Der Fehlschluss vom postulierten Ignoranten

von Peter Winslow, veröffentlicht am 15.11.2017

Im Bereich der juristischen Fachübersetzung hört man ab und an eine Argumentation, die ungefähr wie folgt lautet: Kein Rechtssystem gleiche dem anderen und eine wörtliche Übersetzung eines juristischen Fachbegriffs sei daher im Einzelfall erforderlich. Diese Übersetzung solle dann zu einem »Vorteil« führen – nämlich, »dass der Leser gerade hierdurch darauf gestoßen wird, dass der Text aus einem anderen Rechtssystem stammt«.* Die Argumentation scheint stichhaltig. Man geht von einem Gemeinplatz aus und schließt einzelfallbedingt von ihm auf eine Vorgehensweise. So far so good. Or is it?

Wer in dem Stoß darauf, dass »der Text aus einem anderen Rechtssystem stammt«, einen Vorteil sieht, will uns von einer Konstellation überzeugen, der man bei näherer Betrachtung nicht folgen kann. … »The trouble is«, wie es einmal von einem Philosophen formuliert wurde, »it is hard to improve intelligibility while retaining the excitement«.

Die Konstellation, die man sich bei dieser Argumentation vorstellen sollte, besteht wohl aus zwei Teilen. Der eine Teil besteht aus Übersetzern und Übersetzerinnen, die im Bereich der juristischen Fachübersetzung tätig und sich jederzeit bewusst sind, dass kein Rechtssystem dem anderen gleicht. Der andere Teil besteht aus Lesern und Leserinnen juristischer Fachübersetzungen, die sich nicht jederzeit bewusst sind, dass kein Rechtssystem dem anderen gleicht. Einzelfallbedingt, so geht aus der Argumentation hervor, benötigen diese einen Stoß zur Erinnerung oder gar Kenntnisgewinnung, dass »der [der Übersetzung zugrunde liegende] Text aus einem anderen Rechtssystem stammt« als dem Rechtssystem, in dem die Übersetzung gebraucht wird. Dieser Stoß solle dann durch wörtliche Übersetzungen erfolgen.

Folglich setzt eine wörtliche Übersetzung nach dieser Argumentation das Postulat eines (zeitweisen?) Unwissenden voraus, das gleichzeitig die Rechtfertigung für diese einen Stoß gebende Übersetzung darstellt. … Man schließt also nicht von einem Gemeinplatz, sondern von einem postulierten Unwissenden auf eine Vorgehensweise. Der Stoß ist somit nicht vorteil-, sondern fehlerhaft.

Wer so argumentiert und aufgrund dieser Argumentation Stöße verteilt, begeht einen Fehlschluss, den ich gerne den Fehlschluss vom postulierten Ignoranten (zu Englisch: the postulated ignoramus fallacy) nennen möchte. Der Bestimmung der Vorgehensweise liegt nicht etwa eine sachliche Beweisführung zugrunde, sondern ein der Person des Lesers nur vermeintlich fehlender Wissensstand. Damit wird aber dem postulierten Ignoranten nicht geholfen. … Denn es gibt ihn nicht. Ohne Beweis – und es ist meinem Wissen nach bisher noch keiner erbracht worden – darf dieses Postulat nicht aufgestellt werden. Schließlich liegt die Beweislast für jedes Postulat beim Postulierenden, auch im Bereich der juristischen Fachübersetzung.

* Diese Argumentation im Allgemeinen und die zitierten Worte im Besonderen entstammen Seite 21 des Buchs von Herrn Ulrich Daum mit dem Titel Gerichts- und Behördenterminologie: Eine gedrängte Darstellung des Gerichtswesens und des Verwaltungsverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland (Auflage 2013). Ich weiß nicht, ob Herr Daum diese Argumentation noch heute vertritt; es gibt weitere Auflagen seines Buchs. Ob er sie noch heute vertritt, ist aber auch unwichtig. Wichtig ist nur, dass er diese Argumentation sowohl im Jahr 2013 vertreten als auch ziemlich klar formuliert hat und dass man diese (oder mindestens eine wesentlich ähnliche) Argumentation heute noch zu hören bekommt.

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