hambühren wurde in einem Wald in der Nähe ihres Heimatortes bei Celle vergewaltigt, erstochen und entsetzlich zugerichtet liegengelassen. (...)

Experten des Landeskriminalamtes in Hannover hatten sich die alten Beweismittel mit neuen Untersuchungsmethoden noch einmal vorgenommen und DNA-Spuren gesichert, die einen 56 Jahre alten Mann stark belasten. Dieser Mann war bereits 1982 in dem Mordfall schuldig gesprochen worden. Allerdings hob der Bundesgerichtshof das Urteil auf, und der Verdächtige wurde 1983 vom Landgericht Stade aus Mangel an Beweisen freigesprochen. (...)

„Als ich aus dem Bericht des LKA erfahren habe, dass DNA gefunden wurde, habe ich geweint vor Erleichterung. Endlich hatte ich Gewissheit“, erinnert sich der Vater des Opfers. Umso größer war sein Entsetzen, als er erfuhr, dass die entdeckten Beweismittel aufgrund des Freispruchs nicht ausreichen, um einen neuen Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter aufzurollen.

Eine DNA-Prüfung hat also nun den Tatverdacht gegen den Freigesprochenen verstärkt. Ein neuer Prozess unter Berücksichtigung dieses neuen DNA-Indizes würde möglicherweise nicht mehr mit Freispruch enden. Jedoch: Einen neuen Prozess wird es nach Gesetzeslage nicht geben, es sei denn, der Freigesprochene legt ein Geständnis ab.

Verständlicherweise ist der Vater des Mordopfers, der seit der Tat den Mörder seiner Tochter sucht, empört. Er sammelt derzeit Unterschriften für eine Online-Petition bei change.org mit (auszugsweise) folgendem Text:

„Deshalb fordere ich Justizminister Heiko Maas auf, § 362 der Strafprozessordnung zu ergänzen. Es muss möglich sein, ein Verfahren wieder zu eröffnen, wenn neue, vom Bundesgerichtshof anerkannte wissenschaftliche Methoden einen freigesprochenen Täter überführen.

Mehrfach wurde mir gegenüber der vielbeschworene Begriff der „Rechtssicherheit” angebracht - wenn jemand in Deutschland freigesprochen ist, dann soll er auch die Sicherheit haben, dass er nicht erneut angeklagt werden kann. Es geht hier aber nur um die ganz wenigen Fälle eines falsch freigesprochenen Mörders.

In Österreich, in England, in Finnland, in Norwegen und in Schweden ist in solchwen Fällen eine neue Gerichtsverhandlung bei neuen Beweismitteln vorgesehen.

Nicht nur für Frederike, sondern für alle Betroffenen bitte ich Sie, Herr Maas, setzen Sie sich mit mir und weiteren Experten an einen Runden Tisch und diskutieren Sie mit uns die Änderung des § 362 der Strafprozessordnung.“

Ich habe schon viele Gespräche zu diesem Fall geführt. Nichtjuristen sind regelmäßig entsetzt über die harte Konsequenz der Rechtskraft. Tatsächlich war auch eine Mehrheit der Juristen unter meinen Gesprächspartnern der Ansicht, es sei unerträglich, dass möglicherweise ein Mörder frei ist, der mit neuen Methoden überführt werden könnte, aber dem man nicht mehr den Prozess machen kann. Dahinter steckt ein tiefes Empfinden, dass letztlich auch eine sehr lange zurück liegende Tat gesühnt werden muss - ein Vergeltungsbedürfnis , das auch dann noch existiert, wenn andere Strafgründe und -zwecke nicht greifen. Letztlich geht es um den Ur-Konflikt zwischen materieller Gerechtigkeit und Rechtssicherheit.

Auch die Rechtskraft ist aber ein hoch einzuschätzendes Prinzip: Sie sichert letztlich den weltweit in Strafrechtsordnungen verankerten Grundsatz „ne bis in idem“ (keine zwei Prozesse in derselben Sache). Allerdings gilt die Rechtskraft ohnehin nicht ganz schrankenlos, wie ja auch die Wiederaufnahmeregeln §§ 359, 362 StPO zeigen.

Im Jahr 2008 hatten zwei Bundesländer (NRW und HH) schon einen Gesetzentwurf (BT-Drs. 16/7957) mit demselben Ziel eingebracht. Eine neue Nr. 5 zu  § 362 sollte lauten:

5. wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden, die bei Erlass des Urteils, in dem die dem Urteil zu Grunde liegenden Feststellungen letztmalig geprüft werden konnten, nicht zur Verfügung standen, neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind.

Satz 1 Nr. 5 gilt nur in Fällen des vollendeten Mordes (§ 211 des Strafgesetzbuchs), Völkermordes (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs), des Verbrechens gegen die Menschlichkeit (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder Kriegsverbrechens gegen eine Person (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 des Völkerstrafgesetzbuchs) oder wegen der mit lebenslanger Freiheitsstrafe zu ahndenden vollendeten Anstiftung zu einer dieser Taten.

Dieser Gesetzentwurf wurde nicht verwirklicht.

Was meinen Sie? Sollte § 362 StPO (wenn ja, wie?) geändert werden, um solche Fälle zu erfassen? Welche (möglicherweise unerwünschten) Folgen könnte eine solche Änderung nach sich ziehen? Sollte dann doch das Prinzip Rechtskraft Vorrang haben?

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62 Kommentare

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Wer sich trotz der o.g. Zitate aus der BGH-Entscheidung und von Prof. Müller dazu berufen fühlt, die materielle Gerechtigkeit mittels eines Nazi-Zitats zu diffamieren, der begeht den gleichen logischen Fehler wie diejenigen, die Wagners Musik, Schäferhunde und Berchtesgaden ablehnen mit dem Verweis darauf, dass Hitler dafür geschwärmt habe. (Oder wissenschaftsnäher: diejenigen, die die Diskussion über das Ausschalten der natürlichen Selektion durch Medizin und dessen Konsequenz für Gendiagnostik unterbinden wollen, weil alles, was auch nur entfernt mit Eugenik zu tun hat, bähpfui ist, weil auch Nazis sich damit befasst haben. Das ist genauso intelligent wie das Ablehnen von Transplantationen, weil auch Frankenstein sich damit befasst und sie missbraucht hat.)

Was in diesem Fall besonders übel aufstößt, ist die Unverhältnismäßigkeit der Verjährung: der Täter wird auf ewig geschützt, das Opfer - und Eltern des Opfers sind selbst Verbrechensopfer - hat keine Möglichkeit mehr der Wahrheitsfindung, nicht einmal zivilrechtlich auf eigene Kosten. Es ist dieses Ungleichgewicht, das verstört.

...das Opfer - und Eltern des Opfers sind selbst Verbrechensopfer - hat keine Möglichkeit mehr der Wahrheitsfindung, nicht einmal zivilrechtlich auf eigene Kosten.

Niemand hindert das Opfer und seine Eltern an "Wahrheitsfindung" durch Wissenschaftler, Ermittler oder sonstige Nachforschungen, wie auch immer noch "Wahrheitsfindung" zum Fall "Kaspar Hauser" stattfindet, zu "Jack the Ripper" oder zum Attentat auf John F. Kennedy etc., alles Fälle, zu denen es ständig angeblich neue "Beweise" und Theorien gibt. Nur staatliche "Vergeltung" wird es eben nicht mehr geben...

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Als juristisch interessierter Laie steht für mich unter anderem die individuelle Gerechtigkeit im Vordergrund. Das beinhaltet für mich die Möglichkeit der Wiederaufnahme bei einem mglw unschuldig Verurteilten genauso wie bei einem mglw schuldig Freigesprochenen (bei schweren Verbrechen). In dieser Beziehung überwiegt meiner Meinung nach hier der Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit den Grundsatz der Rechtssicherheit. Vergeltung ziehe ich gar nicht in Erwägung.

 

Im übrigen hatte ich - nicht nur - bei Mollath den Eindruck, daß die Wiederaufnahme zugunsten eines mglw unschuldig Verurteilten reformbedürftig ist.

3

Das BVerfG hält immer noch sehr viel von der materiellen Gerechtigkeit

... ob die Mitwirkung eines polizeilichen Lockspitzels bei der Überführung eines Straftäters überhaupt geeignet sein kann, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs gegen den Betroffenen zu hindern. […] könnte ein derartiges Verbot der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs nur in extremen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, weil es nicht nur Belange des Beschuldigten, sondern auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt.

http://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/...

Sogar so viel, dass der Staat Bürger zu Straftaten anstiften darf, um sie anschließend deswegen zu verurteilen. Aus Unbescholtenen Kriminelle zu machen soll grundgesetzkonform sein, dafür verzichtet man bei mutmaßlich tatsächlichen Kriminellen auf Strafverfolgung?

Aus Unbescholtenen Kriminelle zu machen soll grundgesetzkonform sein

Das ist mehr als zweifelhaft. Einerseits heisst es: "Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation steht einer Verurteilung nicht zwingend entgegen". Andererseits heisst es :"Eine Verfahrenseinstellung kann nur in extremen Ausnahmefällen aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleitet werden, weil dieses auch das Interesse an einer der materiellen Gerechtigkeit dienenden Strafverfolgung schützt". Wie die Rechtmässigkeit einer "rechtsstaatswidrigen Tatprovokation" aus dem Rechtsstaatsprinzip (das angeblich auch die materiellen Gerechtigkeit schützt) herzuleiten sein soll, bleibt das Geheimnis unseres höchsten deutschen Gerichts. Das Bundesverfassungsgericht hat die Unsinnigkeit dieser Rechtsprechung mit Sicherheit auch erkannt, andernfalls es doch sicher nicht in der Überschrift seiner Presseerklärung den Begriff "rechtsstaatswidrig" aufgenommen hätte. So beschränkt ist unser als intellektuell brilliant geltendes Bundesverfassungsgericht natürlich nicht, dass es nicht erkannt hätte, dass der Begriff "rechtsstaatswidrig" im Titel der Presseerklärung eigentlich reichlich deplatziert und im übrigen völlig unnötig ist. Die Überschrift hätte nämlich genau so gut lauten können: "Die Tatprovokation steht einer Verurteilung nicht zwingend entgegen". Was sagt das? Das sagt: Leute seid vorsichtig! Das halten wir nur noch ausnahmsweise vorläufig für vertretbar, dann nicht mehr! Das ist nämlich "rechtsstaatswidrig"!

 

 

@ OG (01.12.2015 S.1 #29)

Das BVerfG hat mittlerweile über die BFH Vorlage entschieden und genauso entschieden, wie Sie es vorausgesagt haben.

Quote:

  1. Aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG folgt, dass völkerrechtlichen Verträgen, soweit sie nicht in den Anwendungsbereich einer anderen, spezielleren Öffnungsklausel - insbesondere Art. 23 bis 25 GG - fallen, innerstaatlich der Rang eines einfachen (Bundes-)Gesetzes zukommt.
 
  1. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG schränkt die Geltung des lex-posterior-Grundsatzes für völkerrechtliche Verträge nicht ein. Spätere Gesetzgeber müssen - entsprechend dem durch die Wahl zum Ausdruck gebrachten Willen des Volkes - innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen Rechtsetzungsakte früherer Gesetzgeber revidieren können.

https://www.bverfg.de/e/ls20151215_2bvl000112.html

Das einzig interessante Gedankenspiel wäre jetzt noch, ob der UN-Zivilpakt als lex posterior zur StPO den § 362 StPO insoweit entkernt hat, als Art. 14 Abs. 7 IPbpR reicht. Oder ob der Gesetzgeber nach dem UN-Zivilpakt den § 362 StPO noch einmal bestätigt hat und damit lex posterior zu Art. 14 Abs. 7 IPbpR besteht.

0

#6 ist von mir.

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Die niedersächsische Justizministerin Frau Niewisch-Lennartz spricht sich, mit Bezug auf den Fall Frederike, gegen eine Änderung des § 362 StPO aus. Dabei beruft sie sich auf Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem).

Quote:
Völlig zu Recht wird die Frage formuliert, ob dies auch so sein kann, wenn auf Grund neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse feststeht, dass die frühere Entscheidung des Gerichts unzutreffend war. In diesem Fall erscheint das frühere Urteil kaum erträglich. Der Rückgriff auf eine Unerträglichkeitsgrenze ist aber nicht geeignet, einen Eingriff in Artikel 103 Abs. 3 des Grundgesetzes in Form eines neu zu schaffenden Wiederaufnahmegrundes zu Lasten des Angeklagten bei neuen Beweismitteln zu rechtfertigen. Dies liegt daran, dass ein Rückgriff auf eine Unerträglichkeitsgrenze nicht hinreichend konkretisierbar und damit rechtssicher ist. Was für unerträglich gehalten wird, ist von einer Vielzahl von Wertentscheidungen abhängig. Einer eindeutigen Definition ist dieser Begriff nicht zugänglich. Nur unter dieser Voraussetzung wäre die Einschränkung eines grundgesetzlich geschützten Bereichs möglich.

http://www.mj.niedersachsen.de/portal/live.php?navigation_id=3745&articl...

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Ich war und bin der Meinung, dass die Einführung des § 362 Abs. 5 StGB auf jeden Fall mit dem Rückwirkungsverbot nicht vereinbar ist und daher auf bereits abgeschlossene und rechtskräftige Fälle zum Zeitpunkt seiner Einführung nicht angewandt werden darf. Dass der Gesetzgeber die mit den Wiederaufnahmevoraussetzungen verknüpfte Rechtskraftwirkung für künftige oder noch nicht rechtskräftige Fälle mit Vorrang der materiellen Gerechtigkeit in bestimmten Fällen nicht neu regeln kann, das leuchtete mir nicht so ganz ein. Das BVerfG begründet das mit der systematischen Auslegung:

"Art. 103 Abs. 3 GG gewährt dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit. Indem Art. 103 Abs. 3 GG bestimmt, dass wegen derselben Tat keine erneute Bestrafung erfolgen darf, hat das Grundgesetz selbst für den Anwendungsbereich dieser Bestimmung, mithin für strafgerichtliche Urteile, bereits entschieden, dass dem Prinzip der Rechtssicherheit Vorrang vor dem Prinzip der materialen Gerechtigkeit zukommt.

Diese Vorrangentscheidung ist absolut. Sie steht einer Relativierung des Verbots durch Abwägung mit anderen Rechtsgütern von Verfassungsrang nicht offen. Zwar folgt dies noch nicht zwingend aus dem Wortlaut oder der Entstehungsgeschichte. Bei systematischer Betrachtung erscheint Art. 103 Abs. 3 GG jedoch abwägungsfest."

Liebe Leserinnen und Leser, ich werde zeitnah einen neuen Beitrag zur heutigen Entscheidung des BVerfG einfügen. Deshalb schließe ich hier die Diskussion. Danke für Ihr Verständnis.

 

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