Kein Geld für die Cybervisite – telemedizinische Sondenentwöhnung nicht erstattungsfähig

von Dr. Michaela Hermes, LL.M., veröffentlicht am 08.09.2017
Rechtsgebiete: Weitere ThemenMedizinrecht|2705 Aufrufe

Eine neuartige Videotherapie zur Sondenentwöhnung eines einjährigen Kleinkindes muss nicht von der Krankenkasse bezahlt werden. Nur wenn die telemedizinische Behandlungsmethode im GKV-Leistungskatalog gelistet sei, muss die Kasse zahlen. Das gilt auch dann, wenn das Teleangebot wesentlich billiger ist als die übliche stationäre Behandlung. Das entschied das Sozialgericht Berlin, Urteil vom 11.07.2017 – S 81 KR 719/17, BeckRS 2017, 123331, beck-online. Das Urteil ist rechtskräftig. 

Der Fall

Das in der gesetzlichen Krankenversicherung familienversicherte Kind wurde mit einer Fehlbildung der Speiseröhre geboren. Mehrere operative Eingriffe waren nötig, um die Fehlbildung zu beheben. Während dieser Zeit wurde das Kind über eine orale Magensonde ernährt. Nach der erfolgreichen Behandlung schlug die Umstellung auf die normale Nahrungsaufnahme zunächst fehl. Der Junge reagierte mit Würgereiz und Erbrechen. Eine Therapie zur allmählichen Sondenentwöhnung war notwendig geworden. Die Eltern wollten ihr Kind im häuslichen Umfeld belassen und entschieden sich gegen eine stationäre Behandlung. Sie führten das von der Universität Graz entwickelte Sonden-Entwöhnungsprogramm, ein sogenanntes „Netcoaching“ durch. Anbieter war eine in Österreich ansässige GmbH.

Wie funktioniert das "Netcoaching"?

Das Coaching läuft über eine Online-Plattform. Die Eltern können von zu Hause aus ein Team aus Ärzten und Therapeuten Rund-um-die-Uhr erreichen. Sie können mit den Therapeuten kommunizieren, Ernährungsprotokolle und Videos hochladen. Das Coaching beinhaltet u.a. die Videoanalyen, zwei Online-Visiten täglich, Beratung via E-Mail sowie eine psychologische Begleitung der Eltern. Das Gesamtpacket kostete 4240 Euro plus 120 Euro für die Vordiagnostik.  

Die Entscheidung

Die beklagte Krankenkasse lehnte eine Übernahme der Kosten ab. Denn der Gemeinsame Bundesausschuss habe diese Behandlungsmethode noch nicht anerkannt.  Das Sozialgericht bestätigte die Auffassung der Kasse und wies die Klage auf Übernahme der Behandlungskosten ab. Für die Erstattung durch die Krankenkasse reiche es nicht, dass der Arzt eine neuartige Therapie befürworte, diese erfolgreich sei oder sogar kostengünstiger. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden  müßten positiv empfohlen werden (§ 135 Abs. 1 Satz 1 SGB V). Eine Empfehlung liege hier nicht vor. Zumal das Telemedizinische Sondenentwöhnungs-Programm auch mit Risiken verbunden sei, gaben die Sozialrichter zu bedenken. Die Ärzte und Therapeuten könnten den Patienten nicht selbst persönlich untersuchen und seien auf die Angaben Dritter, hier der Eltern, angewiesen.  Bei möglicherweise auftretenden Komplikationen sei ein sofortiges ärztliches Einschreiten nicht möglich.  

Praxishinweise

Bisher hat der Gemeinsame Bundesausschuss nur die Überwachung von Patienten mit einem Defibrillator oder CRT-System mit einer Gebührenposition versehen. Seit April 2017 gibt es auch eine eigene Abrechnungspositionen für die Videosprechstunde (vgl. Ziff. 01439 EBM-Ä und Anlage 31b zum BMV-Ä sowie § 291g Abs. 4 SGB V). Siehe dazu den Blog Beitrag vom 26.01.2017. Doch, so sagte das Sozialgericht, passe das sehr innovative Behandlungskonzept der Sondenentwöhnung nicht zu den für die Video-Sprechstunde abschließend aufgeführten Indikationsgruppen.

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