Fall Mollath - BGH verwirft Revision

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 09.12.2015

Mit seiner heute bekannt gemachten Entscheidung hat der 1. Senat des BGH die von Gustl Mollath gegen das Urteil des LG Regensburg vom 14. August 2014 eingelegte Revision verworfen, Pressemitteilung.

Die Entscheidung wurde sogleich mit Begründung im Wortlaut veröffentlicht.

Die Ausführlichkeit der Begründung und deren sofortige Veröffentlichung stehen im erstaunlichen Kontrast zur erstmaligen Revision des BGH im Fall Mollath, bei der ein außerordentlich fehlerhaftes und problematisches Urteil des LG Nürnberg-Fürth vom selben Senat einfach ohne nähere Begründung zur Rechtskraft „durchgewunken“ wurde. Immerhin scheint auch der BGH insofern aus dem Fall Mollath „gelernt“ zu haben. Zunächst nur ein kurzer Kommentar, den ich je nach Diskussionsverlauf möglicherweise in den nächsten Tagen ggf. noch ergänzen werde:

Wie ich schon zuvor verschiedentlich geäußert haben, war tatsächlich kaum damit zu rechnen, dass der BGH seine grundsätzliche Linie, der Tenor eines Urteils selbst müsse eine Beschwer enthalten, damit zulässig Revision eingelegt werden kann, gerade bei diesem Fall ändert. Dennoch gab es natürlich auch bei mir die leise Hoffnung, der BGH werde sich mit den sachlichen Einwänden gegen das Urteil, die auch ich noch hatte, auseinandersetzen.

Immerhin kann man den Beschluss angesichts der ausführlichen Begründung nun auch juristisch nachvollziehen, selbst wenn man ihm im Ergebnis nicht zustimmt. Es findet insbesondere auch eine Auseinandersetzung mit dem auch hier im Beck-Blog diskutierten vom EGMR entschiedenen Fall Cleve ./. Deutschland statt: Dort war der EGMR von der Tenorbeschwer abgewichen. Der BGH meint nun, das Urteil im Fall Mollath sei mit Cleve ./. Deutschland nicht vergleichbar, weil im Mollath-Urteil anders als im Cleve-Fall kein direkter Widerspruch zwischen Tenor und  Begründung festzustellen sei.

Enttäuscht bin ich vom letzten Satz der Begründung des Beschlusses, der konstatiert, die Revision sei ohnehin unbegründet gewesen. Dieser Satz ist völlig verzichtbar und gibt dem Leser Steine statt Brot.

Abgesehen von der  Kritik am Urteil des LG Regensburg möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen: Der gesamte Fall in seiner Entwicklung und Dynamik ist ein aus Sicht des Dezember 2012 riesiger persönlicher Erfolg für Herrn Mollath und ist auch in seiner langfristigen Wirkung auf die (bayerische) Justiz und den Maßregelvollzug nicht zu unterschätzen.. Das sollte man – bei aller Enttäuschung über die heutige Entscheidung des BGH – nicht vergessen.

Update (14.12.2015): Eine eingehendere sehr kritische Analyse hat nun Oliver Garcia im delegibus-Blog veröffentlicht.

Update 3.3.2016: Die Kommentarspalte ist nach mehr als tausend Beiträgen geschlossen.

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1041 Kommentare

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Gast schrieb:

Hieraus folgt, dass es gegen Urteile und gegen die rechtsprechende Gewalt überhaupt nur die einfachgesetzlich vorgesehenen Klage- und Rechtsmittelmöglichkeiten gibt. Art. 19 Abs. 4 GG gibt darüber hinaus de lege lata nichts her.

Das kommt mir spanisch vor. Das BVerfG hat sich in einem Beschluss aus 1970 jedenfalls nicht daran gehindert gesehen, eine Persönlichkeitsrechtsverletzung bei einem freisprechenden Strafurteil zu prüfen. Das wäre, wenn Ihre Ausführungen korrekt sind, entgegen Art. 19 Abs. 4 GG gewesen.

Quote:

2. Gegen einen Freispruch im Strafverfahren ist eine Verfassungsbeschwerde des Angeklagten nicht schlechthin ausgeschlossen; denn das freisprechende Urteil kann durch die Art seiner Begründung Grundrechte verletzen (BVerfGE 6, 7 (9)). Ausführungen in den Gründen eines freisprechenden Urteils werden jedoch nur in seltenen Ausnahmefällen zur Feststellung eines selbständigen Grundrechtsverstoßes führen können. In aller Regel muß es bei dem Grundsatz bleiben, daß eine Beschwer sich nur aus dem Entscheidungstenor ergeben kann; er allein bestimmt verbindlich, welche Rechtsfolgen auf Grund des festgestellten Sachverhalts eintreten. In einzelnen Ausführungen der Entscheidungsgründe kann nur dann eine Grundrechtsverletzung erblickt werden, wenn sie - für sich genommen - den Angeklagten so belasten, daß eine erhebliche, ihm nicht zumutbare Beeinträchtigung eines grundrechtlich geschützten Bereichs festzustellen ist, die durch den Freispruch nicht aufgewogen wird. Das ist nicht schon dann anzunehmen, wenn die Entscheidungsgründe einzelne, den Beschwerdeführer belastende oder für ihn "unbequeme" Ausführungen enthalten oder Mängel aufweisen, die vielleicht in einem Revisionsverfahren mit Erfolg gerügt werden könnten.

http://dejure.org/1970,180

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Gast schrieb:

MT schrieb:

Was ich nicht ganz verstehe: Wofür brauchen wir Art. 19 Abs. 4 GG überhaupt?

"Art. 19 Abs. 4 GG enthält ein Grundrecht auf effektiven und möglichst lückenlosen gerichtlichen Schutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt... Nicht zur öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Bestimmung gehören allerdings Akte der Rechtsprechung. Denn Art. 19 Abs. 4 GG gewährt Schutz durch den Richter, nicht gegen den Richter..."
BVerfG, B. v. 2.12.2014 - 1 BvR 3106/09 (Rn. 18)

Hieraus folgt, dass es gegen Urteile und gegen die rechtsprechende Gewalt überhaupt nur die einfachgesetzlich vorgesehenen Klage- und Rechtsmittelmöglichkeiten gibt. Art. 19 Abs. 4 GG gibt darüber hinaus de lege lata nichts her. Gegen Justizverwaltungsakte, also auch richterliche Akte, die nicht die "letztverbindliche Klärung der Rechtslage in einem Streitfall im Rahmen besonders geregelter Verfahren" betreffen, gibt es §§ 23 ff. EGGVG (vgl. BVerfG, a. a. O.)

 

Zuhörer schrieb:

Nun präsentierte ich oben schon die Fast-Food-Version.

Ihre zitierte Verfassungsbeschwerde hat mit der Zulässigkeit einer Revision, die hier diskutiert wird, nun wirklich nichts zu tun.

 

Ich weiß nicht, was in der Fast-Food-Version steht. Interessiert mich auch nicht wirklich. Ich glaube, Sie liegen falsch. Zwar geht es in der Entscheidung des OLG, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen wurde, nicht um Revision und deren Zulässigkeit. Es geht aber um ein anderes Rechtsmittel, und zwar die Rechtsbeschwerde, die gesetzlich geregelt ist - wie die Revision. Das OLG hielt sie im konkreten Fall für unzulässig und verletzte den Beschwerdeführer in seinen Grundrechten aus Art. 19 IV GG. So die Entscheidung des BVerfG mit folgendem Begründungsansatz (Rn. 26):

Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl. BVerfGE 67, 43 <58> ; stRspr). Dabei fordert Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug. Eröffnet das Prozessrecht aber eine weitere Instanz, so gewährleistet Art. 19 Abs. 4 GG dem Bürger auch insoweit eine wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 40, 272 <274 f.>; 54, 94 <96 f.>; 122, 248 <271>; stRspr). Die Rechtsmittelgerichte dürfen ein von der jeweiligen Rechtsordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht durch die Art und Weise, in der sie die gesetzlichen Voraussetzungen für den Zugang zu einer Sachentscheidung auslegen und anwenden, ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer leerlaufen lassen; der Zugang zu den in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanzen darf nicht von unerfüllbaren oder unzumutbaren Voraussetzungen abhängig gemacht oder in einer durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (vgl. BVerfGE 96, 27 <39>; 117, 244 <268>; 122, 248 <271>; stRspr).

http://www.bundesverfassungsgericht.de/entscheidungen/rk20111026_2bvr153...

 

Das ist aber auch wirklich nichts Neues. Schon in meiner älteren Ausgabe von von Münch/Kunig (Art. 19, Rn. 64) steht mit dem Nachweis der ständigen Rechtsprechung des BVerfG:

Z.B. darf der Zugang zu einem Gericht nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschwert werden (st. Rspr. z.B. BVerfGE ...). Dasselbe gilt, soweit vorhanden, für den Zugang zur nächsthöheren Instanz (BVerfG GE 41, 323 [326 f.]).

Das gilt selbstverständlich auch für die Zulässigkeit der Revision und für die Auslegung der Beschwer und ihre Beschränkung auf die Tenorbeschwer. Ich bin daher der Ansicht, dass der Art. 19 IV GG mit in die Auslegung gehört. 

Die Verfassungsbeschwerde gegen Grundrechtsverstösse ist, unabhängig von Art. 19 Abs. 4 GG, natürlich immer möglich (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG). Sie hatten sich ja nur nach dem Sinn und Zweck des Art. 19 Abs. 4 GG erkundigt.

0

Gut, dann ist Art. 19 Abs. 4 GG für den Fall Mollath also ohne Konsequenz (?). Wie gesagt können dann die Grundrechte direkt auf die Tenorbeschwer iSd BGH einwirken und zu einer Ausnahme wegen Grundrechtsverletzung zwingen.

Nur verstehe ich dann immer noch nicht, wofür man in dem Zusammenhang Mollath Art. 19 Abs. 4 GG braucht oder brauchen könnte. Die von Zuhörer zitierte BVerfG Entscheidung befasst sich ja auch nur mit dem rechtlichen Gehör, was im Fall Mollath jedenfalls bei der Beschwer ja nicht das Thema ist.

0

Gut, dann ist Art. 19 Abs. 4 GG für den Fall Mollath also ohne Konsequenz (?)

Man könnte hinsichtlich des BZR-Eintrags möglicherweise an Art. 19 Abs. 4 GG iVm § 23 EGGVG denken, soweit es insoweit keine spezielleren Rechtsbehelfe gibt.  Das ist allerdings ohne nähere Prüfung nur so dahin gesagt...

5

Aber doch nicht im Hinblick auf das Revisionsurteil?

§ 23 EGGVG ist mWn einschlägig, wenn es um den Antrag auf Entfernung aus Bundeszentralregister nach § 25 BZRG geht.

5

@ Menschenrechtler

Um die Vorgehensweise des BGH zu begreifen, muss man den gesetzlichen Verfahrensweg nachvollziehen und kommt zu der Entscheidungssituation des BGH: 

"unzulässig verwerfen ODER Alles öffentlich verhandeln und durchbegründetes Urteil entscheiden"  

Gesetzlicher Verfahrensweg zur Revisionsentscheidung

A) Die Prüfung der Zulässigkeit und Begründetheit eines Revisionsantrages durch das Revisionsgericht (hier der BGH) erfolgt nach § 349 StPO.

B) Im 1. Schritt prüft das Revisionsgericht optional die formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen gemäß den Vorschriften über die Einlegung der Revision oder die Anbringung der Revisionsanträge. Die Prüfung ist optional, da bereits das Ausgangsgericht (hier das LG) den Revisionsantrag auf Zulässigkeit geprüft hat (§ 346 StPO). Das Revisionsgericht ist jedoch nicht an die Prüfergebnisse des Ausgangsgericht gebunden. Sind die Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt, wird die Revision mit Beschluss als unzulässig verworfen (§ 349 I StPO).

C) Sind die formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt, ist vom Revisionsgericht die Begründetheit der Revision und des Revisionsantrages zu prüfen. Bis 1922 war hierzu nach § 389 Abs. 1 S.2 RStPO auch bei aussichtslosen Revisionen ein Urteil und somit eine Hauptverhandlung mit allen Senatsmitgliedern und ein begründetes Urteil erforderlich. Der Bearbeitungsaufwand für aussichtslose Revisionen war erheblich, so dass zur Entlastung der Revisionsgerichte die sogenannte "Lex Lobe" 1922 in Kraft trat, die dem heutigen § 349 II StPO entspricht.

D) Auf begründeten Antrag der STA kann das Revisionsgericht seither auch durch Beschluss entscheiden. Zum Antrag der STA mit den Gründen kann der Revisionsführer binnen 2 Wochen eine schriftliche Gegenerklärung einreichen (§ 349 III StPO). Wird die Revision einstimmig als offensichtlich unbegründet erachtet, wird die Revision durch Beschluss entsprechend verworfen (§ 349 II StPO). Wird die zugunsten des Angeklagten eingelegte Revision einstimmig als begründet erachtet, wird das angefochtene Urteil durch Beschluss aufgehoben (§ 349 IV StPO).

E) Diese Regelung D dient also der Prozessökonomie und soll formal zulässige, aber offensichtlich aussichtlose Revisionen schnell erledigen. 

F) Ohne Antrag der STA, bei fehlender Einstimmigkeit oder fehlender Offensichtlichkeit einer Unbegründetheit ist die Revision durch Urteil zu entscheiden. (§ 349 V StPO).

Fazit: Fehlt es an einem Antrag der STA kann das Revisionsgericht nur wegen Unzulässigkeit einstimmig  mit Beschluss verwerfen (B) oder eben durch Urteil begründet entscheiden (F).
Zur Revision von GM lag diese Situation vor. Da die STA keinen Antrag auf Beschluss stellte und eine entsprechende Anregung ("Bestellung") an die STA durch das Revisionsgericht die erfolgreiche Ablehnung der Richter durch den Revisionsführer ermöglichen würde (BVerfG), konnte der BGH nur einstimmig als unzulässig verwerfen oder die Revision nach Hauptverhandlung durch ein begründetes Urteil zum gesamten Antragsumfang entscheiden.

3

Die „zweifelhafte“ zweifache Nichtanwendung „des Rechtsgrundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“ und die zweifache beschwerende Anwendung durch diesen „Zweifelsatz“ im Fall Mollath: Ein Paradoxum! Ein schwerwiegendes Unrecht!

Bereits im LG-Prozess wurde trotz aller Zweifel, Fragwürdigkeiten und des offenkundigen Belastungseifers der Ex-Frau Gustl Mollaths mit der angeblichen Körperverletzung belastet. Obwohl in der ganzen Republik, in den Medien, im Untersuchungsausschuss und auch der Justiz die Gesamtzusammenhänge und der Revisionsbericht in diesem Justiz- Gutachter-und Psychiatrieskandal bekannt wurden und im Detail insbesondere im Gabrielle Wolff Blog die Zweifel an der angeblichen Tatzuweisung offenkundig waren, hat auch das WA-Gericht Gustl Mollath nochmals mit der Körperverletzung beschwert, entgegen einer erdrückenden Vielzahl von entlastenden Tatsachen (fragwürdiges Zustandekommen des Attestes, Verdacht einer Fälschung, keine professionelle Überprüfung der EDV-Dokumentation, Verfolgungsfeldzug der Ex-Frau, der eindeutig für die Unglaubwürdigkeit der Hauptbelastungszeugin spricht, Verweigerung ihrer Zeugenaussage u.v.a.m).

In zwei, drei Gerichtsverfahren (LG, WA-Gericht, BGH) wurde m.E. damit der Rechtsgrundsatz im Verfassungsrang „in dubio pro reo“ nicht angewandt, schwerwiegend verletzt und außer Kraft gesetzt.

Obwohl der § 20 StGB eindeutig von der Tatsache einer seelischen Abartigkeit ausgegeht, um wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden, wurde Gustl Mollath aufgrund der sehr fragwürdigen und zweifelhaften Hypothese einer nicht auszuschließenden seelischen Abartigkeit „freigesprochen“ und gleichzeitig durch die Psychiatrisierung existenziell beschwert.

Entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 20 StGB wird der „Zweifelsatz“ auf den § 20 StGB angewendet und weicht eklatant von der rechtlichen Voraussetzung einer verläßlich sicheren festgestellten Tatsache einer seelischen Erkrankung ab.

Konkret hat diese fragwürdige, expansive Rechtsauslegung zu der Psychiatrisierung und einer existienziellen Beschwer geführt und die volle Rehabilitierung von Herrn Mollath verhindert.

Der Zweifelsatz, der einen Angeklagten vor einer Strafe schützen soll und der zweimal nicht im Fall Mollath angewandt wurde und ihn nicht geschützt hat, wurde Gustl Mollath nunmehr durch die Anwendung des § 20 StGB und der damit einhergehenden Psychiatrisierung zu einer existenziellen Beschwer durch das WA-Urteil. Auch der 1.Senat des BGH hat durch seine Entscheidung die Nichtanwendung des Rechtsgrundsatzes stillschweigend gebilligt und die Psychiatrisierung. aufgrund der expansiven Auslegung des § 20 StGB infolge der Anwendung des Zweifelsatzes für rechtens erklärt.

Wenn das nicht paradox und absurd ist !

Die Fragwürdigkeit setzt sich fort:

„In dubio pro reo“ schützt vor einer Verurteilung wegen einer Straf t a t .

Dieser Grundsatz ist im deutschen Recht gesetzlich nicht normiert, wird aber abgeleitet aus Art. 103 Absatz 2 GG, Art. 6 Absatz 2 EMRK sowie aus § 261 StPO. Der Grundsatz hat Verfassungsrang.

In der Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com von Johannes Barrot, Trier über die Unschuldsvermutung in der Rechtssprechung des EGMR ist u.a. folgende Aussage enthalten:

„Die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 2 EMRK bezieht sich im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 EMRK alleine auf strafrechtliche Sachverhalte“

Die Feststellung einer anderweitigen seelischen Abartigkeit ist eindeutig keine Straftat, sondern die Feststellung einer psychiatrischen Diagnose, auf der die Schuldunfähigkeit § 20 StGB begründet werden kann.

Nach folgender Aussage im Urteil des LG wird wohlwissend auf diese Problematik eingegangen, in dem die psychiatrische Diagnose in Verbindung zu der Feststellung der Schuldunfähigkeit losgelöst zu einem Rechtsbegriff gemacht wird.

„Denn Schuld im Sinne von § 20 StGB bedeutet Vorwerfbarkeit und ist ein Rechtsbegriff, keine empirisch-medizinische Diagnose.“

M.E. ist diese Auffassung zwar richtig, stellt jedoch gleichwohl eine künstliche Trennung dar, da die Schuldunfähigkeit ohne eine psychiatrische Begutachtung im vorhinein nicht getroffen werden kann.

Wie widersprüchlich die Anwendung des Zweifelsatzes auf eine vorwiegend medizinische Diagnose ist, also einem vorwiegend nicht strafrechtlichen Sachverhalt im engeren Sinn, wird durch die Rechtsprechung selbst dargelegt.:

„Der Zweifelsgrundsatz findet bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB keine Anwendung (BGH, Beschl. v. 6.2.1997 - 4 StR 672/96 - BGHSt 42, 385, 388; BGH, Beschl. v. 20.12.2001 - 4 StR 540/01

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es rechtens ist, im Gegensatz zu dem obigen BGH-Beschluss der ähnlich gelagerten Problematik basierend auf einer psychiatrischen Diagnose den Zweifelsatz bei der Rechtsauslegung des § 20 StGB zuzulassen und dadurch zu einer belastenden Psychiatrisierung, einer Beschwer und einem fragwürdigen „unechten“ Freispruch zu kommen, der zudem den Rechtsweg ausgeschlossen hat.

Die Anwendung des Zweifelsatzes und die gesetzestreue Rechtsauslegung des § 20 StGB nach dem Wortlaut, hätte zu einem tatsächlichen Freispruch von Gustl Mollath und seiner vollen Rehabilitierung führen müssen. „In dubio pro reo“ außer Acht gelassen zu haben, hat zu einem weiteren, schwerwiegenden Unrecht geführt, das sich hinter einer indifferenten, 12 Jahre zurückblickenden psychiatrischen Stellungnahme aufgrund einer Zwangsbeobachtung und einer zweifelhaften Rechtsauslegung und Rechtsanwendung versteckt.

Im Fokus stand die Wahrheitsfindung, kann dem Angeklagten die Körperverletzung nachgewiesen werden oder nicht. Der Rechtsgrundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ wurde offensichtlich und in keiner Weise nachvollziehbar bei der Urteilsfindung des WA-Gerichts und des BGH angemesssen gewürdigt.

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Auf meinen Beitrag # 3 möchte ich erinnern, zumal nur ansatzweise darauf eingegangen wurde. #3 gekürzt:

Menschenrechtler schrieb:

Die „zweifelhafte“ zweifache Nichtanwendung „des Rechtsgrundsatzes „Im Zweifel für den Angeklagten“ und die zweifache beschwerende Anwendung durch diesen „Zweifelsatz“ im Fall Mollath: Ein Paradoxum! Ein schwerwiegendes Unrecht! .......

Obwohl der § 20 StGB eindeutig von der Tatsache einer seelischen Abartigkeit ausgegeht, um wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen zu werden, wurde Gustl Mollath aufgrund der sehr fragwürdigen und zweifelhaften Hypothese einer nicht auszuschließenden seelischen Abartigkeit „freigesprochen“ und gleichzeitig durch die Psychiatrisierung existenziell beschwert.

Entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 20 StGB wird der „Zweifelsatz“ auf den § 20 StGB angewendet und weicht eklatant von der rechtlichen Voraussetzung einer verläßlich sicheren festgestellten Tatsache einer seelischen Erkrankung ab.

Konkret hat diese fragwürdige, expansive Rechtsauslegung zu der Psychiatrisierung und einer existienziellen Beschwer geführt und die volle Rehabilitierung von Herrn Mollath verhindert.

Der Zweifelsatz, der einen Angeklagten vor einer Strafe schützen soll und der zweimal nicht im Fall Mollath angewandt wurde und ihn nicht geschützt hat, wurde Gustl Mollath nunmehr durch die Anwendung des § 20 StGB und der damit einhergehenden Psychiatrisierung zu einer existenziellen Beschwer durch das WA-Urteil. Auch der 1.Senat des BGH hat durch seine Entscheidung die Nichtanwendung des Rechtsgrundsatzes stillschweigend gebilligt und die Psychiatrisierung. aufgrund der expansiven Auslegung des § 20 StGB infolge der Anwendung des Zweifelsatzes für rechtens erklärt. ......

Dieser Grundsatz ist im deutschen Recht gesetzlich nicht normiert, wird aber abgeleitet aus Art. 103 Absatz 2 GG, Art. 6 Absatz 2 EMRK sowie aus § 261 StPO. Der Grundsatz hat Verfassung

„Die Anwendbarkeit des Art. 6 Abs. 2 EMRK bezieht sich im Gegensatz zu Art. 6 Abs. 1 EMRK alleine auf strafrechtliche Sachverhalte“

„Der Zweifelsgrundsatz findet bei der Prüfung der Voraussetzungen des § 63 StGB keine Anwendung (BGH, Beschl. v. 6.2.1997 - 4 StR 672/96 - BGHSt 42, 385, 388; BGH, Beschl. v. 20.12.2001 - 4 StR 540/01

Es stellt sich die grundsätzliche Frage, ob es rechtens ist, im Gegensatz zu dem obigen BGH-Beschluss der ähnlich gelagerten Problematik basierend auf einer psychiatrischen Diagnose den Zweifelsatz bei der Rechtsauslegung des § 20 StGB zuzulassen und dadurch zu einer belastenden Psychiatrisierung, einer Beschwer und einem fragwürdigen „unechten“ Freispruch zu kommen, der zudem den Rechtsweg ausgeschlossen hat.

Die Anwendung des Zweifelsatzes und die gesetzestreue Rechtsauslegung des § 20 StGB nach dem Wortlaut, hätte zu einem tatsächlichen Freispruch von Gustl Mollath und seiner vollen Rehabilitierung führen müssen.Bei der Belastung mit der sehr fraglichen Körperverletzung zuerst „In dubio pro reo“ außer Acht gelassen zu haben und dann bei der Anwendung das "In dubio pro reo" doch noch anzuwenden,  das sich hinter einer indifferenten, 12 Jahre zurückblickenden psychiatrischen Stellungnahme aufgrund einer Zwangsbeobachtung und einer zweifelhaften Rechtsauslegung und Rechtsanwendung versteckt.

Wenn auch Prof. Müller weniger das Problem bei der (m.E. sehr fragwürdigen) Anwendung des § 20 StGB sieht, sondern mehr in der Belastung durch die Körperverletzung, besteht nach meinem Dafürhalten die "Abarbeitung" der § 2O- Problematik zunächst evtl. im Vordergrund , da diese überschaubarer und leichter juristisch zu reflektieren und  zu durchdringen ist.

Zur Vertiefung der Diskussion anbei ein Auszug aus: www.wiete-Strafrecht: Leider etwas tiefer gerutscht!

 


 

   

 

 

Eine Rechtsfrage kann nicht auf der Grundlage des Zweifelssatzes beantwortet werden (st. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 29.4.1997 - 1 StR 511/95 - BGHSt 43, 66, 77; BGH, Urt. v. 26.8.1999 - 4 StR 329/99 - NStZ 2000, 24; BGH, Urt. v. 28.9.2004 - 1 StR 317/04 - NStZ 2005, 149, 150; BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05; BGH, Beschl. v. 13.7.2006 - 2 StR 228/06). Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit als "erheblich" im Sinne von § 21 StGB anzusehen ist, keine Anwendung (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05; BGH, Urt. v. 30.8.2006 - 2 StR 198/06; BGH, Beschl. v. 9.10.2008 - 1 StR 359/08 - wistra 2009, 25). Denn hierbei handelt es sich um eine Rechtsfrage. Dieser Grundsatz ist somit auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen nicht anwendbar (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.1959 - 4 StR 484/59 - BGHSt 14, 68, 73; BGH, Urt. v. 2.2.1996 - 2 StR 689/95 - NStZ 1996, 328 m.w.N.). Anwendung findet der Zweifelssatz jedoch bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit, wenn nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.1959 - 4 StR 484/59 - BGHSt 14, 68, 73; BGH, Urt. v. 2.2.1996 - 2 StR 689/95 - NStZ 1996, 328; BGH, Urt. v. 15.12.2005 - 4 StR 314/05 - NStZ 2006, 274; BGH, Beschl. v. 25.7.2006 - 4 StR 141/06).

 

 

4

Die dargestellte Entscheidungssituation des BGH in #50

"unzulässig verwerfen ODER Alles öffentlich verhandeln und durch begründetes Urteil entscheiden" 

steht in einem merkwürdigen Missverhältnis zur ergänzenden Begründung des BGH unter Rn 37:

4. All dies unbeschadet wäre die Revision des Angeklagten auch unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO. Die Beweiswürdigung lässt angesichts des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs des Revisionsgerichts Rechtsfehler nicht erkennen.

Wenn mir in #50 kein wesentlicher Fehler unterlaufen ist, dann hätte der BGH nach dem "all dies unbeschadet" die Revision nicht mit einer eingeschränkten Prüfung und einem einstimmigen Beschluss als offensichtlich unbegründet verwerfen können  - wie im Beschluss suggeriert -, sondern durch vollständige Prüfung nach mündlicher Hauptverhandlung mit einem begründeten Urteil entscheiden müssen. Die kosmetische Floskel in Rn 37 könnte also getrost gestrichen werden. Denn sie zeigt nicht die Mühe einer vollumfänglichen Prüfung der Begründetheit an (so O.Garcia in seiner Kritik), sondern gerade das Unbehagen des BGH gegenüber dieser einzigen gesetzlichen Alternative.

     

 

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@ Menschenrechtler

Armin Nack, immerhin bis 2013 Vorsitzender des 1. Senats des BGH gibt Ihrer Sicht auf die Unzulässigkeit des Zweifelssatz zur Schuldfrage recht. Er bezieht sich zwar in dem Videoausschnitt ab Minute 1:18 zur Schuldfähigkeit insbesondere auf § 21 StGB, aber auch die Abgrenzung zur erheblich verminderten Schuldfähigkeit hatte das LG ja nicht vorgenommen. Also doppelt relevant. Hätte die Anwendung von § 21 StGB und damit im Fall GM Verurteilung ohne Strafausspruch eine Tenorbeschwer ergeben?

https://www.youtube.com/watch?v=aV4gjef-W4o

Ansonsten ist das Sitcom-Format des Videoausschnittes, vermutlich aus einer Vorlesung, auch ein echtes Zeitdokument. Neben dem Schmücken mit dem "Hochstapler unter Hochstaplern" Postel, erfährt man etwas über die juristische Praxis des Kennenlernens von psychologischen Tests, überdas allgemeine juristische Selbstbild und damit in destillierter Form eine Situationsbeschreibung, wie sie der Spiegel schon im Heft 32/1969 nachzeichnete.

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45740945.html 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45740946.html     

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@Lutz Lippke

Ein Beschluß nach § 349 Abs. 1 StPO setzt keine Einstimmigkeit voraus. Die Zulässigkeit der Revision prüft das Revisionsgericht zwingend, nicht optional. Das Landgericht prüft nur Formalien, nicht alle Zulässigkeitsvoraussetzungen.

Der Generalbundesanwalt kann durchaus hilfsweise einen Antrag auf Verwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO stellen, wenn er die Revision in erster Linie für unzulässig hält.

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OG schrieb:

@Lutz Lippke

Ein Beschluß nach § 349 Abs. 1 StPO setzt keine Einstimmigkeit voraus. Die Zulässigkeit der Revision prüft das Revisionsgericht zwingend, nicht optional. Das Landgericht prüft nur Formalien, nicht alle Zulässigkeitsvoraussetzungen.

Der Generalbundesanwalt kann durchaus hilfsweise einen Antrag auf Verwerfung nach § 349 Abs. 2 StPO stellen, wenn er die Revision in erster Linie für unzulässig hält.

Ja das "einstimmig" ist mir ins Fazit gerutscht und optional ("kann") ist die Verwerfung wegen Unzulässigkeit. § 349 I StPO bezieht sich aber auf Vorschriften zur Zulässigkeit und nicht auf Stapel-Ableitungen und vielseitige Ausführungen zu einer fehlender Begründetheit und zur Ausnahmebehandlung. Dies ergibt sich schon aus den Anforderungen an einen einstimmigen Beschluss wegen offensichtlicher Unbegründetheit gem. § 349 II StPO. 

Ein Antrag der STA oder des GBA zu § 349 II StPO müsste vor einem Beschluss gestellt werden, was offensichtlich nicht erfolgt war. Somit stand dem BGH prinzipiell nur die Verwerfung durch Beschluss wegen Unzulässigkeit (§ 349 I StPO) oder eine Entscheidung durch Urteil nach einer weiteren Hauptverhandlung (§ 349 V StPO) offen. § 349 II StPO stand dem BGH also tatsächlich nicht zur Verfügung, auch wenn das im Beschluss so suggeriert wird.   

Diese wesentliche Aussage hat also auch nach der Korrektur Bestand. Oder?       

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...eine Situationsbeschreibung, wie sie der Spiegel schon im Heft 32/1969 nachzeichnete.

Nichts ist so alt wie die Tageszeitung von gestern. Und Der Spiegel aus 1969 ist zeitgeschichtlich weniger interessant als die Höhle von Lascaux.

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Gast schrieb:

...eine Situationsbeschreibung, wie sie der Spiegel schon im Heft 32/1969 nachzeichnete.

Nichts ist so alt wie die Tageszeitung von gestern. Und Der Spiegel aus 1969 ist zeitgeschichtlich weniger interessant als die Höhle von Lascaux.

Haha, der war gut. :-)

Und v.a. im Kontext einer Profession, deren Wurzeln, deduktiv betrachtet, in der Auguren-Leserei fußen.

4

Und weil es ja immer schön ist das Gesetz mitzuzitieren, "Über das Ergebnis der Beweisaufnahme entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung." § 261 StPO.

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MT schrieb:

Was ich nicht ganz verstehe: Wofür brauchen wir Art. 19 Abs. 4 GG überhaupt?

Den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz für die Entscheidung der Rechtsmittelinstanz braucht man, m.E. egal, ob aus Art. 19 IV GG oder aus dem allgemeinen Justizgewährleistungsanspruch. Mir fällt dazu im Moment keine passende Entscheidung des BVerfG für das Strafrecht ein, dafür aber eine für den Eilrechtsschutz im Familienrecht (Beschluss vom 27.6.2008 - 1 BvR 1265/08):

Die Mutter nahm das Kind mit und verließ den mit der Betreuung des Kindes betrauten Vaters und verweigerte ihm danach Umgangskontakte. Seinen Eilantrag auf Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts lehnte das Familiengericht, in das Elternrecht des Vaters aus Art. 6 GG verletzenden Weise ab. Die Beschwerde des Vaters zum OLG hatte keinen Erfolg, weil das OLG - wie so viele auch und immer noch - im Eilverfahren regelmäßig nur dann darüber entscheiden wollte, wenn die Versorgung des Kindes gefährdet war.

Mit seiner VB rügte der Vater die Verletzung seines Elternrechts aus Art. 6 GG aber nicht die Verletzung seines Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz. Das war ein Fehler. Die das Elternrecht des Vaters verletzende Entscheidung des Familiengerichts wurde durch die Entscheidung des OLG prozessual überholt. Die Selbstbegrenzung des OLG, nur bei Gefahr für die Versorgung des Kindes zu entscheiden, verletzte den Vater in seinem grundrechtlichen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz, dessen Verletzung er nicht gerügt hatte, nicht aber in seinem Elternrecht. 

Analog dazu dürfte die Revisionsentscheidung Mollath nur in seinem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verletzen. In seinen Persönlichkeitsrechten wird er durch die Entscheidung des LG Regensburg verletzt. 

@f&f

 

Sie können Ihren Vorwurf und Ihre Formulierung noch einmal an BGHSt 2, 194 (200) überprüfen:

Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten [...] hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.

In der Revisionsentscheidung heißt es auch, dass Schuld iSv § 20 StGB Vorwerfbarkeit sei. Mich hätte allerdings mehr interessiert, was Unschuld sei und was von dem Schuldbegriff mangels freien Willens zu negieren ist und was von den Schuldelementen übrig bleibt. Auch in Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung ist das nicht uninteressant.

 

WR Kolos schrieb:

@f&f

 

Sie können Ihren Vorwurf und Ihre Formulierung noch einmal an BGHSt 2, 194 (200) überprüfen:

Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten [...] hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können.

In der Revisionsentscheidung heißt es auch, dass Schuld iSv § 20 StGB Vorwerfbarkeit sei. Mich hätte allerdings mehr interessiert, was Unschuld sei und was von dem Schuldbegriff mangels freien Willens zu negieren ist und was von den Schuldelementen übrig bleibt. Auch in Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung ist das nicht uninteressant.

 

Sehr geehrter Herr Kolos!

ich hatte I.S. Aussagen aufgegriffen, die wiederum auf (u.a.) meinen Gedanken fußten.

I.S. hatte in seiner Logik-Kette vorausgesetzt, dass das Gericht von der Unschuld bzgl der Tat überzeugt sei,........... und deshalb soundso gehandelt habe......... dem war aber NICHT so.

Warum nicht einfach mal auf den Punkt kommen?

2

OMG, was just lurking again...

 

@Kolos

@MT

Kolos:

"Ich weiß nicht, was in der Fast-Food-Version steht. Interessiert mich auch nicht wirklich."

Dann müssen Sie sich auch nicht wundern, wenn mit Ihnen niemand mehr diskutiert.

Bitte lesen Sie doch bezüglich Art. 19 Abs. 4 GG wenigstens Wikipedia!

https://de.wikipedia.org/wiki/Effektiver_Rechtsschutz

 

Es geht dabei (auch in Ihren Beispielen) um den Zugang zu einer gerichtlichen Entscheidung überhaupt, einen Beschluß der EXEKUTIVE betreffend.

Dieser Zugang zu einer erstmaligen Sachentscheidung eines Gerichts darf nicht, auch nicht von einer zweiten Instanz, versperrt werden, darum geht es bei den von Ihnen für diesen Fall unzutreffend herangezogenen Entscheidungen.

 

Ihre Ausführungen waren VOR der Plenumsentscheidung des BVerfG tatsächlich noch mögliche Überlegungen, sind nun aber durch sie geklärt und damit überholt, das hat MT völlig richtig gesehen.

Art. 19 Abs. 4 GG spielt hier keine Rolle.

Korrekte Beweisführung vorausgesetzt (wie vom BGH bestätigt), gibt es auch keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts.

Sie müssen sich etwas anderes ausdenken, bitte.

Oder BGH so akzeptieren.

5

"was von den Schuldelementen übrig bleibt"

Nichts. Gar nichts, denn "OHNE Schuld handelt, wer..."

Wer ohne Schuld handelt, ist unschuldig.

Full stop.

Ohne Element.

Wer anderes als Unschuld dann noch immer vermutet (wie Sie!), DER hat ein Problem. Übrigens ggf. ein juristisch bewehrtes.

 

 

5

@Zuhörer, ihre Kenntnisse machen viel Freude. Wie schön, dass Sie hier mitmachen und einiges zurecht rücken!

5

@ Waldemar Robert Kolos

Ich muss Zuhörer recht geben was die zitierte Entscheidung BVerfG 1 BvR 1265/08 angeht. Da prüft das BVerfG unter II. 2. prozessuale Überholung, was aber etwas anderes zu sein scheint als rechtliches Gehör. Denn dazu unter 3.:

Quote:
Soweit der Beschwerdeführer sich [...] in seinem rechtlichen Gehör verletzt sieht, sind diese Rügen unsubstantiiert, weil der Beschwerdeführer die Möglichkeit, in diesen Rechten verletzt zu sein, nicht gehaltvoll aufzeigt. Insoweit wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG von einer weiteren Begründung abgesehen.

Und etwas anderes als rechtliches Gehör ergibt sich doch weder aus Art. 19 Abs. 4 GG noch aus Art. 103 GG.

@ Zuhörer

Die Begründung zur Bestätigung fehlt aber bzw. ist viel zu kurz geraten. Das müsste doch ausreichen, um vom BVerfG wegen Willkür oder mangels rechtlichem Gehör aufgehoben zu werden, wenn das BVerfG eine Beschwer als gegeben ansieht.

0

PS: Ich weiss dass sich aus Art. 103 GG auch noch etwas anderes ergibt als rechtliches Gehör - ich meinte für den vorliegenden Fall aus den hier zitierten Entscheidungen.

0

Unschuldsvermutung und Schuldunfähigkeit stehen offensichtlich in einem irritierenden Verhältnis.

Wenn das Strafrecht allgemein von der Schuldfähigkeit des Angeklagten ausgeht, dann soll das wohl kaum der Unschuldsvermutung widersprechen. Hier wird wohl Einiges durcheinandergebracht.

Die verminderte Schuldfähigkeit und auch die Schuldunfähigkeit sind daher nicht im Zweifel anzunehmen, sondern abhängig von der tatsächlichen Erfüllung der Eingangsvoraussetzungen konkret festzustellen. Man schützt Niemanden, in dem man ihn für nicht ausschließbar schuldunfähig erklärt. Mit der Unschuldsvermutung hat das also nichts zu tun. Andernfalls müsste immer von Schuldunfähigkeit ausgegangen werden und die Schuldfähigkeit im Einzelfall tatsächlich festgestellt werden.

 

3

@MT

Ihre Frage bezieht sich auf 1 BvR 1265/08 ?

Sorry, wenn ich darauf nicht antworte, kein böser Wille, nur Zeitmangel, mich da einzulesen.

 

 

0

Sehr geehrter Herr Lippke,

Sie schreiben:

Unschuldsvermutung und Schuldunfähigkeit stehen offensichtlich in einem irritierenden Verhältnis.

Ja, das mag stimmen für Nichtjuristen. Die Unschuldsvermutung bezieht sich auf den gesamten Bereich der Starfbarkeit, auf Tatbetsandsmäßigkeit,  Rechtswidrigkeit und Schuld. Die Schuld(un)fähigkeit bezieht sich nur auf die Schuld im engeren Sinne.

 

Sie schreiben:

Man schützt Niemanden, in dem man ihn für nicht ausschließbar schuldunfähig erklärt. Mit der Unschuldsvermutung hat das also nichts zu tun. Andernfalls müsste immer von Schuldunfähigkeit ausgegangen werden und die Schuldfähigkeit im Einzelfall tatsächlich festgestellt werden.

Ihre Schlussfolgerung trifft nicht zu. Schuld ist eine der Voraussetzungen für Strafe. In § 20 StGB geht es um die Schuld im engeren Sinne, nämlich als persönliche Verantwortlichkeit für ein Tatgeschehen. Um schuldig zu sein, bedarf es der Schuldfähigkeit. Wer aus den vier dort genannten Gründen nicht persönlich verantwortlich ist für das von ihm begangene Unrecht, der ist eben nicht strafbar. Natürlich schützt es ihn vor Strafe, wenn der Angeklagte zur Tatzeit  schuldunfähig war. Was Sie als logischen Schluss nennen ("Andernfalls..."), geht von falschen Prämissen aus.  Die Schuldfähigkeit wird bei erwachsenen Menschen (anders bei Kindern und Jugendlichen) als regelmäßig gegeben vorausgesetzt. Um sie zu bezweifeln bedarf es deshalb schon gewisser tatsächlicher Anhaltspunkte, dies ist - wenn Sie so wollen, eine gewisse Einschränkung der Unschuldsvermutung. Ähnlich wie beim Anscheinsbeweis im Zivilrecht: Wer erwachsen ist, gilt als schuldfähig. Aber genau wie ein Anscheinsbeweis, kann dieser Grundsatz durch Tatsachen in Zweifel gezogen werden. Dann ist die Beweislage offen und man benötigt ggf. ein psychiatrisches Gutachten zur Schuldfähigkeit. Je nachdem, zu welchem Schluss der Psychiater  kommt, kann der Zweifel in die eine (schuldfähig!) oder andere (schuldunfähig!) Richtung beseitigt werden, oder aber, wie im "Gutachten" von Nedopil zu Mollath, die Antwort bleibt offen/unentschieden, "non liquet": Es gibt zwar die tatsächlichen Anhaltspunkte für Schuldunfähigkeit , aber es fehlt die Überzeugung für die eine oder andere Richtung. In dubio pro reo sagt dann, wie im Fall eines non liquet zu entscheiden ist, nämlich zugunsten des Angeklagten. Bei § 20 StGB ist dies ganz klar die Richtung, dass für das Unrecht keine Schuldstrafe erfolgen darf. Wie schon oft gesagt, ich halte dieses Ergebnis im Fall Mollath nicht für überzeugend, aber es ist nicht unlogisch. Dieses in dubio pro reo kann auch nicht zu einer Unterbringung nach § 63 StGb führen, so dass es den Angeklagten vor Freiheitsentziehung schützt, wenn § 20 StGB in dubio pro reo angewendet wird.

Im Übrigen sehe ich die Beschwer des Herrn Mollath primär in der gerichtlichen Feststellung der rechtswidrigen Tat, sekundär in der in dubio pro reo-Anwendung des § 20 StGB.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

 

 

@ Zuhörer

Nein eher allgemein. Ich meine in den letzten Monaten eine Entscheidung des BVerfG gelesen zu haben, bei der die Vorinstanz EGMR Rechtsprechung, zu der vom Beschwerdeführer vorgetragen worden war, nicht gewürdigt hat. Das BVerfG hat wegen Verstoß gegen rechtliches Gehör aufgehoben, wenn ich mich recht erinnere.

Übertragen auf den Fall Mollath würde das m.E. bedeuten: Sieht das BVerfG die Beschwer als gegeben an, helfen die sehr kurzen Ausführungen des BGH zu § 349 Abs. 2 StPO nicht über ein Verfassungswidrigkeit hinweg. Jedenfalls wenn der Beschwerdeführer substantiiert dazu vorgetragen hat. Es kommt also gar nicht darauf an, ob materiell eine korrekte Beweisführung vorlag, weil die Ausführgen des BGH jedenfalls zu kurz sind, um eine solche zu begründen.

0

@ MT

Übertragen auf den Fall Mollath würde das m.E. bedeuten: Sieht das BVerfG die Beschwer als gegeben an, helfen die sehr kurzen Ausführungen des BGH zu § 349 Abs. 2 StPO nicht über ein Verfassungswidrigkeit hinweg.

Kernpunkt der BGH-Entscheidung ist aber eben eine fehlende Beschwer, weswegen es auf die Aussage zu § 349 Abs. 2 StPO gar nicht mehr ankommt (darum: "All dies unbeschadet WÄRE...", RN 37).

Weswegen im Artikel auch "Steine statt Brot" gesagt wurde, womit ich aber nicht übereinstimme, wie "Gast" in #38 auf der Seite vorher gut darstellte, und was diese Diskussion in diesem Blog auch zeigt, warum dieser Hinweis des BGH notwendig war.

 

0

Ich versuche, der Diskussion einen "Schwung" zu geben, bevor ich mich aus Zeitgründen von einer Detaildiskussion leider zurückziehen muß:

Im Übrigen sehe ich die Beschwer des Herrn Mollath primär in der gerichtlichen Feststellung der rechtswidrigen Tat, sekundär in der in dubio pro reo-Anwendung des § 20 StGB.

Das trifft prinzipiell auf alle Fälle von Freisprüchen (ohne Maßregel, diese sowieso) wegen § 20 StGB zu, nicht wahr? Die Feststellung einer rechtswidrigen Tat ist dafür ja immer Bedingung ("Unterlage").

Und ja, ich halte einen generellen Ansatzpunkt darum für denkbar.

Es ergibt sich aus meiner Sicht schon durch § 358 StPO ("Art und Höhe der Rechtsfolgen"), daß eine "Beschwer" vornehmlich in diesem dort genannten Sinne der Rechtsfolgen zu sehen ist: "nicht zum Nachteil des Angeklagten" (so also Revision "zugunsten" wie bereits diskutiert). 

Eine mögliche Beschwer kann ausnahmsweise auch in den Urteilsgründen liegen. Auch aus meiner Sicht gibt es darum kein "Tenorbeschwer-Dogma", dies wird auch vom BGH hier so streng nicht vertreten, diskutiert und zutreffend begründet.

Feststellungen zur rechtswidrigen Tat als solche können aber jedenfalls nicht - weil Vorbedingung! - generell Grundlage einer Beschwer darstellen.

Verstöße gegen übergeordnete Gesetzgebungen wären ggf. darzulegen, der § 20 StGB als solcher (!) erscheint mit dafür durchaus geeignet.

 

5

@ Zuhörer

Ich verkenne doch nicht, dass Kernpunkt der BGH Entscheidung die fehlende Beschwer ist und es sich bei dem Verweis auf § 349 Abs. 2 StPO um ein obiter dictum handelt. Nur sollte das BVerfG das anders sehen, also eine Beschwer aus Grundrechten bejahen, hilft der Verweis des BGH auf § 349 Abs. 2 StPO m.E. nicht weiter. Die Begründung dazu ist so gut wie ein Nullum. Ich kann mir schwer vorstellen, dass das BVerfG die Ausführungen des BGH zu § 349 Abs. 2 StPO gutheißen würde, wenn es denn soweit kommt in der Prüfung.

Gast schreibt in #38 auf der letzten Seite (Hervorhebung von mir):

Quote:

...warum hat dann der Gesetzgeber die Rechtsmittelberechtigung für Freigesprochene nicht einfach ausgeschlossen?

Weil das selbstverständlich ist und sich aus der Natur der Sache ergibt. Beschweren kann sich grundsätzlich nur, wer objektiv beschwert ist. Ob das allgemein auch für Sonderfälle wie § 20 StGB gelten kann, ist streitig und von Fall zu Fall zu entscheiden. Im vorliegenden Fall kam es darauf nicht an, da auch eine materielle Prüfung zur Zurückweisung des Rechtsmittels geführt hätte, wie der BGH ausdrücklich sagt.

Es kam eben doch entscheidend darauf an, sonst hätte der BGH wohl kaum den Schwerpunkt bei der seiner Meinung nach fehlenden Beschwer gesetzt. Die materielle Prüfung kann nur dann dafür sorgen, dass es auf die Zulässigkeit nicht ankommt, wenn sie auch vernünftig begründet wird. So lapidar, wie der BGH § 349 Abs. 2 StPO abhandelt, reicht das m.E. einfach nicht.

4

Nach weiteren Recherchen ist die Situation bzgl. des rechtlichen Gehörs wohl doch etwas komplexer, als ich annahm.

BVerfG (Hervorhebung von mir):

Quote:

bb) Zudem setzt eine Verwerfung der Revision durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 StPO einen zu begründenden Antrag der Staatsanwaltschaft voraus, der dem Revisionsführer mit den Gründen mitzuteilen ist (§ 349 Abs. 3 StPO). Zwar muss sich das Revisionsgericht, um nach § 349 Abs. 2 StPO entscheiden zu können, dem Antrag der Staatsanwaltschaft nur im Ergebnis, nicht jedoch in allen Teilen der Begründung anschließen. Bei einer Abweichung von der Begründung der Staatsanwaltschaft ist es aber sinnvoll und entspricht allgemeiner Übung, in den Beschluss einen Zusatz zur eigenen Rechtsauffassung aufzunehmen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 10. Oktober 2001 - 2 BvR 1620/01 -, NJW 2002, S. 814 <815>; BGH, Beschluss vom 20. Februar 2004 - 2 StR 116/03 -, NStZ 2004, S. 511). Ohne einen solchen Zusatz kann davon ausgegangen werden, dass sich das Revisionsgericht die Rechtsauffassung der Staatsanwaltschaft zu Eigen gemacht hat (vgl. BVerfGK 5, 269 <285 f.>; BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 30. Juni 2013 - 2 BvR 85/13 -, juris, Rn. 25).

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/201...

 

Es kommt also wohl auf die - nicht veröffentlichte - Begründung des Antrags der Staatsanwaltschaft an.

 

0

Nachdem der Beschluss des BGH schon im 1. Dezemberdrittel 2015 veröffentlicht wurde und vermutlich bereits vorher zugestellt worden war, dürfte die Monatsfrist für die Verfassungsbeschwerde zwischenzeitlich abgelaufen sein, wobei RA Ahmed wohl ziemlich sicher die Einlegung der Verfassungsbeschwerde öffentlich gemacht hätte. Es wird also schon deshalb wohl zu keiner Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht kommen.

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@ Gast #30

Sie könnten durchaus Recht haben.

Es ist aber auch denkbar, dass RA Ahmed nur fristwahrend Verfassungsbeschwerde erhoben hat während die Anhörungsrüge beim BGH läuft, § 356a StPO. Dann wäre der Gang an die Öffentlichkeit vielleicht etwas verfrüht, da der BGH ja theoretisch noch Abhilfe schaffen kann.

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@ #24,32 zu § 20 StGB

Sehr geehrter Herr Müller, I.S.

Ohne aus dem Stand juristisch fundiert argumentieren zu können, möchte ich insbesondere anschließend an Menschenrechtler in #3 meine Zweifel an Ihrer Sichtweise erheben.

Grundlage der Strafbarkeit ist die allgemein vorausgesetzte Schuldfähigkeit, die auch Ausdruck und Teil der Würde und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen ist (Art.1 ff GG). Einschränkungen zur allgemein vorausgesetzten Schuldfähigkeit sind individuell in §§ 13-21 StGB bestimmt, u.a. auch verminderte Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit. Als verfassungsgemäße Grundlage vermute ich dazu Art. 3 III S.2 GG "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden". Eine Bevorzugung im Strafrecht ist bei Behinderung also verfassungsrechtlich zulässig. Eine solche "Bevorzugung" steht aber nur tatsächlich Behinderten zu, andernfalls wird schon Art. 3 I, III S.1 GG verletzt. Ein tatsächlich schuldunfähiger Beschuldigter würde von dem Moment des Wissens darum, widerrechtlich und unter Verletzung des GG strafrechtlich verfolgt. Ein Strafverfahren, das in Kenntnis der Schuldunfähigkeit des Beschuldigten geführt wird, hat keine rechtliche Grundlage. Keine Strafe ohne Gesetz (§ 1 StGB).

Mit der Anwendung des Zweifelssatz zur Schuldunfähigkeit in Verbindung mit der Unschuldsvermutung gibt es daher nach meiner Auffassung erhebliche Probleme. So würde die Unschuldsvermutung sofort einen Zweifel an der Schuldfähigkeit erzwingen, wenn der Beschuldigte sich auf Schuldunfähigkeit beruft oder Dritte (Anwalt, Zeugen, Betreuer) dies bezeugen. Denn die Unschuldsvermutung würde dem im Zweifel schuldunfähigen Beschuldigten zugestehen, bis zum Beweis des Gegenteils als Schuldunfähiger zu gelten und nicht diskriminiert zu werden. Eine Untersuchungshaft wäre wohl unzulässig. Auch der Strafanspruch und eine Verfolgung wäre vermutlich hinfällig. Es müsste zumindest und auch nur auf begründetem Verdacht hin bewiesen werden, dass die Eingangsvorausetzungen einer Schuldunfähigkeit bei dem Beschuldigten gerade nicht bestehen.

Die Schuldfrage wird jedoch umgekehrt geprüft. Jeder gilt solange als schuldfähig, bis die Eingangsvoraussetzungen zur Schuldunfähigkeit tatsächlich festgestellt werden. Also auch der vorher oder später Schuldunfähige (Behinderte) kann für die Tat nur schuldunfähig sein, wenn er genau zum Tatzeitpunkt die Kriterien erfüllte. Ebenso ist eine klare Abgrenzung der Eingangsvoraussetzungen zur verminderten Schuld notwendig. Also ist der Weg der Beweisführung lt. StGB "schuldfähig -> vermindert schuldfähig -> schuldunfähig" und nicht nach der Unschuldsvermutung "schuldunfähig -> vermindert schuldfähig -> schuldfähig".

Die Unschuldsvermutung betrifft daher zunächst die StPO bei der Feststellung der Tatbegehung und deren Rechtswidrigkeit, was dem Beschuldigten bewiesen werden muss. Steht das fest, ist der Normalfall die Schuldigkeit des Beschuldigten und nicht dessen Schuldunfähigkeit. Kann durch positive Feststellung ein Schuldausschluss im Tatgeschehen selbst (Notwehr etc.) festgestellt werden, dann ist der Beschuldigte von der Rechtswidrigkeit der Tat und damit einer Schuld befreit. Es gilt dabei die Annahme, dass in gleicher Situation Jedermann die Tat ohne strafbare Absicht begehen würde. Die Grundrechte des Beschuldigten werden von dieser Feststellung auch bei Anwendung eines Zweifelssatzes nicht berührt.

Wird aber nach Feststellen der strafwürdigen Tat, eine verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit in der Persönlichkeit des Beschuldigten ausgeschlossen, nicht ausgeschlossen oder tatsächlich festgestellt, dann sind die Grundrechte des Beschuldigten unmittelbar berührt. Im Fall des tatsächlichen Zutreffens bei einem Ausschluss der Schuldunfähigkeit und im Fall eines Nichtzutreffens durch die (nicht ausschließbare) Feststellung der Schuldunfähigkeit. Der tatsächlich Schuldunfähige wird verurteilt und bestraft. Er kann dagegen Revision einlegen (lassen). Der tatsächlich Schuldfähige wird durch die Zuweisung der Schuldunfähigkeit in seiner persönlichen Würde, Entscheidungsfreiheit und Gleichbehandlung verletzt und hat wegen der Erforderlichkeit der Tenorbeschwer kein Rechtsmittel gegen die Tatzuweisung und Grundrechtsverletzung. Strafrechtler behaupten diese Grundrechtsverletzung sei "zu Gunsten" des Beschuldigten und beziehen sich auf den "staatlichen Strafanspruch" als Zweck des Strafverfahren. Dieser "Zweck" war jedoch bereits durch die Unschuldsvermutung und damit nicht ausschließbare Schuldunfähigkeit von Beginn an gar nicht gegeben.

Die Lösung kann m.E. nach nur eine sehr enge Anwendung von §§ 20,21 StGB sein und die Achtung der Grundrechte von tatsächlich Behinderten durch Betreuung, Einstellung und Strafverzicht etc.   

4

Lutz Lippke schrieb:
Grundlage der Strafbarkeit ist die allgemein vorausgesetzte Schuldfähigkeit, die auch Ausdruck und Teil der Würde und Selbstbestimmung des einzelnen Menschen ist (Art.1 ff GG). Einschränkungen zur allgemein vorausgesetzten Schuldfähigkeit sind individuell in §§ 13-21 StGB bestimmt, u.a. auch verminderte Schuldfähigkeit und Schuldunfähigkeit. Als verfassungsgemäße Grundlage vermute ich dazu Art. 3 III S.2 GG "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden".

Schuldunfähigkeit und Behinderung haben nichts miteinander zu tun. Eine geistige Behinderung bedeutet nicht automatisch eine Schuldunfähigkeit und andersrum.

Schuldunfähigkeit kann es zum Beispiel auch bei Alkoholkonsum oder Rauschgiftkonsum geben. Es muss nicht einmal bei mehreren im gleichen Zustand begangenen Taten in allen Fällen Schuldunfähigkeit vorliegen, weil beispielsweise für Tötungsdelikte eine höhere Hemmschwelle angenommen wird. Dadurch ist die Grenze des "unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen" bei manchen Delikten höher als bei anderen.

 

Quote:
Ein Strafverfahren, das in Kenntnis der Schuldunfähigkeit des Beschuldigten geführt wird, hat keine rechtliche Grundlage.

Der Nachweis der Schuldunfähigkeit ergibt sich in der Regel erst im Verfahren.

Außerdem ist der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit auch erforderlich für eine Prüfung der Anwendung des §63, also selbst bei evidenter Schuldunfähigkeit könnte die StA direkt einen Freispruch nach §20 + Unterbringung nach §63 beantragen.

3

Sehr geehrter Herr Lippke,

mit Ihrem Beitrag, Ihrer umfassenden Analyse  haben Sie sich sehr viel Arbeit gemacht, die sicherlich zur Aufklärung der Rechtsproblematik wesentlich beitragen kann und wird. Beim Einmal-Durchlesen sind die vielen Eventualitäten und den verschiedenen rechtlichen Konsequenzen nicht gerade leicht zu verstehen. Den nachfolgenden Satz kann ich nicht nachvollziehen und ich gehe davon aus, dass er sachlich nicht richtig ist:

"Der tatsächlich Schuldunfähige wird verurteilt und bestraft."

Oder habe ich diese Textpassage aus dem Zusammenhang falsch verstanden?

Der tatsächliche Schuldunfähige wird m.E. nicht bestraft, sondern freigesprochen und  nur ein freisprechendes Urteil gesprochen (G. Mollath allerdings mit der Körperverletzung belastet).

Bevor Prof. Müller dies in seiner Antwort reklamiert, wäre es förderlich, wenn Sie darauf eingehen.

1

@Menschenrechtler

"Der tatsächlich Schuldunfähige wird verurteilt und bestraft. Er kann dagegen Revision einlegen (lassen)."

Ich habe die Fallkonstellationen komprimiert und dadurch vielleicht verwirrend formuliert. Gemeint ist in diesem Fall, dass ein Verurteilter, dessen tatsächliche Schuldunfähigkeit in der I. Instanz übergangen wurde, in der Revision sein Recht auf Feststellung der Schuldunfähigkeit noch erlangen kann.

1

 

Zuhörer:

Art. 19 Abs. 4 GG spielt hier keine Rolle.

Korrekte Beweisführung vorausgesetzt (wie vom BGH bestätigt), gibt es auch keine Verletzung des Persönlichkeitsrechts.

 

Sie verdrehen Rechtsweggarantie und Möglichkeitstheorie ins Absurdum. 

 

Zuhörer:

Ihre Ausführungen waren VOR der Plenumsentscheidung des BVerfG tatsächlich noch mögliche Überlegungen, sind nun aber durch sie geklärt und damit überholt

Quatsch. Das waren und sind nicht bloß mögliche Überlegungen. Ich glaube, Sie haben die Plenumsentscheidung kein bisschen verstanden. In dieser Entscheidung ging es allein um einen ganz besonderen Rechtsschutz, und zwar den gegen Verletzung des rechtlichen Gehörs, also eines Verfahrensgrundrechts. Das BVerfG hatte doch mehrfach ausdrücklich geschrieben, dass es an der bisherigen Auslegung des Art. 19 IV GG nichts ändern wolle, weil es nicht nötig sei. Der Schutzbereich des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs decke das ab. Auch der angesprochene Streit der Gelehrten zu Art. 19 IV GG musste nicht entschieden werden. Es ging ja auch um Zivilverfahren. In Zivilverfahren gilt grundsätzlich der allgemeine Justizgewährungsanspruch gem. Art. 2 I i.V.m. Art. 20 III GG als Gebot effektiven Rechtsschutzes. Art. 19 IV GG gilt selbstverständlich nicht für Zivilverfahren, von einigen selbständigen Akten abgesehen - wie z.B. die Mitteilung an die Dienstbehörde einer Partei. Eine Ausnahme hätte man auch in der Gehörsverletzung möglicherweise sehen können. Dafür hätte das BVerfG aber die Auslegung des Art. 19 IV GG ändern müssen. Es bestand aber kein Anlass.

 

Ich bin mir nicht sicher, ob Ihre Ausführungen wirklich ernst gemeint sind.

Was bedeuten nachfolgende Urteile und welche  juristische Schlussfolgerungen können im Fall Mollath gezogen werden?

 

 Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit als "erheblich" im Sinne von § 21 StGB anzusehen ist, keine Anwendung (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05; BGH, Urt. v. 30.8.2006 - 2 StR 198/06; BGH, Beschl. v. 9.10.2008 - 1 StR 359/08 - wistra 2009, 25). Denn hierbei handelt es sich um eine Rechtsfrage. Dieser Grundsatz ist somit auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen n i c h t  anwendbar (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.1959 - 4 StR 484/59 - BGHSt 14, 68, 73; BGH, Urt. v. 2.2.1996 - 2 StR 689/95 - NStZ 1996, 328 m.w.N.

.Anwendung findet der Zweifelssatz jedoch bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit, wenn nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen.

Bedeutet dies tatsächlich, dass "in dubio pro reo" auf die Anwendung des § 2O StGB nicht zulässig ist?

Dies würde ja bedeuten, dass der BGH seine eigene Rechtsprechung allerding von 1959 über Bord geworfen hat.

Dies kann schwerlich möglich sein, da sich der frühere Richter Nack vom 2.Senat des BGH gegen den Zweifelssatz beim § 20 StGB ausgesprochen hat (vgl. Kommentar von Lutz Lippke).

 

3

@ Menschenrechtler

Eine Anregung zum Zweifelssatz im mittelbaren Zusammenhang mit Schuld, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Vollrausch - Absicht zur Senkung der Hemmschwelle oder ohne Absicht

Wer in der Absicht eine Straftat zu begehen, sich in einen Vollrausch versetzt, handelt nicht schuldunfähig. Der Vollrausch gehört zur Tatplanung. Bestehen an dieser Absicht Zweifel, dann gilt die Unschuldsvermutung. "Im Zweifel für den Angeklagten" betrifft die Tatabsicht und nicht das Merkmal nach § 20 StGB.

Rauschzustand - Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit

Nicht jeder Rauschzustand führt zum Verlust der Einsicht und Steuerungsfähigkeit. Handelt der ohne Absicht enthemmte Angeklagte noch planvoll und schuldbewusst, dann besaß er noch Einsicht und Steuerungsfähigkeit. Wegen der ungeplanten Enthemmung aber im Zweifel nicht im vollem Umfang. Im Zweifel ist also eine Verminderung seiner Einsichtsfähigkeit und Steuerungsfähigkeit (§ 21 StGB) anzunehmen. Auch dieser Zweifel betrifft die Planung, Tatausführung und nicht das Merkmal nach § 20 StGB.

Der Hinweis von Nack, dass die absehbare Rechtsverletzung und die Tatfolgen bei der Beurteilung der Schuldminderung eine wesentliche Rolle spielen, ist dafür ein Beleg. Es wird also davon ausgegangen, dass bei schweren Straftaten und absehbar schwerwiegenden Tatfolgen auch bei dem Berauschten Einsichtsfähigkeit und Hemmschwelle nicht vollständig ausgeschaltet sind und reale Möglichkeiten des Rücktritts von der Tat bestehen. Bei spontanen Straftaten mit begrenzten oder unabsehbaren Tatfolgen (Sachbeschädigung, Körperverletzung) ist im Zweifel die Kontrolle über die Tatplanung und Ausführung nicht gegeben. Auch hier betrifft der Zweifel die Tatausführung selbst und nur in der Rechtsfolge die Schuld.

Vorstehende Beispiele sind also die unmittelbare Anwendung der Unschuldsvermutung  auf die Tat selbst und nicht auf die Eingangsmerkmale des § 20 StGB.

Wenn wir rekapitulieren, wie diese Fragen im LG-Urteil behandelt wurden, kann man feststellen, dass dazu faktisch nichts außer diffuse Ahnungen zum angeblichen Tatablauf angestellt wurden. Warum angeblich gebissen und gewürgt wurde? Im LG-Urteil Fehlanzeige! Warum Einsichtsfähigkeit beim angeblichen Beissen, aber keine Steuerungsfähigkeit? ... Fehlanzeige! Angebliches Beissen vor oder nach dem angeblichen Würgen? ... Fehlanzeige!    

 

4

Sehr geehter Menschenrechtler,

Sie fragen:

Was bedeuten nachfolgende Urteile und welche  juristische Schlussfolgerungen können im Fall Mollath gezogen werden?

 Der Grundsatz "in dubio pro reo" findet bei der Entscheidung, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit als "erheblich" im Sinne von § 21 StGB anzusehen ist, keine Anwendung (vgl. BGH, Urt. v. 15.9.2005 - 4 StR 216/05; BGH, Urt. v. 30.8.2006 - 2 StR 198/06; BGH, Beschl. v. 9.10.2008 - 1 StR 359/08 - wistra 2009, 25). Denn hierbei handelt es sich um eine Rechtsfrage. Dieser Grundsatz ist somit auf die rechtliche Wertung der zur Schuldfähigkeit getroffenen Feststellungen n i c h t  anwendbar (vgl. BGH, Beschl. v. 16.12.1959 - 4 StR 484/59 - BGHSt 14, 68, 73; BGH, Urt. v. 2.2.1996 - 2 StR 689/95 - NStZ 1996, 328 m.w.N.

.Anwendung findet der Zweifelssatz jedoch bei der Entscheidung über die Voraussetzungen der verminderten Schuldfähigkeit, wenn nicht behebbare tatsächliche Zweifel bestehen, die sich auf Art und Grad des psychischen Ausnahmezustandes beziehen.

In dem Zitat geht es um die Frage, ob eine Verminderung der Steuerungsfähigkeit erheblich (Sie haben nicht die entscheidenden Wörter gefettet)  ist für die Anwendung des § 21 StGB. Bei der Auslegung des Begriffs "erheblich" gilt - wie bei der rechtlichen Auslegung/Wertung generell NICHT der Grundsatz i.d.p.r. Der Grundsatz i.d.p.r. gilt nur für Tatsachen und zwar immer dann, wenn sich Tatsachen nicht vollständig aufklären lassen.

Fiktives, aber praktisch relevantes Beispiel: Es stehe fest, dass der Täter zur Tatzeit alkoholisiert war (sagen wir der Sachverständige bestätigt aufgrund Blutprobe  3,0 Promille). Hinsichtlich dieser Tatsache besteht also kein Zweifel. Ob diese Trunkenheit aber "erheblich" ist für die Anwendung von §§ 20, 21 StGB bei dem konkret begangenen  Delikt, das ist eine Rechtsfrage, die NICHT im Zweifel zugunsten des Angekl. beantwortet werden darf. Fiktives Alternativbeispiel: Es steht nicht fest, dass der Angeklagte zur Tatzeit volltrunken war. Der Sachverständige sagt: Es kann sein, dass er nur 0,5 Promille hatte, aber es ist nicht auszuschließen, dass er 3,5 Promille intus hatte. In diesem Fall muss (für die Frage der Anwendung von §§ 20, 21 StGB) i.d.p.r. angewendet werden. Die daraus folgenden rechtlichen Schlüsse müssen parktisch von der Basis ausgegehn, dass 3,5 Promille (die ja nicht ausgeschlossen werden können) gegeben waren. Die rechtliche Schlussfolgerung (z.B. ob dies "erheblich" im Sinne von § 21 StGB ist), ist wiederum eine Rechtsfrage, die nicht nach i.d.p.r. entschieden wird.

Fazit: die von Ihnen zitierten Entscheidungen tragen zur Mollath-Debatte wenig bei. Bei Mollath wurde i.d.p.r. auf die Tatsache der psychischen Erkrankung/Störung bezogen, zusätzlich auf die tatsächliche Frage, dass diese Störung sich auf seine zuvor festgestellte Tat ausgewirkt habe. Beide Tatsachen konnten nicht aufgeklärt werden, der Psychiater hat sie weder mit ja noch mit nein beantwortet. Das Gericht meinte nun, in diesem Fall sei i.d.p.r. anzuwenden. Ob dies richtig war, darüber kann man streiten (siehe schon meinen Kommentar zum Urteil). Es ging aber nicht um die in Ihrem Zitat angesprochene Frage, ob hier i.d.p.r. auf Rechtsfragen angewendet wurde. Dies ist nicht geschehen, deshalb keine Bedeutung Ihres Zitats für den Mollath-Fall.

 

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

Sehr geehrter Herr Lippke,

 

Sie schreiben:

Mit der Anwendung des Zweifelssatz zur Schuldunfähigkeit in Verbindung mit der Unschuldsvermutung gibt es daher nach meiner Auffassung erhebliche Probleme. So würde die Unschuldsvermutung sofort einen Zweifel an der Schuldfähigkeit erzwingen, wenn der Beschuldigte sich auf Schuldunfähigkeit beruft oder Dritte (Anwalt, Zeugen, Betreuer) dies bezeugen.Denn die Unschuldsvermutung würde dem im Zweifel schuldunfähigen Beschuldigten zugestehen, bis zum Beweis des Gegenteils als Schuldunfähiger zu gelten und nicht diskriminiert zu werden.

Dass die Unschuldsvermutung so nicht wirkt, habe ich bereits oben versucht zu erläutern. Hinsichtlich der Schuldfähigkeit gilt sie nur eingeschränkt, weil im Strafrecht eine allg. Schuldfähigkeitsvermutung (für Erwachsene) gilt.

Eine Untersuchungshaft wäre wohl unzulässig.

Diese Schlussfolgerung ist falsch und widerspricht auch der (weltweiten) Praxis. Die Unschuldsvermutung verbietet nicht jegliche negative Folge bei Verdacht einer Straftat. Es ist ja gerade das eigentümliche der Untersuchungshaft, dass sie VOR einer rechtskräftigen Verurteilung erfolgt. Dazu genügen in D ein dringender Tatverdacht plus ein Haftgrund.

Auch der Strafanspruch und eine Verfolgung wäre vermutlich hinfällig.

Ihre Schlussfolgerung beruht auf einem Fehlverständnis der Unschuldsvermutung. Diese führt nicht dazu, dass Strafanspruch und Verfolgung hinfällig sind, sobald Zweifel an der Tatbegehung, der Rechtswidrigkeit oder der Schuld auftauchen..

Es müsste zumindest und auch nur auf begründetem Verdacht hin bewiesen werden, dass die Eingangsvorausetzungen einer Schuldunfähigkeit bei dem Beschuldigten gerade nicht bestehen.

Das wäre der Fall, wenn die Schuldfähigkeit genauso behandelt werden müsste wie andere (positive) Voraussetzungen der rechstwidrigen Tat. So ist es aber nicht (ich verweise auf meinen vorherigen Kommentar)

Die Schuldfrage wird jedoch umgekehrt geprüft. Jeder gilt solange als schuldfähig, bis die Eingangsvoraussetzungen zur Schuldunfähigkeit tatsächlich festgestellt werden.

Nein. Ganz so ist es nicht. "Tatsächlich festgetsellt" müssen die Grundlagen der Schuldunfähigkeit nicht sein. Es müssen lediglich tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Schuldunfähigkeit zur Tatzeit gegeben sein könnte, dann kann dies bereits eine entsprechende Untersuchungspflicht des Gerichts auslösen (mit der Folge i.d.p.r., wenn sich diese Frage nicht mehr aufklären lässt).

Also auch der vorher oder später Schuldunfähige (Behinderte) kann für die Tat nur schuldunfähig sein, wenn er genau zum Tatzeitpunkt die Kriterien erfüllte. Ebenso ist eine klare Abgrenzung der Eingangsvoraussetzungen zur verminderten Schuld notwendig. Also ist der Weg der Beweisführung lt. StGB "schuldfähig -> vermindert schuldfähig -> schuldunfähig" und nicht nach der Unschuldsvermutung "schuldunfähig -> vermindert schuldfähig -> schuldfähig".

Es gibt im StGB keine Beweisführung.

Die Unschuldsvermutung betrifft daher zunächst die StPO bei der Feststellung der Tatbegehung und deren Rechtswidrigkeit, was dem Beschuldigten bewiesen werden muss. Steht das fest, ist der Normalfall die Schuldigkeit des Beschuldigten und nicht dessen Schuldunfähigkeit.

Ja.

Kann durch positive Feststellung ein Schuldausschluss im Tatgeschehen selbst (Notwehr etc.) festgestellt werden, dann ist der Beschuldigte von der Rechtswidrigkeit der Tat und damit einer Schuld befreit. Es gilt dabei die Annahme, dass in gleicher Situation Jedermann die Tat ohne strafbare Absicht begehen würde.

Begrifflich schief, aber in der Sache meinen Sie das Richtige.

Die Grundrechte des Beschuldigten werden von dieser Feststellung auch bei Anwendung eines Zweifelssatzes nicht berührt.

Richtig.

Wird aber nach Feststellen der strafwürdigen Tat, eine verminderte Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit in der Persönlichkeit des Beschuldigten ausgeschlossen, nicht ausgeschlossen oder tatsächlich festgestellt, dann sind die Grundrechte des Beschuldigten unmittelbar berührt. Im Fall des tatsächlichen Zutreffens bei einem Ausschluss der Schuldunfähigkeit und im Fall eines Nichtzutreffens durch die (nicht ausschließbare) Feststellung der Schuldunfähigkeit. Der tatsächlich Schuldunfähige wird verurteilt und bestraft. Er kann dagegen Revision einlegen (lassen). Der tatsächlich Schuldfähige wird durch die Zuweisung der Schuldunfähigkeit in seiner persönlichen Würde, Entscheidungsfreiheit und Gleichbehandlung verletzt und hat wegen der Erforderlichkeit der Tenorbeschwer kein Rechtsmittel gegen die Tatzuweisung und Grundrechtsverletzung. Strafrechtler behaupten diese Grundrechtsverletzung sei "zu Gunsten" des Beschuldigten und beziehen sich auf den "staatlichen Strafanspruch" als Zweck des Strafverfahren. Dieser "Zweck" war jedoch bereits durch die Unschuldsvermutung und damit nicht ausschließbare Schuldunfähigkeit von Beginn an gar nicht gegeben.

Ihr Plädoyer dafür, dass ein Freispruch, der auf der Feststellung rechtswidriger Tatbegehung plus (nicht ausschließbarer) Schuldunfähigkeit beruht, eine materielle Beschwer auslöst und deshalb auch ein Rechtsmittel zulässig sein müsste, unterstütze ich.

Besten Gruß

Henning Ernst Müller

 

@ I.S. #42

Eine Gleichsetzung Schuldunfähigkeit und Behinderung war keineswegs meine Absicht. Gut das Sie das klarstellen. Es gibt aber trotzdem punktuell Ähnlichkeiten in der Begründung der besonderen Umgangsweise. Darauf bezog ich mich unglücklich formulierend.

Sie schrieben:

Außerdem ist der Freispruch wegen Schuldunfähigkeit auch erforderlich für eine Prüfung der Anwendung des §63, also selbst bei evidenter Schuldunfähigkeit könnte die StA direkt einen Freispruch nach §20 + Unterbringung nach §63 beantragen.

Womit klar wird, dass Zweck des Strafverfahrens nicht nur der staatliche Strafanspruch sein kann, wie WR Kolos bereits erklärte. An diesem ausschließlichen Zweck hängt aber die Tenorbeschwer und das Motto "Freispruch ist Freispruch".

 

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"Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechts-pflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt." Mollath Beschluss Rn. 12

Wer lesen kann...

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Gast schrieb:

"Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechts-pflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt." Mollath Beschluss Rn. 12

Wer lesen kann...

Es kommt nicht nur auf das Lesen, sondern auch auf das Verstehen an. G.M. wurde mit der KV belastet ,also faktisch eine strafbare Tat festgestellt. Daß er nicht bestraft wurde hängt, wie Sie wissen, mit der fragwürdigen Anwendung des § 20 StGB zusammen. "Gast" ich habe bei Ihnen den fortwährenden Eindruck, dass es Ihnen vornehmlich darum geht, an der herrschenden Rechtsmeinung und Rechtsanwendung konservierend festhalten zu wollen und diese trotz der offensichtlichen Widersprüche und Fragwürdigkeiten zu verteidigen. Dies ist nicht erhellend, nicht aufklärend und dient m.E. nicht der Wahrheitsfindung, nicht der tieferen Reflektion, sondern nur dem juristischen "status quo" in Ihrem Sinn.

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Gast schrieb:

"Kann keine strafbare Tat festgestellt werden und kommt keine Maßregel der Besserung und Sicherung in Betracht, so ist damit die Aufgabe der Strafrechts-pflege im einzelnen Strafverfahren grundsätzlich erfüllt." Mollath Beschluss Rn. 12

Wer lesen kann...

 

... und auch noch den Satz davor

Die Aufgabe eines Strafverfahrens liegt in der justizförmigen Prüfung, ob gegen den Angeklagten ein staatlicher Strafanspruch besteht

... dem muss sich doch die Frage stellen: Ja, was denn jetzt? 

Maßregel der Besserung und Sicherung fällt gewiss nicht unter den staatlichen Strafanspruch. Geht es wirklich nur um Strafe? Und was ist mit der Schuld? Gerade an dem Fall Mollath zeigt sich, dass es nicht nur um Strafe gehen kann. Denn sie war in seinem Fall von vornherein ausgeschlossen, wegen Verschlechterungsverbot. Und um Schuld kann es auch nicht gegangen sein, wenn man Schuld als Vorwerfbarkeit und Voraussetzung für Strafe begreift. Wäre es nur um Strafe gegangen, dann hätte der Prozess nicht stattfinden dürfen. 

Wenn man Strafe gegen Sanktion austauscht, dann stimmt das mit dem staatlichen Strafanspruch wohl nicht ganz. Auch niemand wird ernsthaft behaupten wollen, in dem Regensburger Prozess wäre es um die wage und nur rein theoretische Möglichkeit einer Sanktion gegangen. Dafür die vielen Prozesstage? 

Was war denn jetzt genau die Aufgabe des Strafverfahrens gegen Mollath und entspricht das noch der Aufgabe eines Strafverfahrens, die der Tenorbeschwer und ihrer historischen Entwicklung zugrunde liegt? Gibt da nicht Nr. 171 Abs. 2 RiStBV (Erneuerung der Hauptverhandlung) auch eine Antwort darauf? ... dass seine Ehre in öffentlicher Verhandlung wiederhergestellt wird?

Schuldunfähigkeit und Behinderung haben nichts miteinander zu tun.

Das ist falsch.

Eine geistige Behinderung bedeutet nicht automatisch eine Schuldunfähigkeit und andersrum.

Das ist richtig.

Übrigens geht es überwiegend um psychische (nicht geistige) "Defekte".

 

Zur Feststellung einer Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB bedarf es mindestens nach BGH-Rechtsprechung seit 2004 der Diagnose eines SV:

Inhaltliches Ziel des Gutachtens ist es, dem Gericht eine Beurteilung zu ermöglichen, ob zum Zeitpunkt der Tat eine der Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB vorgelegen hat und ob, ggf. wie diese sich auf die Unrechtseinsicht des Beschuldigten oder auf seine Steuerungsfähigkeit ausgewirkt hat. (...)

Hierfür können in der Regel die Diagnose der psychischen Störung sowie ihre Einordnung unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB nicht offen bleiben.

http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/2/04/2-367-04.php?referer=db, RN 20 f.

Bis auf das 3. Eingangsmerkmal (tiefgreifende Bewußtseinsstörung) - jedoch möglicherweise auch dieses, z.B. bei Alkoholismus - haben alle Eingangsmerkmale (Liste z.B. hier: https://portal.hogrefe.com/dorsch/eingangsmerkmale/potentiell den Charakter einer psychischen Behinderung, sofern es sich um länger andauernde Störungen handelt, vgl. u.a. hier: http://www.ibrp-online.de/einfueh.htm#was

Für die Anordnung einer Maßregel ist das (zukünftige) Andauern der Störung sogar zwingend Voraussetzung - zusätzlich die Gefährlichkeit.

 

Fazit: Alle nach § 63 (und § 64) StGB Untergebrachten sind in diesem Sinne psychisch Behinderte, ein großer Teil der nach § 20 Freigesprochenen und nicht Untergebrachten ebenso, dies hängt jedoch vom Einzelfall ab.

Die Entscheidung über die Einordnung fällt mit der Einordnung in die Eingangskriterien zu § 20 StGB, der aufgrund dessen in überwiegendem Umfang psychisch Behinderte betrifft.

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@ Waldemar Robert Kolos

Und noch weiter vorne: "Bei dem Erfordernis der Tenorbeschwer handelt es sich um ein rich-terrechtlich entwickeltes Rechtsmittelerfordernis, hinter dessen historischer Ent-stehung der Gedanke vom staatlichen Strafanspruch steht."

Man kann dem BGH jedenfalls nicht vorwerfen, er berufe sich auf den Strafanspruch und habe die Maßregeln nicht in seine Überlegungen mit einbezogen.

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