Pflichtverteidiger bei Betreuung: Geht natürlich auch in Verkehrsstraf- und OWi-Sachen

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 04.12.2017
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|4061 Aufrufe

Zwar lässt die nachfolgend dargestellte LG-Entscheidung nicht erkennen, was genau der Tatvorwurf war, doch macht sie nochmals deutlich, dass gerade bei Betreuten eine Pflichtverteidigerbestellung stattfinden kann. Natürlich nicht immer. Es kommt vielmehr auf den konkreten Zustand des Betroffenen an. Hier kann also auch in einfachen Verkehrsstrafverfahren und auch in OWi-Verfahren aus Verteidigersicht ein Antrag auf Beiordnung als Pflichtverteidiger Sinn machen:

1. Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Amtsgerichts Torgau vom 15.08.2017 abgeändert und Rechtsanwalt A. dem Angeklagten als Verteidiger beigeordnet.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens sowie die dem Angeklagten erwachsenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.

Gründe:
I.
Dem Angeklagten, der für die Bereiche Gesundheits- und Vermögenssorge, Aufenthaltsbestimmung (einschl. Unterbringung), Wohnungsangelegenheiten sowie die Vertretung vor Ämtern und Behörden unter Betreuung steht und für Vertragsabschlüsse einem Einwilligungsvorbehalt unterliegt, wird mit dem ihm am 20.07.2017 zugestellten Strafbefehl des AG Torgau vom 18.07.2017 eine am 25.03.2017 begangene gefährliche Körperverletzung zur Last gelegt. Hiergegen ließ der Angeklagte durch seinen Verteidiger Einspruch einlegen und beantragte zugleich die Bestellung eines Pflichtverteidigers. Er sei aufgrund der eingerichteten Betreuung nicht in der Lage sich selbst zu verteidigen. Als Nachweis ließ der Angeklagte den Betreuerausweis aus 2012 vorlegen. Die Voraussetzungen des § 140 Abs. 2 StPO lägen damit vor.

Nach Beiziehung der Betreuungsakte lehnte das AG mit Beschluss vom 18.07.2017 den Antrag ab, weil kein Fall notwendiger Verteidigung vorliege. Die hiergegen gerichtete Beschwerde macht geltend, dass die für den Angeklagten angeordnete Betreuung schon lange bestehe und umfangreich sei. Auch zeige sich anhand der Zeugenaussagen, dass der Angeklagte zur Tatzeit stark angetrunken gewesen und „ausgerastet" sei, so dass eine (jedenfalls) verminderte Schuldfähigkeit in Erwägung zu ziehen sei. Dies rechtfertige die Beiordnung.

Das AG hat der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Landgericht Leipzig zur Entscheidung vorgelegt. Die StA beantragt mit ihrer Stellungnahme vom 07.09.2017 die kostenpflichtige Verwerfung der Beschwerde als unbegründet.

II.
Die nach § 304 Abs. 1 StPO zulässige Beschwerde des Angeklagten ist begründet, weil die Voraussetzungen für die Beiordnung eines (Pflicht-)Verteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO im hier gegebenen Einzelfall vorliegen und daher dem dahingehenden Antrag des Angeklagten stattzugeben ist.

1. Zwar sind die Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung gemäß § 140 Abs. 1 StPO ersichtlich nicht gegeben, was auch die Beschwerde nicht in Abrede stellt.

2. Es liegt aber ein Fall der notwendigen Verteidigung nach § 140 Abs. 2 StPO vor. Danach hat eine Pflichtverteidigerbestellung auch dann nach pflichtgemäßen Ermessen zu erfolgen, wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte nicht selbst hinreichend verteidigen kann.

Es kann letztlich dahinstehen, ob schon die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage hier eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO gebietet, weil sich der Angeklagte - auch unter Berücksichtigung des Grundsatzes des fairen Verfahrens - nach Aktenlage jedenfalls nicht selbst hinreichend wird verteidigen können.

Zwar genügt - wie das AG im Grundsatz richtig annimmt - die bloße Betreuerbestellung nicht, um allein deswegen eine Verteidigerbestellung auszusprechen. Auch spielt es letztlich keine entscheidende Rolle, ob - wie die Beschwerde geltend macht - der Angeklagte die vorgeworfene Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit oder zumindest der verminderten Schuldfähigkeit begangen hat. Denn dies ist nicht entscheidend für die hier allein zu beantwortende Frage der Fähigkeit, sich nunmehr im Verfahren selbst verteidigen zu können.

Gemäß § 140 Abs. 2 StPO liegt aber dann ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn der Angeklagte aufgrund seiner geistigen Fähigkeiten oder seines Gesundheitszustands in seiner Verteidigungsfähigkeit eingeschränkt ist. Diese Voraussetzungen liegen vor. Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Angeklagte unter Betreuung steht (OLG Naumburg FamRZ 2017, 757 f.; OLG Hamm NJW 2003, 3286). § 140 Abs. 2 ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen (vgl. Meyer-Goßner / Schmitt, StPO, 59. Aufl. 2016, § 140 Rn. 30 m. w. N.). Schon das in dem Betreuungsverfahren von Dipl.-Med. S. am 16.10.1997 erstattete Gutachten diagnostiziert bei dem Angeklagten ein niedriges intellektuelles Niveau bei deutlich eingeschränkter Kritik- und Urteilsfähigkeit sowie eine bei Alkoholeinwirkung ganz besonders herabgesetzte Frustrationstoleranz und Persönlichkeitsveränderung (Verhaltens- und Anpassungsstörung) aufgrund derer er seine Angelegenheiten nicht mehr selbständig adäquat regeln könne. Es empfiehlt eine Betreuung u. a. im auch jetzt angeordneten Umfang. Eine solche wurde durch das Betreuungsgericht - gestützt auf das ärztliche Zeugnis des Dipl.-Med. Sch. vom 23.08.2012, das dem Angeklagten eine Alkoholkrankheit mit Persönlichkeitsstörung und autoagressivem Verhalten attestiert - zuletzt im Oktober 2012 angeordnet. Hierdurch ist die Beschränkung der Fähigkeit des Angeklagten zur Selbstverteidigung hinreichend belegt. Diese wird auch nicht durch die Tatsache kompensiert, dass der Angeklagte einen Betreuer hat. Insofern ist selbst dann eine Bestellung eines Pflichtverteidigers notwendig, wenn der Angeklagte - wie hier nicht - einen Rechtsanwalt als Betreuer hätte (vgl. Schmitt a.a.O. m.w.N.).

Zudem ist gemäß dem Beschluss des AG Oschatz aus Oktober 2012 — XXXXXXXXX — die Berufsbetreuerin dem Angeklagten unter anderem mit dem Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden bestellt. Im Rahmen des Aufgabenkreises vertritt sie ihn gerichtlich und außergerichtlich. Der Begriff der Vertretung vor Behörden umfasst dabei auch die Vertretung vor einem Gericht; es bedarf insoweit keiner ausdrücklichen Nennung der Vertreter in Gerichtsangelegenheiten. Auch das durch diesen Beschluss anerkannte Defizit des Angeklagten, seine Rechte selbst vor einem Gericht vertreten zu können, legt bereits die Unfähigkeit des Angeklagten zur Verteidigung nahe (vgl. Meyer-Goßner/Schmidt, a.a.O.; LG Berlin 2016, 487 f.).

Unter diesen Umständen erscheint es nach Ansicht der Kammer dem Angeklagten hier nicht zumutbar, die - in Teilen zudem gegensätzlichen - Zeugenschilderungen zum Tathergang (Zeugin W. einerseits sowie Zeugin H. andererseits) zu würdigen und sich damit adäquat selbst zu verteidigen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 Abs. 1 StPO entsprechend.

LG Leipzig, Beschluss vom 18.09.2017 - 15 Qs 119/17, BeckRS 2017, 128130

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

Kommentare als Feed abonnieren

Kommentar hinzufügen