Mal wieder der Klassiker: § 64 StGB nicht richtig geprüft!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 12.04.2017
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|6567 Aufrufe

§ 64 StGB ist schon sehr früh zu prüfen. Hat der Angeklagte nur irgendwie anklingen lassen Alkohol oder Drogen regelmäßig zur Zeit der Tat und seit längerer Zeit vorher konsumiert zu haben, so muss der Tatrichter wachsam werden und § 64 StGB verschärft in den Blick nehmen:

Die Nichtanordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß
§ 64 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Dies führt zur Aufhebung
des gesamten Rechtsfolgenausspruchs.

1. Der vom Landgericht beauftragte Sachverständige hat bei dem Angeklagten
– auch tatzeitbezogen – ein Abhängigkeitssyndrom von synthetischen
Cannabinoiden sowie ein missbräuchliches Konsumverhalten an der Grenze
zur Abhängigkeit von Cannabis
diagnostiziert (UA S. 36, 85). Insbesondere habe
der Angeklagte trotz Wissens um die negativen Auswirkungen dieses Betäubungsmittelkonsums
auf seine psychische Verfassung den Konsum fortgesetzt
und ein körperliches Entzugssymptom bei Beendigung des Konsums entwickelt.
Bei ihm sei eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns,
der Beendigung und der Menge des Konsums festzustellen. Anfang Dezember
2015 sei es nach dem Konsum einer Kräutermischung auch zur Bewusstlosigkeit
des Angeklagten gekommen, was zu einer stationären Behandlung geführt
habe (UA S. 12). Im Ergebnis spreche dies – gerade unter Berücksichtigung
dieses letzten Vorfalls – dafür, dass bei dem Angeklagten bereits eine tief verwurzelte
innere Disposition vorliege, synthetische Cannabinoide im Übermaß
zu konsumieren (UA S. 85).
Gleichwohl geht das Landgericht im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen
einer Unterbringung nach § 64 StGB davon aus, dass bei dem Angeklagten
„ein Hang nicht sicher festzustellen ist“ (UA S. 87). Dies wird damit
begründet, dass sich bei dem Angeklagten erhebliche psychosoziale Leistungseinbußen
infolge des Konsums synthetischer Drogen nicht feststellen lie-
ßen und es auch am Arbeitsplatz weder zu Fehlzeiten noch zu irgendwelchen
Beanstandungen seiner Leistungen gekommen sei. Auch im sozialen Bereich
seien im maßgeblichen Zeitraum keine Defizite erkennbar gewesen (UA S. 88).

2. Diese Ausführungen lassen besorgen, dass das Landgericht – wie der
Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat – rechtsfehlerhaft von einem
zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.

Sie enthalten keine umfassende und widerspruchsfreie Gesamtabwägung aller
Umstände des Einzelfalls bei der Entscheidung über die Maßregel.
a) Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs
eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder
durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu
konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit
erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln
im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf
Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint

(vgl. BGH, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 1 StR 415/15; Urteile
vom 10. November 2004 – 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210 und vom 15. Mai
2014 – 3 StR 386/13, NStZ-RR 2014, 271). Insoweit kann dem Umstand, dass
durch den Rauschmittelkonsum bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit
des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung
für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. BGH, Beschlüsse vom
1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198 und vom 14. Dezember 2005
1 StR 420/05, NStZ-RR 2006, 103). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in
der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden,
schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hanges
aus (BGH, Beschlüsse vom 1. April 2008 – 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008,
198 und vom 2. April 2015 – 3 StR 103/15).

b) Diesem Maßstab genügen die Ausführungen des Landgerichts nicht.
Auch wenn das Landgericht noch zutreffend davon ausgegangen ist, dass die
Feststellung eines Hanges nach § 64 StGB das Kriterium des Kontrollverlustes
nicht voraussetzt
(UA S. 87), hätte es sich im Folgenden nicht einseitig damit
begnügen dürfen, die Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten zu erörtern.
Vielmehr wäre eine nähere Auseinandersetzung mit der vom Sachverständigen
diagnostizierten Abhängigkeitserkrankung des Angeklagten erforderlich
gewesen. Dies umso mehr als sich durch den festgestellten Vorfall Anfang
Dezember 2015 – und damit wenige Wochen vor der verfahrensgegenständlichen
Tat – mit einem stationären Krankenhausaufenthalt nach dem Konsum
einer Kräutermischung und der eingetretenen Bewusstlosigkeit durchaus Anhaltspunkte
dafür ergeben haben, dass der Konsum synthetischer Cannabinoide
bereits erhebliche negative Auswirkungen auf die Lebensgestaltung des Angeklagten
hat.

3. Den bisher getroffenen Feststellungen ist auch nicht zu entnehmen,
dass die übrigen Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel nicht vorliegen.

a) Dies gilt insbesondere für den für eine Unterbringung nach § 64 StGB
erforderlichen symptomatischen Zusammenhang zwischen Hang und Taten.
Dieser ist anzunehmen, wenn der Hang allein oder zusammen mit anderen
Umständen dazu beigetragen hat, dass der Täter eine erhebliche rechtswidrige
Tat begangen hat und dies bei unverändertem Verhalten auch für die Zukunft
zu erwarten ist (BGH, Beschlüsse vom 25. November 2015 – 1 StR 379/15,
NStZ-RR 2016, 113; vom 6. November 2013 – 5 StR 432/13 und vom 25. Mai
2011 – 4 StR 27/11, NStZ-RR 2011, 309), mithin die konkrete Tat in dem Hang
ihre Wurzel findet (vgl. BGH, Beschluss vom 28. August 2013 – 4 StR 277/13,
NStZ-RR 2014, 75). Dieser Zusammenhang liegt bei Delikten, die begangen
werden, um Rauschmittel selbst oder Geld für ihre Beschaffung zu erlangen,
nahe (BGH, Urteil vom 18. Februar 1997 – 1 StR 693/96, BGHR StGB § 64
Abs. 1 Rausch 1; Beschluss vom 28. August 2013 – 4 StR 277/13, NStZ-RR
2014, 75). Das Landgericht hat eine Mitursächlichkeit der Abhängigkeit des Angeklagten
für die verfahrensgegenständliche Tat selbst nicht ausgeschlossen
(UA S. 88) und ist bei dem Angeklagten auch von einer „gewissen Enthemmung“
auf Grund leichter Intoxikation zur Tatzeit (UA S. 86) ausgegangen. Weiter
hat es die Feststellung getroffen, dass die Tat auf Grund von Betäubungsmittelabhängigkeit
begangen wurde (UA S. 67).

b) Einer Anordnung der Unterbringung steht auch nicht entgegen, dass
der Angeklagte – wie vom Landgericht im Rahmen der Strafzumessung erörtert
– von der Möglichkeit einer Zurückstellung nach § 35 BtMG Gebrauch machen
kann und das Landgericht bereits in Aussicht gestellt hat, einem solchen
Antrag stattzugeben (UA S. 68). Das begegnet schon deswegen Bedenken, da
dies die Annahme einer Betäubungsmittelabhängigkeit voraussetzt und lässt
besorgen, dass das Landgericht verkannt hat, dass die Unterbringung nach
§ 64 StGB der Zurückstellung der Strafvollstreckung vorgeht (st. Rspr.; vgl. etwa
BGH, Beschlüsse vom 5. April 2016 – 3 StR 554/15, NStZ-RR 2016, 209
und vom 11. Juli 2013 – 3 StR 193/13 mwN); ein „Wahlrecht“ des Angeklagten
besteht insoweit nicht.

BGH, Beschluss vom 26.1.2017 - 1 StR 646/16 

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