Recht vs. gesellschaftliche Akzeptanz – zum Urteil des EuGH in der Rs. C-111/16 vom 13.09.2017

von Prof. Dr. Jose Martinez, veröffentlicht am 13.09.2017

Der europäische Binnenmarkt ist in den letzten Jahren durch eine zunehmende Divergenz mitgliedstaatlicher, europäischer und gesellschaftlicher Interessen geprägt. Die Ursachen hierfür sind vielschichtig: Sie reichen von Unterschieden zwischen den Wirtschaftsstrukturen der Mitgliedstaaten, die einen gemeinsamen wirtschaftspolitischen Konsens erschweren, bis hin zu einer sich verstärkenden Skepsis in den Gesellschaften der Mitgliedstaaten gegenüber den Bemühungen europäischer Institutionen, technische Entwicklungen einheitlich in der EU voranzutreiben. Ein besonders deutliches Beispiel ist der Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen (GVO) . Hier hat die EU zwar im Jahre 1998 und 2001 mit der Freisetzungsrichtlinie in der herkömmlichen Weise die Zulassung des Anbaus von GVO harmonisiert. Doch diese Regelung haben die Mitgliedstaaten seitdem fast durchweg nur noch mangelhaft  angewandt. Hier ist der Integrationsprozess in der Praxis zum Stillstand gekommen. Die Gründe liegen in der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz dieses spezifischen Integrationsschrittes. So lehnen 70 Prozent der EU-Bürger gentechnisch veränderte Pflanzen ab und 54 Prozent halten sie gar für gefährlich.

Ein derartiger Fall lag dem vorliegenden Urteil zugrunde. Im Jahr 19981 ließ die Kommission das Inverkehrbringen von genetisch verändertem MON-810- Mais zu. In ihrer Entscheidung bezog sie sich auf eine Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses „Pflanzen“, wonach es keinen Grund zu der Annahme gebe, dass dieses Erzeugnis eine Gefahr für Mensch oder Umwelt darstelle. Im Jahr 2013 verlangte die italienische Regierung von der Kommission, den Anbau von MON-810- Mais durch Sofortmaßnahmen zu verbieten und begründete dies mit neuen wissenschaftlichen Studien italienischer Forschungseinrichtungen. Die Kommission kam auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Gutachtens der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) zu dem Ergebnis, dass es keine neuen wissenschaftlichen Beweise gebe, die die verlangten Sofortmaßnahmen rechtfertigen und ihre früheren Schlussfolgerungen zur Unbedenklichkeit von MON-810-Mais in Frage stellen könnten. Dennoch erließ die italienische Regierung im Jahr 2013 ein Dekret zum Verbot des Anbaus von MON-810-Mais in Italien. Gegen die Landwirte, die weiterhin diesen Mais anbauten und damit gegen das italienische Dekret verstießen, wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Das italienische Gericht legte dem EuGH die Frage nach der Europarechtskonformität der italienischen Regelung vor.

Italien hat sich im Verfahren – wie auch in einem vergleichbaren Urteil zuvor das BVerfG auf das Vorsorgeprinzip berufen und folgt damit der Argumentationslinie, die bereits dem Urteil des BVerfG zum GenTG zugrundelag (BVerfG, 24.11.2010, 1 BvF 2/05, Rz. 141), allerdings ergänzt noch um den Aspekt der Schutzpflicht des Staates, der jedoch im EU-Recht noch unterentwickelt ist.

Der EuGH folgt dieser Linie nicht und setzt vielmehr seine traditionelle Harmonisierungsrechtsprechung fort. Die Prognoseentscheidung, ob ein genetisch verändertes Erzeugnis wahrscheinlich ein ernstes Risiko für die Gesundheit von Mensch oder Tier oder die Umwelt darstellt, steht zunächst ausschließlich den in den Richtlinien vorgesehenen europäischen wissenschaftlichen Einrichtungen, allen voran der r Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA)zu.  Nur wenn der Mitgliedstaat die Kommission offiziell von der Notwendigkeit in Kenntnis gesetzt hat, Sofortmaßnahmen zu ergreifen, und die Kommission nicht gehandelt hat, darf er im Sinne einer Notkompetenz solche Maßnahmen auf nationaler Ebene ergreifen. Ein einseitiges mitgliedstaatliches Vorgehen würde dieses europäische Verfahren unterhöhlen und dem Geist der Harmonisierung widersprechen.

Der EuGH hat juristisch-dogmatisch gründlich gearbeitet und eine konsistente Entscheidung getroffen, die in einer Linie mit seiner bisherigen Funktion als Motor und Bewahrer der Integration steht. Diese Entscheidung verkennt jedoch die Grenzen des Rechts. Das Recht als Sozialordnung benötigt die Akzeptanz der mitgliedstaatlichen Gesellschaften. Die Akzeptanz muss und wird auch in der Regel nicht umfassend sein und wird auch oft erhebliche Widerstände überwinden müssen. Hierfür gibt es zahllose Beispiele aus dem EU-Rechts, in denen überstimmte einzelne Mitgliedstaaten durch Urteile des EuGH zur Umsetzung des EU-Rechts gezwungen worden sind. Diesen Widerstand zu überwinden, ist die Aufgabe einer rechtstaatlichen EU mit den ihr zur Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen.  Die Grenze erreicht das EU-Recht jedoch, wenn die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung und der Mitgliedstaaten eine Regelung bzw. Urteil nicht akzeptiert. Dieses Urteil wird in den Mitgliedstaaten nicht umgesetzt werden, was im Ergebnis der Autorität des EuGH schadet. Hier ist von der Richtern zu fordern, dass sie mit der  erforderlichen Empathie gesellschaftliche Entwicklungen erkennen und diese berücksichtigen. Ein Beispiel für eine derartige Rechtsprechung findet sich beim EGMR, der im Lichte einer stark zurückgehenden Akzeptanz seiner Urteile die Integrationsgeschwindigkeit gesenkt hat. Parallel hierzu hätte der EuGH gestärkt aus dem Verfahren hervorgehen können, wenn er nicht schulmäßig den Fall entschieden hätte, sondern mit Hinweis auf die besondere Ausnahmesituation den Staaten einen gangbaren Ausweg aus dem Dilemma zwischen europarechtlicher Verpflichtung und innerstaatlichen Umsetzungshindernissen eröffnet hätte.

Das Urteil des EuGH C-111/16 vom 13.09.2017 im Volltext

Eine ausführlichere Besprechung des Urteils in der Zeitschrift AuR 2017, Heft 10.

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