Loveparade Duisburg 2010 - Fahrlässigkeiten, 21 Tote, keine Hauptverhandlung?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 05.04.2016

Wie soeben berichtet wird (Spiegel Online), hat das LG Duisburg im Zwischenverfahren die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung in der Sache Loveparade Duisburg 2010 abgelehnt. Diese Entscheidung kann zwar noch angefochten werden, bedeutet aber erst einmal einen Schlag ins Gesicht der vielen Opfer und Angehörigen. Meines Erachtens gibt es genug Anhaltspunkte für eine strafrechtliche Verantwortlichkeit (siehe die Links unten) für fahrlässiges Verhalten bzw. Versagen auf allen drei Ebenen - Veranstalter, Genehmigungsbehörden, Polizei. Und aus meiner Sicht hätte es auch eine hinreichende Verurteilungswahrscheinlichkeit gegeben. Allerdings zielte schon der Auftrag für das Gutachten von Keith Still, das als entscheidendes Beweismittel betrachtet wurde (und offenbar jetzt vom Gericht verworfen wird) in eine falsche Richtung. Auch dass die Staatsanwaltschaft sehr frühzeitig alle Polizeibeamten aus der Reihe der Verdächtigen ausschloss, war kaum zu vereinbaren mit den zu beobachtenden Fakten am Tag der Katastrophe (siehe ebenfalls die Links zu meinen früheren Beiträgen, die unten angehängt sind).

Nach einer Presseerklärung des LG Duisburg (Link) waren die entscheidenden Gründe für die Nichteröffnung:

1.  Inhaltliche und methodische Mängel des Gutachtens - die in der Erklärung im Einzelnen konkretisiert werden

2.  Besorgnis der Befangenheit gegen den Gutachter Keith Still

3.  Zweifel an den der Anklage zugrundeliegenden Kausalitätserwägungen

Nach der Anklageerhebung hatte ich am 9.9.2014 schon ungute Vorahnungen geäußert:

"Wenn die Staatsanwaltschaft (in der Pressekonferenz zur Anklage, ich denke das ist so auch in der Anklage enthalten) nun sagt: "Insbesondere die polizeilichen Maßnahmen waren nach den Feststellungen eines international anerkannten Sachverständigen weder für sich genommen noch insgesamt ursächlich für den tragischen Ausgang der Loveparade", dann wird m. E. erstens das Gutachten nicht zutreffend wiedergegeben. Und zweitens widerspricht diese Aussage (was das Errichten der Kette 3 angeht) eklatant dem, was jeder mit offenen Augen erkennen kann: Ohne diese Kette wäre der konkrete Erfolg an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt  nicht eingetreten. Die Kette 3 war erkennbar ursächlich für die Menschenverdichtung im unteren Drittel der Rampe zu diesem Zeitpunkt. Das entlastet nicht diejenigen, die bei der Planung und Genehmigung der Veranstaltung fahrlässig gehandelt haben und die mit ihren Handlungen eben auch wichtige Ursachen gesetzt haben für die Katastrophe. Das bedeutet auch nicht notwendig, dass einzelne Beamte "schuld" sind, denn dafür müssten auch noch subjektive Merkmale nachgewiesen werden.

Aber die Polizeiketten ganz herauszulassen aus der Erklärung des Unglücks kann schlimme Folgen haben, denn dann bleibt der konkrete Erfolg letztlich unerklärlich."

Das scheint jetzt zumindest einer der wesentlichen Gründe zu sein, weshalb das LG die Eröffnung ablehnt: Die Kausalität der (möglichen) Planungsfehler zum konkreten Unglücksgeschehen bleibt in der Anklage offen. Ein Vorwurf, der sowohl der Staatanwaltschaft als auch dem Gutachter recht deutlich gemacht wird, neben anderen Erwägungen zu den (vorgeworfenen) Pflichtverletzungen der Angeschuldigten.

Die soeben beendete Pressekonferenz des LG Duisburg hat über die Presseerklärung hinaus keine wesentlich neuen Erkenntnisse gebracht. Natürlich war man seitens des Gerichts vorsichtig, was die Bewertung der Staatsanwaltschaft oder die Prognose eines evtl. OLG-Beschlusses angeht. Momentan wird m. E. etwas einseitig allein dem Gutachter die Schuld am Scheitern der Anklage zugewiesen. Dahinter steht aber klar der Vorwurf an die Staatsanwaltschaft, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, dass es mit diesem Gutachten nicht möglich sein würde, die Verantwortlichkeit nachzuweisen. Die Staatsanwaltschaft hätte also ggf. noch einen weiteren Gutachter beauftragen müssen. Da m. E. kein Weg daran vorbeiführt, den konkreten Taterfolg (auch) mit dem Verhalten der Mitarbeiter des Veranstalters und der Polizei am Tag der Loveparade zu erklären, war es letztlich fatal für die Anklage, die polizeilichen Maßnahmen als Ursache auszuschließen.

(Update, 16.00 Uhr):

Die Staatsanwaltschaft hat sofortige Beschwerde eingelegt!

Einige strafprozessuale Erwägungen:

Die strafprozessuale Streitfrage wird sich u.a. zu § 202 StPO ergeben. Danach kann das Gericht durchaus "ergänzende" "einzelne" Beweiserhebungen im Zwischenverfahren anordnen. Die Rechtsprechung sieht dies aber als Ausnahme an - nur Lücken in der Beweisführung der Staatsanwaltschaft dürfen geschlossen werden. Darauf wird sich das LG Duisburg berufen. Udo Vetter meint dennoch:

"Zwar wird immer betont, das Gericht dürfe natürlich nicht das komplette Ermittlungsverfahren neu aufrollen. Aber spätestens nachdem der Sachverständige sich durch seine Auftritte auch noch der Besorgnis der Befangenheit ausgesetzt hat, hätte es nach meiner Meinung juristisch ausreichend Spielraum gegeben, um auch nach Erhebung der Anklage ein vernünftiges Gutachten einzuholen."

(Quelle: Law Blog)

Das Gericht wird sich demgegenüber darauf berufen, man habe ja in diesem Sinne den Gutachter umfassend ergänzend befragt. Ein neues Gutachten einzuholen, sei auf Grundlage des § 202 StPO nicht zulässig gewesen, da es eine so zentrale Rolle in der Anklage gespielt habe.

Auch ist zu erwägen, ob das Gericht die Sache frühzeitig an die Staatsanwaltschaft informell zurückgeben hätte können. Solche Fälle sind in der Praxis bekannt. Aber ob so ein "großer" Strafprozess eine solche informelle Behandlung vertragen hätte?

Zu  211 StPO: Ja, ein neues Gutachten kann als neues Beweismittel eine neue Anklageerhebung stützen. So z.B.  das OLG Köln.

Update (06.04.2016)

Drei Fragen

Bei der Beurteilung der derzeitigen Situation sind m.E. drei Fragen zu unterscheiden. Ich habe diese Fragen einmal zusammengestellt und ein paar mögliche Antworten formuliert. 

1. Wer bzw. was ist die Ursache des Anklage-Dilemmas? 

a) Die Staatsanwaltschaft, die eine unschlüssige Anklage formuliert hat und als zentrales Beweismittel ein nicht tragfähiges Gutachten präsentierte

b) Ein Gutachter, der methodisch/inhaltlich fehlerhaft gearbeitet hat und noch dazu sich unprofessionell verhalten hat (in Bezug auf Auslösen einer Besorgnis der Befangenheit)

c) Eine Kombination von a) und b)

d) Keine dieser Möglichkeiten, das LG Duisburg liegt falsch, die Anklage hingegen  ist plausibel genug, um das Hauptverfahren zu eröffnen.

2. Konnte das LG Duisburg (und prognostisch: kann das OLG Düsseldorf) das Anklagedilemma selbst lösen?

a) Ja, die Anklage hätte einfach zugelassen, das Hauptverfahren eröffnet werden können. Streitfragen hätte man im Hauptverfahren klären können.

b) Ja, die Strafkammer hätte - nach § 202 StPO - selbst ergänzende Beweiserhebungen durchführen können, um sodann auf besserer Grundlage zu eröffnen.

c) Ja, die Kammer hätte die Staatsanwaltschaft rechtzeitig veranlassen müssen, ein besseres Gutachten vorzulegen und die Anklage besser zu konkretisieren, um sodann auf besserer Grundlage zu eröffnen.

d) Nein, das Gericht konnte nicht selbst die Anklage verbessern oder die Staatsanwaltschaft von ihrem falschen Pfad abbbringen, die Nichteröffnung war konsequent/richtig, da die Anklage grundlegend verfehlt war.

3. Was folgt nun für die weitere strafrechtliche Aufarbeitung der Loveparade 2010?

a) Das OLG wird das LG Duisburg korrigieren und doch noch das Hauptverfahren eröffnen

b) Die Staatsanwaltschaft wird ein neues Gutachten vorlegen (§ 211 StPO), erneut anklagen, und dann kann eröffnet werden.

c) Die strafrechtliche Aufarbeitung ist voraussichtlich völlig gescheitert und wird auch nicht wieder aufgenommen.

Vielleicht möchten Sie in der Diskussion Ihre Auffassung dazu bzw. Ihre weiteren Antwortmöglichkeiten darlegen.

_________________________________________________________________________________________

Wer sich über die bisherigen Diskussionen informieren möchte, kann sie hier finden - unmittelbar darunter einige Links zu den wichtigsten Informationen im Netz.

Juli 2015: Fünf Jahre und kein Ende – die Strafverfolgung im Fall Loveparade 2010 (98 Kommentare, ca. 9000 Abrufe)

Februar 2015: Was wird aus dem Prozess? (72 Kommentare, ca. 5900 Aufrufe)

August 2014: Zweifel am Gutachten (50 Kommentare, ca. 6900 Abrufe)

Februar 2014: Anklageerhebung (50 Kommentare, ca. 12300 Abrufe)

Mai 2013: Gutachten aus England (130 Kommentare, ca. 14200 Abrufe)

Juli 2012: Ermittlungen dauern an (68 Kommentare, ca. 11600 Abrufe)

Dezember 2011: Kommt es 2012 zur Anklage? (169 Kommentare, ca. 26000 Abrufe)

Juli 2011: Ein Jahr danach, staatsanwaltliche Bewertung sickert durch (249 Kommentare, ca. 36000 Abrufe)

Mai 2011: Neue Erkenntnisse? (1100 Kommentare, ca. 28000 Abrufe)

Dezember 2010: Fünf Monate danach (537 Kommentare, ca. 21500 Abrufe)

September 2010: Im Internet weitgehend aufgeklärt (788 Kommentare, ca. 35000 Abrufe)

Juli 2010: Wie wurde die Katastrophe verursacht - ein Zwischenfazit (465 Kommentare, ca. 42000 Abrufe)

Ergänzend:

Link zur großen Dokumentationsseite im Netz:

Loveparade2010Doku

speziell: Illustrierter Zeitstrahl

Link zur Seite von Lothar Evers: DocuNews Loveparade Duisburg 2010

Link zur Prezi-Präsentation von Jolie van der Klis (engl.)

Weitere Links:

Große Anfrage der FDP-Fraktion im Landtag NRW

Kurzgutachten von Keith Still (engl. Original)

Kurzgutachten von Keith Still (deutsch übersetzt)

Analyse von Dirk Helbing und Pratik Mukerji (engl. Original)

Loveparade Selbsthilfe

Multiperspektiven-Video von Jolie / Juli 2012 (youtube)

Multiperspektiven-Video von Jolie / September 2014 (youtube)

Interview (Januar 2013) mit Julius Reiter, dem Rechtsanwalt, der eine ganze Reihe von Opfern vertritt.

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252 Kommentare

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Sehr geehrter Herr Würdinger,

Sie schreiben:

Und nochmal zurück zu dem Thema Anfangsverdacht gegen Sauerland und Schaller: Mir fallen zwei Stichworte ein:

1.) Organisationsverschulden und §§ 222

2.) Einheit der Rechtsordnung

Es leuchtet mir immer noch nicht 100%ig ein, wieso in diesem Fall im Strafrecht völlig andere Wertungen - es geht nämlich letzten Endes um Wertungen - gelten sollen als im Zivilrecht oder im öffentlichen Recht. Sowohl zivilrechtlich als auch öffentlich-rechtlich wird wohl jeder sofort in Hinblick auf Sauerland und Schaller auf den Begriff "Organisationsverschulden" kommen. 

Das Stichwort kann im Rahmen des Strafrechts auch fallen, aber nur, wenn man es als Fahrlässigkeit im Rahmen der §§ 222, 230 StGB einordnen kann. Sollten die beiden Herren - und darauf deutet alles hin - die konkrete Planung und Genehmigung der Veranstaltung an jeweils dazu ausgebildeten und ordentlich ausgewählten Abteilungsleiter delegiert haben, dann liegt m.E. keine persönliche Fahrlässigkeit im Hinblick auf das Geschehen am 24.07. vor. Dass es konkrete Anweisungen der beiden gegeben habe, die Veranstaltung sorgfaltswidrig zu planen oder rechtswidrig zu genehmigen, ist nicht bekannt geworden.

Und an dieser Stelle kommt das Stichwort "Einheit der Rechtsordnung" ins Spiel: Welchen Inhalt, welches Anwendungsgebiet soll denn der Begriff "Einheit der Rechtsordnung" überhaupt noch haben, wenn nicht hier?

Einheit der Rechtsordnung bezieht sich auf grundlegende Merkmale/Bewertungen wie "Rechtswidrigkeit". Ein Verhalten kann nicht in einem Rechtsgebiet rechtmäßig im anderen rechtswidrig sein. Dass die Rechtsfolgen übereinstimmen müssten, verlangt dieses Prinzip aber nicht, denn sonst brauchte man gar nicht verschiedene Rechtsgebiete. Im Zivilrecht geht es idR um Schadenersatz, den auch (sogar regelmäßig) Organisationen als juristische Personen leisten müssen. Im Strafrecht geht es - da es in Deutschland kein Unternehmensstrafrecht gibt - NUR um die strafrechtliche Schuld einzelner realer Personen. Selbst wenn also das Zivilrecht und das Öffentliche Recht zum Ergebnis kommen, es läge eine rechtswidrige Planung oder Genhmigung vor, hat das im Strafrecht nur dann Bedeutung, soweit dafür konkrete Menschen persönlich verantwortlich sind.

Ich konnte und kann nicht erkennnen, mit welchen konkreten Handlungen/Unterlassungen sich Herr Schaller und Herr Sauerland persönlich strafrechtlich haftbar gemacht haben sollen. Ich spreche sie damit nicht frei von (moralischer, politischer) Verantwortung, aber dass sie die politische bzw. wirtschaftliche Verantwortung für die Veranstaltung hatten, bedeutet noch nicht, dass sie persönlich strafbar sind.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

 

 

 

Es ist nach hierzulande geltendem recht wohl tatsächlich so, wie der sehr geschätzte Herr Professor Müller es schildert, also so, daß, wenn man als Geschäftsherr die konkrete Planung und Genehmigung der Veranstaltung an jeweils dazu ausgebildeten und ordentlich ausgewählten Abteilungsleiter delegiert hat, man dann (grundsätzlich, also zumindest normalerweise) strafrechtlich (zivilrechtlich und verwaltungs- und amtshaftungrechtlich kann es wohl anders liegen) selber aus dem Schneider ist.

Für mich wirft das jedoch die Frage auf, ob der Gestzgeber die Haftungsvorschriften (insbesondere für Unternehmen und Gebietskörperschaften bzw. für Geschäftsherren und gesetzliche Vertreter) nicht verschärfen sollte.

Wenn ich mein Auto vom TÜV überprüfen lasse, wird die Prüfung durch einen dazu ausgebildeten und ordentlich ausgewählten Fachmann vorgenommen.

Ich kann vor der TÜV-Prüfung sagen "ich würde mich freuen und hoffe doch daß der Wagen durch den TÜV kommt".

Dann habe ich gute Chancen, die Plakette zu erhalten.

Ich könnte aber auch sagen "ich möchte keine wohlwollende Prüfung, sondern eine strenge penible Kontrolle und einen ungeschminkten Prüfbericht".

Dann würde ich wahrscheinlich nicht sofort die TÜV-Plakette kriegen, sondern müßte erst ein par Kleinigkeiten (auch wenn diese undramatisch sind)nachbarbessern.

Als Auftraggeber habe ich Einfluss auf die Prüfung, auch wenn ich niemanden besteche und niemanden nötige und niemanden zum Rechtsbruch auffordere.

Als Rechtsreferendar habe ich die Erfahrung gemacht, daß meine Vorgesetzten bzw. Ausbilder, die mich mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens beauftragen, sehr häufig mehr oder weniger subtil Wünsche äußern, wie das Gutachten ausfallen soll.

Falls es nicht wunschgemäß ausfällt, fällt auch meine Benotung nicht wunschgemäß aus.

Was ich damit sagen will, ist, daß meiner Erfahrung nach der Chef oder Geschäftsherr in der Regel Einfluss auf die Ergebnisse von Gutachten und Genehmigungen und Prüfungen und Prüfberichte nimmt, und daß er deshalb auch öfters als bisher üblich haften sollte.

 

 

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ehemaliger Rechtsreferendar schrieb:

Als Rechtsreferendar habe ich die Erfahrung gemacht, daß meine Vorgesetzten bzw. Ausbilder, die mich mit der Erstellung eines Rechtsgutachtens beauftragen, sehr häufig mehr oder weniger subtil Wünsche äußern, wie das Gutachten ausfallen soll.

Falls es nicht wunschgemäß ausfällt, fällt auch meine Benotung nicht wunschgemäß aus.

Was ich damit sagen will, ist, daß meiner Erfahrung nach der Chef oder Geschäftsherr in der Regel Einfluss auf die Ergebnisse von Gutachten und Genehmigungen und Prüfungen und Prüfberichte nimmt, und daß er deshalb auch öfters als bisher üblich haften sollte.

Das mag im Allgemeinen so sein oder nicht. Damit das Ganze strafrechtlich relevant wird müsste es aber gerichtsfest nachgewiesen werden. An konkreten Anhaltspunkten dafür scheint es im Fall Loveparade 2010 zu mangeln.

0

Wir haben hier zwei - äußerst anspruchsvolle - Diskussionsfelder:

Zum einen die materiell-rechtliche Seite. Hier geht es m.E. vor allem um die Frage, ob die Loveparade seinerzeit überhaupt genehmigungsfähig war. Es wird ein technisches Gutachten zu Rettungswegen, Alarmierungsanlagen, Veranstaltungstechnik und ähnlichen - allesamt technischen - Fragen einzuholen sein. Sobald dieses technische Gutachten vorliegt, wird die Frage zu beantworten sein, ob die Loveparade seinerzeit überhaupt genehmigungsfähig war. Insbesondere die Frage, ob die Planung der Loveparade seinerzeit den Vorgaben der Sonderbauten-Verordnung NRW genügte oder nicht.  

Aber ich möchte noch einmal bei dem zweiten Diskussionsfeld, bei den prozessualen Fragen, nachhaken: Auf dem Tisch liegt immer noch mein Vorschlag, ein Ermittlungs-Erzwingungsverfahren beim OLG zu betreiben. Ich habe immer noch keine vernünftigen Einwände dagegen gehört. Angesichts der vollständig verfahrenen Situation ist das - meiner Überzeugung nach - die einzige realistische Chance, wie insbesondere die Eltern der Getöteten noch den Versuch unternehmen können, die juristische Aufarbeitung der Loveparade betreiben zu können.           

RA Würdinger schrieb:

Auf dem Tisch liegt immer noch mein Vorschlag, ein Ermittlungs-Erzwingungsverfahren beim OLG zu betreiben. Ich habe immer noch keine vernünftigen Einwände dagegen gehört.            

 

Ich würde dem zumindest entgegenhalten, dass die Staatsanwaltschaft sehr wohl ermittelt und Anklage erhoben hat.

 

Der Vorwurf müsste sich auf den schwächeren Sachverhalt des "nicht ausreichend" ermittelt beziehen, der eine entsprechend höhere Hürde darstellen dürfte.

 

Zahlreiche Opfervertreter waren als Nebenkläger vertreten und haben im Vorverfahren vor dem LG die Arbeit der Staatsanwaltschaft nicht kritisiert. Das dürfte sich belastend auf ein Ermittlungs-Erzwingungsverfahren (oder treffender "Ermittlungs-Ergänzungsverfahren") auswirken.

 

Ich will keinesfalls ausschließen, dass ein solcher Verfahrensweg beschritten werden könnte. Ich zweifele aber daran, dass es zu einem solchen Zeitpunkt noch möglich ist. Das OLG beschäftigt sich nun ohnehin mit der Sache. Wird der Beschwerde gegen den LG-Beschluss nicht statt gegeben, halte ich es für fraglich, ob das selbe OLG sich danach noch einmal mit der Sache (mit Aussicht auf Erfolg für die Geschädigten) beschäftigen wird. Ein besserer Zeitpunkt wäre m.E. gewesen, als das LG im Verfahren Zweifel bekundete.

 

Eine andere Frage ist, ob das OLG im Beschwerdeverfahren mehr oder weniger deutlich auch die Ratio des BVerfG einfließen lässt, dass die Opfer ein Recht auf (sorgfältige) Ermittlungsarbeit und Anklageerhebung haben.

5

Grüß Gott Herr Oehlmann,

Ihrem Kommentar habe ich vier Punkte entnommen:

1.)  Sie erkennen offenbar prinzipiell an, dass es das EEV schon gibt, dass es nichts Neues ist. Sie erkennen offenbar auch an, dass die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO einen echten eigenen Rechtsanspruch auf ernsthafte und vor allem vollständige Ermittlungstätigkeit der StA haben.

2.) Sie verkennen allerdings, dass ein EEV sehr viel weniger verlangt als ein KlEV. Beim EEV zielt der Antrag nur auf eine (vollständige) Ermittlung, beim KlEV zielt der Antrag auf viel mehr, nämlich darauf, dass die StA - nach vollständigem Abschluss der Ermittlungen - eine Anklageschrift bei Gericht einreichen soll. Also verlangt das EEV für seinen Erfolg sehr viel weniger als ein KlEV. Die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO wollen beim EEV ganz einfach sehr viel weniger erreichen als beim KlEV, also sind auch die Hürden beim EEV sehr viel niedriger als beim KlEV. Das EEV ist ganz einfach ein prozessuales Minus zum KlEV.    

3.) Der Zeitpunkt ist ohne Belang. Es gibt keine "Verwirkung" o.ä. Ein EEV kann sinnvoll solange betrieben werden, wie die StA noch nicht fertig ist mit ihren Ermittlungen. Und die StA ist allein schon deshalb noch nicht fertig mit ihren Ermittlungen, weil sie noch ein Gutachten zu den immer noch ungeklärten technischen Fragen einholen muss (Stichworte Rettungswege, Alarmierungsanlagen und Veranstaltungstechnik).      

4.) Es ist gut, dass ein Verfahren gerade beim OLG anhängig ist. Denn das OLG ist ohnehin für ein Verfahren nach den §§ 172 ff StPO das zuständige Gericht, § 172 IV StPO. M.E. sollte im Rahmen des ohnehin anhängigen Verfahrens die Zielrichtung der beim OLG gestellten Anträge geändert werden: Die Zielrichtung sollte nunmehr sein - im Übrigen insoweit in Übereinstimmung mit dem LG -  dass die StA zur Vervollständigung ihrer Ermittlungen verpflichtet wird. Genau darauf haben die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO seit der Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 einen richtiggehenden Rechtsanspruch.

Ich habe inzwischen Gelegenheit gefunden, den Fernsehbeitrag zu sehen. Ich kann noch nicht einmal sagen, "der juristische Gehalt tendiert gegen Null." Vielmehr ist zutreffend der Kommentar "der juristische Gehalt ist gleich Null."

Der im Kommentar Nr. 7 genannte Fernsehbeitrag hat im wesentlichen zum Inhalt, dass die beiden bekanntesten Opfervertreter beide weiterhin an ihrer jeweiligen Prozessstrategie festhalten. Dabei bietet m.E.  die Prozessstrategie "Zivilprozess" keinerlei, die Prozessstrategie "Beschwerde gegen die Nichteröffnung" nur sehr geringe Erfolgsaussichten. Ich darf das wie folgt begründen:

Die Prozessstrategie "Zivilprozess" scheitert an den Besonderheiten des Zivilprozessrechts. Das Zivilprozessrecht zeichnet sich v.a. aus durch den Beibringungsgrundsatz und die - in diesem Fall - durchgängige Beweislast beim Geschädigten. Es sind in diesem Fall - weil kein "Auffahrunfall" o.ä. vorliegt - weit und breit noch nicht einmal irgendwelche Beweiserleichterungen o.ä. zu sehen. 

Und bei der Prozesstrategie "Beschwerde gegen die Nichteröffnung" besteht das Problem v.a. darin, dass nicht recht zu erkennen ist, was das OLG daran hindern sollte, ohne weiteres den Beschluss des LG zu bestätigen. M.E. ist die Zurückweisung der Beschwerde geradezu vorprogrammiert.  

 

Grüß Gott Herr Rechtsanwalt Würdinger,

es ist interessant, über ihren Ansatz eines EEV nach 172 StPO ff zu diskutieren, wodurch das OLG die Staatsanwaltschaft mittels Einholung eines Zweitgutachtens zu weiteren Ermittlungen verpflichtet. Ein solcher Antrag könnte Synergien u.U. auslösen.

Zwei Anmerkungen

1. warum Schaller und Sauerland (strafrechtlich!) nichts zu befürchten haben, hat oben Prof. Müller schon angerissen. Warum das auch für Sauerlands verlängerten Arm, den Ordnungsdezernenten Rabe, gilt, habe ich hier bereits ausgeführt: http://blog.beck.de/2014/02/11/loveparade-2010-anklageerhebung-nach-fast... (im weiteren Threadverlauf die Rechtsgrundlagen). Zivilrechtlich sieht es m.E. anders aus - da können Aussagen wie "die LoPa findet auf jeden Fall statt" auch von den "nur" politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen bzw. obersten Personen durchaus relevant sein, so sie denn dokumentiert sind.

2. zur Verjährung: Schaller und Sauerland sind auch darum seit dem 29.07.15 "aus dem Schneider", denn gegen sie wurde nie ermittelt. Auch für die anderen ist es - strafrechtlich - zu spät:

... Eine zweite Gruppe seien jene Personen, so Weiler, gegen die zunächst Ermittlungen aufgenommen wurden, das Ermittlungsverfahren dann aber eingestellt wurde. Dazu gehört etwa Ordnungsdezernent Rabe, der leitende Polizist dieses Einsatzes, drei leitende Mitarbeiter des Ordnungsamtes sowie der so genannte "Crowd-Manager" des Veranstalters. Bei ihnen allen wurde die Verjährung aufgrund verschiedener Gründe unterbrochen. Dazu zählen etwa Vernehmungen oder Durchsuchungsmaßnahmen. "Die Verjährung für diesen Personenkreis tritt erst im Januar 2016 ein" ...

http://waz.derwesten.de/dw/staedte/duisburg/loveparade-weshalb-es-noch-n...

Ein Ermittlungserzwingungsverfahren analog zu bzw. gemäß 172 StPO ff. würde also auf jeden Fall ins Leere laufen. Selbst wenn die Verjährungsfrist noch nicht abgelaufen wäre: da bereits gegen die o.g. Personen ermittelt wurde, würde ein EEV da wirklich Erfolg versprechen?

"Nur" zivilrechtlich sind diese Personen noch zu belangen, falls gegen sie rechtzeitig geklagt wurde.

Ein EEV verspricht solange Erfolg, solange die StA den Sachverhalt noch nicht vollständig ausermittelt hat. Der Sachverhalt ist allein schon deswegen noch nicht vollständig ausermittelt, weil die StA noch in keiner Weise Ermittlungen zu den technischen Gegebenheiten in der Planungs- bzw. Genehmigungsphase angestellt hat.

Die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO haben ein subjektiv-öffentliches Recht auch und gerade auf vollständige Ermittlungen der StA. Das ergibt sich aus der Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 und den Nachfolge-Entscheidungen des BVerfG hierzu. Das sind die Entscheidungen Gorch Fock vom 6.10.2014, die Entscheidung Münchner Lokalderby vom 23.3.2015 und die Kundus-Entscheidung vom 19.5.2015.     

Der Ermittlungserzwingungsantrag ist gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 StPO binnen eines Monats nach Eingang des die Ermittlungen ablehnenden Bescheids der Generalstaatsanwaltschaft beim nach § 172 Abs. 4 StPO zuständigen Oberlandesgericht einzureichen.

Grüß Gott Herr Rohn,

ein Verfahren ist bereits beim gem. § 172 IV StPO zuständigen OLG anhängig. Auch stellt sich hier keine Fristproblematik, weil die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO bereits fristgerecht kundgetan haben, dass sie sich mit dem Beschluss des LG nicht abfinden wollen. Eine Fortführung des beim OLG anhängigen Verfahrens als EEV ist deshalb unproblematisch möglich.

Wenn nichts sonst geschieht, ist der weitere Verlauf absehbar: Die StA macht nach wie vor keinerlei Anstalten, von sich aus einen zweiten, technischen Gutachter zu bestellen. Vielmehr wird die StA eine redundante Beschwerdebegründung abgeben, die inhaltlich lediglich eine dünne Zusammenfassung der Anklageschrift darstellt. Daraufhin wird das OLG einen redundanten Zurückweisungsbeschluss machen, der inhaltlich eine dünne Zusammenfassung des Beschlusses des LG darstellen wird. Das ist alles absehbar.   

 

 

Grüß Gott Herr Rechtsanwalt Würdinger, ist das Verfahren beim OLG derzeit nicht nach § 210 Abs. 2 StPO anhängig, wobei die Nebenkläger sich der Beschwerde angeschlossen haben?

Grüß Gott Herr Rohn,

"anhängig" heißt in diesem Zusammenhang nur, dass die Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO schon "irgendein" Verfahren beim OLG angeleiert haben und dieses (Irgendein-) Verfahren derzeit noch beim OLG liegt, also dort noch nicht erledigt ist.

Die Verletzten haben jetzt die Möglichkeit, ihre Anträge zu ändern. M.E. sollten eben die Anträge der Verletzten nicht mehr - parallel zu den Anträgen der StA - auf Zulassung der bestehenden Anklageschrift gerichtet sein, sondern - parallel zum Beschluss des LG - darauf gerichtet sein, dass die StA vom OLG dazu verdonnert wird, sich einen zweiten, einen technischen, Gutachter zu holen. Ist doch nicht so schwierig!

Noch ein Nachtrag: Es liegt in der Hand der Verletzten i.S.d. §§ 172 ff StPO selbst, ihrer Prozessvertretung förmliche Weisungen zu erteilen. Erteilen also Eltern der Getöteten ihrem Anwalt die förmliche Weisung, den Antrag beim OLG auf einen Antrag im EEV gem. §§ 172 ff StPO umzustellen, müsste das OLG auf diesen (umgestellten) Antrag hin eine Entscheidung treffen. Da das OLG im EEV richterliche Hinweise gem. § 86 III VwGO analog zu erteilen hat, hat ein solches Verfahren gem. §§ 172 ff StPO gute Erfolgssaussichten. Ist etwa der Antrag, die StA zu verpflichten, einen zweiten, technischen, Gutachter zu bestellen, nicht hinreichend präzise formuliert, muss das OLG gem. § 86 III VwGO analog auf eine sachdienliche Antragstellung hinwirken. Die richterliche Hinweispflicht gem. § 86 III VwGO analog gilt auch für alle weiteren prozessualen Stolpersteine.    

Chapeau! In dieser Klarheit wollte ich es hören.

Mein Vorschlag, das beim OLG anhängige Verfahren in ein Ermittlungs-Erzwingungsverfahren überzuleiten, entspricht am besten den Interessen der Eltern der Getöteten:  Die Eltern der Getöteten wollen erreichen, dass das Unglück auch und gerade in juristischer Hinsicht aufgeklärt wird. Zudem wird der StA allgemein zum Vorwurf gemacht, dass die StA den Sachverhalt nach wie vor nicht vollständig aufgeklärt hat. Gerade auf die vollständige Aufklärung des Sachverhalts zielt das Ermittlungs-Erzwingungsverfahren. Das Ermittlungs-Erzwingungsverfahren ist deshalb für die Eltern der Getöteten das prozessuale Mittel der Wahl.   

So völlig absurd scheint mein Aufsatz "Die Zeitenwende im Klageerzwingungsverfahren", HRRS 2016, 29 ff dann doch nicht zu sein. Immerhin hat es mein Aufsatz in den nächsten Kommentar geschafft: Burhoff/Kotz, Handbuch für die strafrechtlichen Rechtsmittel und Rechtsbehelfe, 2. Auflage 2016, Teil B. Rechtsbehelfe, Rn. 485 ff, S. 910 ff. Das entnehme ich der Leseprobe des Handbuchs auf "burhoff.de".   

Dem stimme ich zu, ein Artikel ist darüber in Arbeit.

@ Henniing Müller,  auf die Frage der StA. über Ursachen von Polizeiketten, antwortet Still mit dem Hinweis er habe sie schon beantwortet. Beantwortet werden sie im Abschnitt 3.7 Dynamics of Incident, ( in der Version 3.15., vom 14. März 2013).

Beispiele: 
3.7.15  The police line on the ramp established at 16.02 hours and at around 16.20 hours the police line at the ramp constraint dissolved. It was anticipated that some 45,000 people may be leaving the site from 16.00 - 17.00 hours.

3.7.19  We can see from the images that in the space of 20 minutes the area around the ramp constraint is now severely congested (ingress and egress). [Bilder 16.02 - 16.19]

3.7.22  We have demonstrated that the crowd build up and subsequent release of the crowd would have predictable consequences.

Richtig ist, dass die PK in den Zusammenfassungen (4.2 List of Proximate Failures ) nicht benannt werden. Trotzdem sehe ich nicht, inwiefern Still die PK herausgehalten hat oder deren Wirkung ungenügend beschrieben hat. Die Frage über das operative Verhalten der Polizei ist wohl ausserhalb der Expertise von Still, weshalb er explizite aussagen unterlässt.

Der noch zu bestellende Gutachter muss sich z.B. auch noch zu dem "operativen Verhalten der Polizei" äußern. Es ist nämlich unmittelbar einsichtig, dass das "operative Verhalten der Polizei" jedenfalls nicht der hauptsächliche Gegenstand eines Gutachtens war, das sich vorrangig mit den Gesetzmäßigkeiten, denen große Menschenmengen folgen, beschäftigt hat.     

Um ein Organisationsverschulden auszuschließen, muss die ordnungsgemäße Delegation nachgewiesen werden. Dazu gehören a) Delegation der Verantwortung

inklusive:

b) Erteilung der notwendigen Weisungsbefugnisse

c) Erteilung der notwendigen Vollmachten

d) Bereitstellung der notwendigen Ressourcen

e) fachliche und persönliche Tauglichkeit

Bei einer Behörde kann man davon ausgehen, dass dies alles geschieht. Die Delegation wird formal korrekt sein. In der Veranstaltungstechnik kommt es öfters vor, dass den technsichen Fachkräften die Weisungsbefugnis fehlt und/ oder die finanziellen Ressourcen. Bei der Loveparade 2010 fehlten einige Anlagen wie die ELA vollständig (Kostenersparnis 100%), der technische Zustand entsprach nicht der Bauordnung NRW wie z.B. bei provisorisch abgedeckten Löchern im Boden (fehlender Gullydeckel), nicht zulässigen Zäunen, nicht stolpersicheren Böden (unsanierter Güterbahnhof). Im Vergleich zu einer korrekten Durchführung ist hier erheblich "gespart" worden. Die Kostenplanung des Veranstalters insbesondere bei diesen Punkten hätte mich schon einmal interessiert. Finanziell profitiert hier der Unternehmer. Ich bin mir sicher, dass der technische Leiter hier nicht die notwendigen Mittel hatte, um die gesetzlichen und behördlichen Anforderungen umzusetzen. Und genau dafür wäre der Unternehmer verantwortlich. Da der Prozess mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausfällt, wird man es vermutlich nie erfahren. Mit einem Urteil fehlen damit auch der Erkenntnisgewinn aus diesem Unglück z.B. zur Pflichtenverteilung zwischen Unternehmer und Beschäftigtem. Der technische Leiter war jedenfalls verantwortlich, dem Unternehmer mitzuteilen, wo Geld oder andere Ressourcen fehlen, um die Veranstaltung sicher durchzuführen. Auch das hätte man erst in einem Prozess erfahren können.

0

Danke, das von einer kompetenten Stimme zu hören. Wieso hat sich die Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren eigentlich keine derart kompetenten Berater zu Rate gezogen, vergleichbar etwa den Wirtschaftsreferenten in Wirtschaftsstrafsachen? Das hätten ja gar keine offiziellen Gutachtenaufträge sein müssen. Ein bisschen externer Sachverstand, der den Staatsanwälten erklärt, wie eine Großveranstaltung funktioniert, wie die Pflichten und Verantwortlichkeiten verteilt sind, und wer wo "den Hut auf hat", hätte eigentlich schon gereicht.

Dann hätten die Staatsanwälte vermutlich besser gewusst, wonach sie hätten suchen sollen und wen sie hätten fragen müssen.

Warum das nicht passiert ist, habe ich im gesamten Ermittlungsverfahren nicht verstanden. 

 

Gast schrieb:

Um ein Organisationsverschulden auszuschließen, muss die ordnungsgemäße Delegation nachgewiesen werden. Dazu gehören a) Delegation der Verantwortung

inklusive:

b) Erteilung der notwendigen Weisungsbefugnisse

c) Erteilung der notwendigen Vollmachten

d) Bereitstellung der notwendigen Ressourcen

e) fachliche und persönliche Tauglichkeit

Bei einer Behörde kann man davon ausgehen, dass dies alles geschieht. Die Delegation wird formal korrekt sein. In der Veranstaltungstechnik kommt es öfters vor, dass den technsichen Fachkräften die Weisungsbefugnis fehlt und/ oder die finanziellen Ressourcen. Bei der Loveparade 2010 fehlten einige Anlagen wie die ELA vollständig (Kostenersparnis 100%), der technische Zustand entsprach nicht der Bauordnung NRW wie z.B. bei provisorisch abgedeckten Löchern im Boden (fehlender Gullydeckel), nicht zulässigen Zäunen, nicht stolpersicheren Böden (unsanierter Güterbahnhof). Im Vergleich zu einer korrekten Durchführung ist hier erheblich "gespart" worden. Die Kostenplanung des Veranstalters insbesondere bei diesen Punkten hätte mich schon einmal interessiert. Finanziell profitiert hier der Unternehmer. Ich bin mir sicher, dass der technische Leiter hier nicht die notwendigen Mittel hatte, um die gesetzlichen und behördlichen Anforderungen umzusetzen. Und genau dafür wäre der Unternehmer verantwortlich. Da der Prozess mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausfällt, wird man es vermutlich nie erfahren. Mit einem Urteil fehlen damit auch der Erkenntnisgewinn aus diesem Unglück z.B. zur Pflichtenverteilung zwischen Unternehmer und Beschäftigtem. Der technische Leiter war jedenfalls verantwortlich, dem Unternehmer mitzuteilen, wo Geld oder andere Ressourcen fehlen, um die Veranstaltung sicher durchzuführen. Auch das hätte man erst in einem Prozess erfahren können.

Dass Herr Schaller einen Sparkurs fuhr, hat er offensichtlich selbst eingeräumt. 

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/love-parade-sauerland-und-schaller...

Dort steht konkret: Schaller räumte jedoch ein, dass er seinen Party-Machern einen rigiden Sparkurs auferlegt habe. Was das konkret in der Umsetzung bedeutet habe? Keine Ahnung.

Aber auch wird das wohl daran scheitern, dass der konkrete Druck nicht nachweisbar sein wird. Vermutlich werden auch die Angestellten ihren Chef nicht belasten wollen. Denn dieser zahlt ihnen vielleicht den Anwalt. Es ist ja vielleicht von den Mitarbeitern auch in einer Art vorauseilendem Gehorsam gehandelt worden.

Mit Lothar Evers haben wir schon einige Male darüber diskutiert, ob ein Hype oder ob vor allem der Druck entscheidend war dafür, dass man unverantwortbare Risiken einging, oder vielleicht auch eine Mischung davon. Klar ist: Die Chefs haben hier nicht richtig geführt. Beide wollten die Veranstaltung unbedingt haben und haben nicht genug für das Sicherheitsbewusstsein ihrer Mitarbeiter getan, da bin ich sicher.  

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... Ich habe mir schon den Mund fusselig geredet, dass die Eltern der Getöteten genau diese Ermittlungen der StA - die offensichtlich immer noch fehlen - im Rahmen eines Ermittlungserzwingungsverfahrens gem. §§ 172 ff StPO beim OLG jetzt endlich zwangsweise durchsetzen müssen.

Tja, jetzt fordert selbst Schaller einen Prozess. Was ist davon zu halten? Kann er jetzt gut lachen, nachdem er durch Verjährung geschützt ist? Andererseits - seine Leute sind ja noch nicht aus dem Schneider. Und das sich die wohl loyal verhielten will er ihnen doch keinen Prozess wünschen?

Eigenartig.

Hier die Quelle: http://www.derwesten.de/staedte/duisburg/loveparade-veranstalter-schalle...

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Loveparade-Verfahren: Staatsanwaltschaft holt ein weiteres Sachverständigengutachten ein

Da sich das Landgericht Duisburg aus Rechtsgründen daran gehindert gesehen hat, selbst ein weiteres Sachverständigengutachten zur Klä-rung der Ursachen für die tragischen Geschehnisse bei der Loveparade 2010 im Zwischenverfahren einzuholen, beabsichtigt die Staatsanwaltschaft, vorsorglich einen weiteren Sachverständigen zu beauftragen. Dadurch wird sichergestellt, dass der Weg der notwendi-gen juristischen Aufarbeitung der Loveparade-Tragödie in einer öffentlichen Hauptverhandlung so schnell wie möglich beschritten werden kann.

Gespräche mit möglichen Gutachtern sind bereits abgeschlossen. Den Verfahrensbeteiligten wird derzeit Gelegenheit zur Stellungnahme hinsichtlich der Auswahl des Gutachters gegeben. Grund für die Beauftragung eines weiteren Gutachters ist die Ableh-nung des im Ermittlungsverfahren eingeholten Gutachtens des Sachverständigen Professor Dr. Still. Diese Kritik ist nach Auffassung der Staatsanwaltschaft zwar nicht berechtigt, sie ist aber ein zentraler Be-standteil der landgerichtlichen Entscheidung, die von der Staatsan-waltschaft mit der sofortigen Beschwerde angefochten worden ist.

Die Staatsanwaltschaft arbeitet weiterhin an der Begründung der so-fortigen Beschwerde, die zeitnah der Generalstaatsanwaltschaft in Düsseldorf zur Vorlage an den zuständigen Strafsenat des Oberlandesgerichts vorgelegt werden wird. Die Erteilung des Gutachtenauftrags steht nach Auffassung der Staatsanwaltschaft dem weiteren Fortgang des Beschwerdeverfahrens nicht entgegen, da bereits auf der Grundlage der zur Verfügung stehenden Beweismittel die Voraussetzungen für die Eröffnung des Hauptverfahrens gegeben sind.

Gerade zufällig entdeckt: Die Staatsanwaltschaft Duisburg gibt ein zusätzliches Sachverständigengutachten in Auftrag. Link:

http://www.lto.de/recht/nachrichten/n/staatsanwaltschaft-duisburg-lovepa...

Leider wird in dem LTO-Artikel weder erwähnt, wer der neue Gutachter sein soll, noch welche(n) Schwerpunkt(e) das Gutachten haben soll. Ich fürchte aber ein wenig, dass sich der frühere Fehler der Staatsanwaltschaft mit dem Still-Gutachten nochmals wiederholen könnte. Allein aus der Diskussion hier im Blog wurde und wird ja immer wieder deutlich, dass eigentlich mehrere, unterschiedliche Expertisen erforderlich wären (Veranstaltungsplanung, Verwaltungsabläufe, Polizeibefugnisse und Strategien)

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Die Stunde der Professoren

Zu der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Duisburg, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, erklärt Professor Dr. Thomas Feltes M.A.

„Ich halte dieses Vorgehen für sehr merkwürdig. Es bedeutet, dass die StA die Ermittlungen noch einmal aufnimmt, d.h. in die Beweisaufnahme (es ist das gleiche Aktenzeichen, d.h. kein neues Verfahre) einsteigt. Es handelt sich um ein m.E. einmaliges Vorgehen, dass nicht unerhebliche Kosten verursacht und auch nicht damit begründet werden kann, dass die StA der Auffassung ist, dass ihre Beschwerde Erfolg haben wird. Sie versucht vielmehr, die Fehler, die sie in der Vergangenheit offensichtlich gemacht hat, jetzt auszubügeln. Oder hat die StA einen Hinweis des OLG bekommen, dass man der Beschwerde stattgeben wird???“

Professor Dr. Thomas Feltes M.A.
Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft
Juristische Fakultät
Ruhr-Universität Bochum

Zu der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Duisburg, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, erklärt Rechtsanwalt Prof. Dr. Julius Reiter heute Folgendes:

„Wir begrüßen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft Duisburg, ein neues Gutachten in Auftrag zu geben. Die Staatsanwaltschaft schaut konsequent lösungsorientiert nach vorne und versucht damit zu vermeiden, dass weitere Zeit verloren geht für den Fall, dass das Oberlandesgericht den Beschluss des Landgerichts zur Verfahrenseinstellung aufhebt. Hierdurch wird im Übrigen eine weitere Aufklärung des Sachverhalts herbeigeführt, den die Opfer und Hinterbliebenen der Loveparade-Katastrophe dringend benötigen.

Es wäre bereits dem Landgericht möglich gewesen, ein zweites Gutachten einzuholen. Denn der Staatsanwaltschaft und der Generalstaatsanwaltschaft reichte das Gutachten von Prof. Still ja aus. Der Vorwurf des Landgerichts, das Gutachten sei wegen nicht eingehaltener deutscher Methodik nicht brauchbar, trifft im Übrigen Staatsanwälte und Richter gleichermaßen. Denn es ist ein Anleitungsfehler gegenüber dem Sachverständigen, wenn ihm durch Staatsanwälte und auch durch die Richter im Zwischenverfahren nicht erklärt wird, worauf es ihrer Meinung nach im deutschen Recht ankommt. Im Übrigen ist es in Zwischenverfahren durchaus üblich, dass Richter ein Ergänzungs- oder sogar ein neues Gutachten einholen.

Wir bleiben nach wie vor hoffnungsvoll, dass das Oberlandesgericht den rechtsfehlerhaften Beschluss des Landgerichts aufheben und an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverweisen wird.“

Baum Reiter & Collegen vertritt etwa 100 Opfer und Hinterbliebene der Loveparade-Katastrophe.

Wenn ein Lehrstuhlinhaber staatsanwaltschaftliche Ermittlungen mit Beweisaufnahme gleichsetzt, dann wundert mich das unterirdische Niveau vieler Urteilsbegründungen nicht mehr.

Quote:

Zu der Entscheidung der Staatsanwaltschaft Duisburg, ein weiteres Sachverständigengutachten einzuholen, erklärt Professor Dr. Thomas Feltes M.A.

„Ich halte dieses Vorgehen für sehr merkwürdig. Es bedeutet, dass die StA die Ermittlungen noch einmal aufnimmt, d.h. in die Beweisaufnahme (es ist das gleiche Aktenzeichen, d.h. kein neues Verfahre) einsteigt. Es handelt sich um ein m.E. einmaliges Vorgehen, dass nicht unerhebliche Kosten verursacht und auch nicht damit begründet werden kann, dass die StA der Auffassung ist, dass ihre Beschwerde Erfolg haben wird. Sie versucht vielmehr, die Fehler, die sie in der Vergangenheit offensichtlich gemacht hat, jetzt auszubügeln. Oder hat die StA einen Hinweis des OLG bekommen, dass man der Beschwerde stattgeben wird???“

Professor Dr. Thomas Feltes M.A.
Lehrstuhl für Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft
Juristische Fakultät
Ruhr-Universität Bochum

Bevor ich meine Meinung über einen strafprozessualen Sachverhalt in den Medien kundtue, sollte ich vlelleicht doch jemanden fragen, der sich damit auskennt...

Ich weiß ja nicht, was der Herr studiert hat, aber Jura scheint es nicht gewesen zu sein. Oder er hat die Strafprozessordnung bislang nur von außen betrachtet. Denn selbst wenn es so wäre, dass die StA irgendwelche "Fehler ausbügeln will", wäre das weder verboten noch abwegig. Denn mit der Ablehnung der Anklage ist weder Strafklageverbrauch eingetreten, noch ist die StA an weiteren Ermittlungen gehindert. Und verjährt ist an den angeklagten Vorwürfen auch nichts. Die StA hat nur die "Hoheit" über die konkrete Anklage aus der Hand gegeben. Sie kann jederzeit eine neue, nachgebesserte einreichen. Oder für die Beschwerdebegründung nachbessern, was offensichtlich gerade geschieht.

Zugegeben, das ist kein alltäglicher Vorgang, aber das Verfahren ist ja auch kein alltägliches. Um es verständlich zu machen: Alltäglich wäre etwa der durchaus vergleichbare Fall, dass die Staatsanwaltschaft einen Einbruchsdiebstahl anklagt, das Gericht die Eröffnung ablehnt, weil der Tatverdacht nicht ausreicht (warum soll gerade der Angeklagte der Täter sein?), und die StA dann mit der Beschwerde oder der neuen Anklage das den Tatnachweis erbringende DNA-Gutachten vorlegt, welches es bis dahin noch nicht gab. Ständige (und durchaus alltägliche) Praxis in der Justiz.

Kandidaten für ein Gutachten eines Sachverständigen gibt es jede Menge. Da ist Dirk Oberhagemann, der das ganze Geschehen selbst gefilmt und beobachtet hat und schon im November 2010 das klare Statement abgab, dass bei der Konzeption der Zuwege wie der Ausgestaltung des Geländes und der Floatstrecke es spätestens um 18.30 Uhr zum Kollaps hätte kommen müssen - entweder wären die Stadt oder der Veranstaltungsort übergelaufen¨.

http://www1.wdr.de/archiv/loveparade/loveparade586.html

Auch andere Sachverständige, wie der Sicherheitsforscher Rainer Könecke in der Loveparade Doku 100 Tage vom RTL II (mit Prof. HE Müller) hat sich so geäussert wie auch die Forscher der ETH Zürich Helbing/Mukerji. Und nicht vergessen die Einlassungen vom Brandexperten Schäfer, dessen Seminar auf dem Lothar Evers Blog vor Angestellten der Stadt Duisburg geschildert wird und auch in der Sendung Monitor von der ARD sich auch klar geäussert hat - wer sowas plant, hat sie nicht alle - Irrsinn.

Meine Frage an Prof. Müller - wie ist eigentlich rechtlich eine solche "Nacharbeit" der StA zu werten? Denn es ist doch anzunehmen, dass Schäfer wie Oberhagemann mit ihren Äusserungen doch sicher auch in den Zeugenaussagen enthalten sind? Kann das OLG solche Nacharbeit in Betracht ziehen? Materiell dürfte es doch eigentlich keine Einwände geben aber formell?

Hier für den Komfort allfälliger Neuleser die Quellen:

Die RTL II Sendung 100 Tage, mít Prof. Müller:

https://www.youtube.com/watch?v=104ckLsev84

Die Studie von Helbing/Mukerji (auf Englisch)

https://www.sg.ethz.ch/ethz_risk_center_wps/pdf/ETH-RC-12-010.pdf

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Naja, die StA macht jetzt endlich - Jahre später - das, worauf die Eltern der Getöteten einen Rechtsanspruch haben: Nämlich darauf, dass der Sachverhalt vollständig (mit dem Akzent auf vollständig) aufgeklärt wird. Auf die Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 (diese Entscheidung hatte also neulich ihren zweiten Geburtstag) habe ich schon ein paar Mal hingewiesen.   

Ich denke mir, die Duisburger Staatsanwälte haben dazu möglicherweise Ihre Ausführungen hier im Beck Blog gelesen und sind dem EEV somit zuvorgekommen.

Sehr geehrte Kommentatoren,

sorry, dass ich an der Diskussion für eine Weile nicht teilgenommen habe.

Zu einigen aufgekommenen Fragen will ich kurz Stellung nehmen.

1. Ist es überhaupt zulässig, dass die Staatsanwaltschaft jetzt ein neues Gutachten beauftragt?

Ja, das ist zulässig. Mit Anklageerhebung endet zwar meist die (aktive) Ermittlungsarbeit der Staatsanwaltschaft, doch ist sie selbstverständlich nicht ausgeschlossen oder gar unzulässig. § 211 StPO sieht für den Fall eines "nicht mehr anfechtbaren" Ablehnungsbeschlusses  vor, dass dann eine Klage nur noch bei neuen Tatsachen oder Beweismitteln ("nova") wieder aufgenommen werden kann. Um solche Nova zu finden, darf die Staatsanwaltschaft ermitteln; dies muss erst Recht gelten, wenn der Nichteröffnungsbeschluss noch anfechtbar ist bzw. von ihr angefochten wurde. Ich sehe keine Vorschrift, die das verbietet.

2. Ist es sinnvoll/zulässig Sachverständige zu beauftragen, die sich schon zur Loveparade geäußert haben?

Gegen solche Sachverständige spricht zwar m.E. formell kein zwingender Grund, doch sind in den Medien getätigte Äußerungen (nach oder gar vor der LoPa)  möglicherweise geeignet, bei Verfahrensbeteiligten Befangenheitsbesorgnis zu erregen. Deshalb gebietet die Klugheit, einen Sachverständigen zu beauftragen, der sich bislang noch nicht, jedenfalls nicht öffentlich geäußert hat.

3. Wie geht es weiter?

Möglicherweise wartet das OLG mit seiner Entscheidung über die Eröffnung, bis das neue Gutachten eingeht. Da dies aber sehr lange dauern kann, halte ich es für wahrscheinlicher, dass das OLG vorher entscheidet. Das wäre auch für die Staatsanwaltschaft besser, denn wenn das Beschlussgericht das Gutachten schon vor seiner (ablehnenden) Entscheidung kennt, dann wäre es kein "neues" Beweismittel nach § 211 StPO.

Ausgehend davon, dass das OLG ohne Kenntnis des neuen Gutachtens entscheidet: Wird aufgrund der ursprünglichen  Anklage eröffnet, könnte das neue Gutachten in das Hauptverfahren eingeführt werden. Wird nicht eröffnet, dann könnte es, falls es inhaltlich als neues Beweismittel zu beurteilen ist, Grundlage einer neuen Anklage der Staatsanwaltschaft werden (§ 211 StPO). Für beide Fälle war es also ein richtiger Schritt der Staatsanwaltschaft, durch Beauftragung eines neuen Gutachters vorzusorgen. Ob der Gutachter auch zu dem "gewünschten" Ergebnis kommt, ist allerdings nicht gesagt. Die These der Staatsanwaltschaft, die Katastrophe wäre auch ohne die Polizeiketten genauso eingetreten, lässt sich m.E. nicht belegen, weil dies den Tatsachen widerspricht. Die Anklage wird sich m.E. nur dann aufrechterhalten lassen, wenn auch die Kausalthese entspr. korrigiert wird.

Beste Grüße

Henning Ernst Müller

Grüß Gott Herr Prof. Müller,

es freut mich, von Ihnen zu hören, dass es, bei welchem prozessualen Szenario auch immer, die richtige Entscheidung der StA war, einen zweiten Gutachter zu bestellen.  Ist es richtig, dass nunmehr der Fokus des (technischen) Gutachtens auf der Genehmigungsfähigkeit der Veranstaltung nach der Sonderbau-Verordnung NRW liegen wird?

 

 

Sehr geehrte Diskutanten,

der neue Gutachter Dr. Gerlach hat sich ebenfalls schon ausführlich zur Loveparade geäussert.

Hier ein Vortrag von 2014

http://portal.tugraz.at/portal/page/portal/Files/i2090/files/VAktuell_Vo...
Auf 5 Seiten Präsentation, wird die Katastrophe erwähnt, man kann also davon ausgehen, dass dies im Vortrag etwa 15 Minuten Redezeit bedeutet.

Auch in der Presse hat er meines Erachtens schon Fragwürdiges von sich gegeben.

http://www.grenzecho.net/region/euregio/reinstroemende-besucher-im-fokus

http://www.rga.de/lokales/remscheid/strassen-muessen-fehler-verzeihen-50...

Abgesehen davon, dass die Äusserung, die meisten Katastrophen ereignen sich im Zulauf zu einer Veranstaltung bei detaillierter Betrachtung einfach falsch ist,
hat der Zulauf zur Loveparade ja schon um 12:00 Uhr begonnen.
Er wird erklären müssen, warum über drei einhalb Stunden keine Gefährdung eintrat, aber dann gegen 16:00- 17:00 plötzlich 21 Menschen zu Tode gekommen sind.

Die Annahme aus dem Remscheider Interview, dass schon einfache Lautsprecherdurchsagen die Katastrophe hätten verhindern können, zeugt von einer gewissen Naivität
den Ereignissen gegenüber.

Also so ganz unverbraucht ist auch Dr. Gerlach nicht, wenn er dann wirklich mit dem Gutachten betraut wird.

Sollte er wirklich über eine so ausgeprägte  Expertise verfügen, stellt sich doch als Erstes die Frage: Warum  er nicht schon 2010 einen Gutachterauftrag erhalten hat?
Er war schließlich laut Pressemitteilung bereits in 2010 im BASIGO Projekt aktiv.

https://idw-online.de/de/news381458

Also durchaus bekannt.

Dummerweise stellt sich über das BASIGO Projekt auch eine Verbindung zu einer der Mitarbeiterinnen von Herrn Dr. Still her.
Frau Funk und Dr. Gerlach sind sich zumindest persönlich bekannt und es ist davon auszugehen, dass im Rahmen des BASIGO Projektes auch über die Loveparade Meinungen ausgetauscht worden sind.

Um diese Informationen zusammenzustellen habe ich etwa zehn Minuten im Netz recherchiert.
Ich denke, wenn man gründlicher ist, findet man wesentlich mehr Details, die eine Gutachtertätigkeit in diesem Fall angreifbar machen können.

Der erste Fachmann Dr .Seyfried, der sich disqualifizierend zu Dr. Still geäussert hat, ist im Übrigen unter Anderem an der selben Universität wie Dr. Gerlach tätig.

http://www.sueddeutsche.de/panorama/katastrophe-in-duisburg-zweifel-an-z...

Damit ist irgendwie schon vorgezeichnet, dass die Staatsanwaltschaft Gefahr läuft ein Eigentor zu schiessen.

Aber auf jedenfall wird wieder ordentlich die Pressetrommel gerührt, es werden die entsprechenden Honorare verteilt und am Ende wird man genauso klug sein wie vorher.

Frage an die Jurist 24.07.2020 tritt die absolute Verjährung ein?
Sollte das so sein, hat man ja noch dreieinhalb Jahre Zeit.

Spätestens dann werden die Angehörigen wissen, dass sie sowohl von ihren Anwälten als auch von der NRW Justiz verarscht worden sind.

Ehre wem Ehre gebührt.
Check...

 

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Am Ende Ihres Kommentars machen Sie eine Bemerkung zu den "Anwälten der Angehörigen". Ich frage mich in der Tat, warum die Anwälte der Angehörigen nicht schon viel früher das juristisch entscheidende Argument angeführt haben: Das Argument nämlich, dass die Angehörigen auf der Grundlage der Tennessee Eisenberg-Entscheidung des BVerfG vom 26.6.2014 einen richtiggehenden Rechtsanspruch auf ernsthafte und vollständige Ausermittlung des strafrechtlich relevanten Sachverhalts durch die Staatsanwaltschaft haben. In den aktuellen Pressemitteilungen der Anwälte der Angehörigen findet sich nach wie vor noch nicht einmal ein Hinweis auf die Tennessee Eisenberg-Entscheidung.  

Noch ein Kommentar zu den "Anwälten der Angehörigen": Was den Zivilprozess betrifft, führt die Ungeduld, nicht das Ergebnis des zweiten Gutachtens abgewartet zu haben, m.E. geradewegs in eine Haftung auf Erstattung der sinnlos aufgewendeten Kosten des Zivilprozesses. Denn das Führen eines von Anfang an aussichtslosen Zivilprozesses führt zu einer Haftung des Anwalts gegenüber seinem Mandanten auf Erstattung der von dem Mandanten aufgewendeten Kosten des Zivilprozesses. Ein solcher Fall liegt hier m.E. vor. Es besteht für das Zivilgericht m.E. auch keinerlei Veranlassung, den Zivilprozess bis zum Vorliegen des zweiten Gutachtens im Ermittlungsverfahren auszusetzen. Das würde gegen den Grundsatz der Waffengleichheit verstoßen.    

Es ist, sechs Jahre nach der Loveparade, sicherlich schwierig noch Experten zu finden, die sich noch nicht zu diesem Thema öffentlich geäußert haben.

Allerdings gibt es ja erhebliche Unterschiede sowohl in der Qualität als auch in der Neutralität der Äußerungen.

Vereinfachende Erklärungen á la Dr. Gerlachs "Eine Lautsprecherdurchsage hätten das Unglück verhindern können" auf der einen Seite (Dank an den Foristen Checker für den Link) sind sicherlich nicht hilfreich. Dies erinnert dann doch etwas an Stills Aussage vom Missachten "einfachster Mathematik".

In ganz anderem Umfang ausgewogen und m.E. neutral dagegen Helbing D./Mukerji P. http://epjdatascience.springeropen.com/articles/10.1140/epjds7

 

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Sehr geehrter Herr Oehlmann,

die Studie von Helbing/Mukerij habe ich auch unter meinem Beitrag verlinkt (auch schon bei den früheren Beiträgen); sie ist auch nach meinem Empfinden die beste Studie zu den Ursachen der LoPa-Katastrophe, insbesondere weil sie gerade nicht einzelne Ursachen als "absolut" verantwortlich ansieht und  andere völlig ausschließt. 

Bei einem neuen Gutachten wird es v.a. darauf ankommen, dass die richtigen Fragen an den (dafür auch kompetenten) Gutachter gestellt werden. Hier lag m.E. der Hauptfehler der Staatsanwaltschaft bei Beauftragung von Still. Offenbar war man bestrebt die Polizei als Verursacher aus dem Spiel zu lassen.

Einige der zu stellenden Fragen ergeben sich ja aus der Begründung des Nichteröffnungsbeschlusses.

Mit besten Grüßen

Henning Ernst Müller

 

Inzwischen dürfte es aber nach 6 Jahren unmöglich sein, jemanden mit Fachkompetenz bezüglich Veranstaltungsplanung zu finden, der sich noch nicht zur Loveparade geäußert hat. Insbesondere Lehrstuhlinhaber in diesem Bereich müssen dieses Unglück bereits behandelt haben.

Der gesamte Bereich Veranstaltungssicherheit an Hochschulen ist von der Personenzahl überschaubar. Es ist daher unausweichlich, dass sich fast alle Beteiligten gegenseitig kennen und dass durch völlig normalen akademischen Austausch personelle Querverbindungen existieren. Die Wahl von Prof. Still fand ich daher gerade unter diesen Gesichtspunkten nicht schlecht.

 

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Der Rechtsanspruch auf effektive Strafverfolgung - der auch im Fall der Loveparade die entscheidende Bedeutung für sich beansprucht - hat sich indessen in der Kommentarliteratur weiter herumgesprochen. Als weiteres Beispiel habe ich gefunden: Helge Sodan, Kommentar zum Grundgesetz, 3. Auflage 2015, Rdnrn. 23a und 34a zu Art. 2 GG.

Wenn man die verfassungsrechtliche Brille aufsetzt, kann man nicht vernünftig erklären, worin der praktisch verwertbare Unterschied zwischen einem Rechtsanspruch auf Strafverfolgung Dritter und einem Reflexrecht liegen soll. Wenn man die Kontroverse,  dass im Regelfall nur ein Reflexrecht, dagegen im Ausnahmefall ein Rechtsanspruch vorliegt, in einem Grundgesetz-Kommentar im Rahmen einer Kommentierung des Art. 2 GG abhandelt, wird nicht klar, wozu die Unterscheidung gut sein soll.   

Einen Sinn gewinnt die Unterscheidung erst dann, wenn man die verfassungsrechtliche Brille absetzt und die strafprozessuale Brille aufsetzt. Genauer: Bei der Anzeigeerstattung und im Beschwerdeverfahren vor der GenStA ergeben sich immer noch nicht wirklich Unterschiede zwischen dem Reflexrecht und dem Rechtsanspruch. Erst im Verfahren nach den §§ 172 ff StPO - sei es in der Spielart des Klageerzwingungsverfahrens, sei es in der Spielart des Ermittlungserzwingungsverfahrens - wird der Unterschied zwischen Reflexrecht und Rechtsanspruch klar. Nimmt man ein Reflexrecht an, bleibt der Verletzte weiterhin lästiger Bittsteller, nimmt man aber einen Rechtsanspruch an, hat der Verletzte vollwertige prozesuale Rechte, v.a. das aus Art. 103 I GG folgende Recht, vor Erlass einer Entscheidung richterliche Hinweise zu erhalten.   

Erst die Option eines nachfolgenden Verfahrens nach den §§ 172 ff StPO zwingt die StA Duisburg dazu, im Fall der Loveparade die Ermittlungen durch die Einholung des zweiten SV-Gutachtens zu vervollständigen. Genau so kommt es jetzt - richtigerweise. 

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