Lesetipp: Aufsatz zum Klageerzwingungsverfahren

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 18.12.2017
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht218|27878 Aufrufe

Gerade habe ich entdeckt, dass Nomos einen schon etwas zurückliegenden Beitrag von mir frei zugänglich online gestellt hat. Es handelt sich um einen Beitrag zum Klageerzwingungsverfahren in der NJ aus 2016. Den Beitrag finden Sie H I E R.

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Bekanntlich vertrete ich die Rechtsmeinung, dass auf das Verfahren nach den §§ 172 ff StPO ergänzend Verwaltungsprozessrecht angewendet werden muss. Die Anwendung der VwGO hätte prozessual vor allem zur Folge, dass

  • die Beschuldigten beizuladen wären, § 65 VwGO
  • das Gericht dem Verletzten vor Erlass einer Entscheidung ggf. richterliche Hinweise gemäß § 86 Abs. 3 VwGO analog erteilen müsste und anderenfalls das Grundrecht auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzte.

Interessant ist auch die Möglichkeit des Ermittlungserzwingungsverfahrens:

Der Bürger darf auch einen eingeschränkten Antrag zum OLG stellen.[22] Der Antrag richtet sich nur auf die förmliche Einleitung des Ermittlungsverfahrens, nicht auf eine Anklageerhebung.[23] Dies ist der sog. Ermittlungserzwingungsantrag. Der Antragsteller verfolgt mit dem Ermittlungserzwingungsantrag gerade nicht die Erhebung der öffentliche Klage nach der Durchführung eines vollständigen Ermittlungsverfahrens, sondern der Antragsteller verfolgt mit dem Ermittlungserzwingungsantrag ein anderes Ziel: Der Antragsteller will mit dem Ermittlungserzwingungsantrag erreichen, dass der Strafsenat des OLG die Staatsanwaltschaft dazu verpflichtet, sich überhaupt erst ernsthaft mit der von dem Antragsteller erstatteten Strafanzeige zu befassen und den vom Antragsteller unterbreiteten Sachverhalt einer ernsthaften strafrechtlichen Überprüfung zu unterziehen.

Zum Ermittlungserzwingungsverfahren schreibt Meyer-Goßner/Schmitt, Kommentar zur StPO, 60. Auflage 2017, Rn. 1b zu 172 StPO:

"Ausnahmsweise kommt im Verfahren nach §§ 172 ff auch die Anweisung an die StA in Betracht, Ermittlungen überhaupt erst aufzunehmen und durchzuführen, wenn die StA den Anfangsverdacht rechtsfehlerhaft aus rechtlichen Gründen verneint und deshalb den Sachverhalt nur unzureichend oder gar nicht aufgeklärt hat oder wenn die StA fehlerhaft unter Verneinung des Anfangsverdachts aus tatsächlichen Gründen nach § 152 II keinerlei Ermittlungen durchgeführt hat." 

Tatsächlich ist die VwGO-Anwendung eine interessante Idee! Danke für den Hinweis!

Der Kerngedanke ist eigentlich dieser Abschnitt:

"XVII. Kurzer Ausflug ins Gesellschaftsrecht

Wir haben jetzt also beim Klageerzwingungsverfahren im Ergebnis die Normen der VwGO, also eines völlig anderen Gesetzes, herangezogen, weil die Normen der StPO so überhaupt nicht "gepasst" haben. Gibt es ein solches methodisches Vorgehen überhaupt in der Rechtsordnung, dass man ein "anderes" Gesetz anwendet auf eine Fallgestaltung, die eigentlich in einem bestimmten Gesetz bereits geregelt ist? Ja, das gibt es durchaus, nämlich bei der Publikums-KG. Die Publikums-KG ist, ebenso wie jede andere KG, im HGB geregelt. Also müssten auf die Publikums-KG die Vorschriften des HGB Anwendung finden, die Vorschriften des "Heimat"-Gesetzes. Aber die Publikums-KG ist keine "normale" KG. Für eine "normale" KG sind einige, wenige Gesellschafter charakteristisch, die ggf. auch dazu bereit sind, unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, darauf sind die Vorschriften des HGB zugeschnitten. Bei der Publikums-KG liegt aber eine völlig andere Situation vor, als es dem Regelfall einer "normalen" KG entspricht: Bei der Publikums-KG gibt es eine Vielzahl von "Gesellschaftern", die gar nicht daran denken, in irgendeiner Weise so etwas wie unternehmerische Verantwortung zu übernehmen, sondern die sich typischerweise wie ganz normale Kapitalanleger verhalten. Also passen die Vorschriften des HGB nicht auf die Publikums-KG. Auf die Publikums-KG passen aber die Vorschriften des AktG ganz vorzüglich. Denn das AktG regelt genau den Fall der Publikums-KG, dass es erstens eine unüberschaubare Vielzahl von Gesellschaftern gibt und zweitens die Gesellschafter lediglich das wirtschaftliche Interesse eines typischen, mehr oder minder anonymen, Kapitalanlegers verfolgen. Kurzum: Der Gesellschafter einer Publikums-KG ist dem Aktionär in einer Aktiengesellschaft (wirtschaftlich) sehr ähnlich. Auch die Struktur einer Publikums-KG als Körperschaft ist der Struktur einer Aktiengesellschaft (wirtschaftlich) sehr ähnlich. Es besteht deswegen, soweit ersichtlich, unter Gesellschaftsrechtlern allgemein Einigkeit, dass auf die Publikums-KG nicht das HGB (das "Heimat"-Gesetz), sondern das AktG angewendet werden muss. Bei der juristischen Behandlung der Publikums-KG tritt also dasselbe "Phänomen" wie hier auf: Da das "Heimat"-Gesetz partout nicht passt, wird eben dasjenige "fremde" Gesetz angewendet, das der Funktion und der Struktur des Sachverhalts am besten angemessen ist.[65]"

Und der weitere Kerngedanke ist folgendes, mit dem Wort "Zeitenwende" im Aufsatztitel meinte ich nämlich zweierlei:

1) Damit meinte ich vor allem die praktischen Auswirkungen: Die verschiedenen Vefahrensarten nach den §§ 172 ff StPO sind jetzt nämlich - nachdem die Verfahren nach den §§ 172 ff StPO jetzt nämlich mit den rechtsstaatlichen Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches Verfahren ausgestattet sind - eine echte prozessuale Waffe! 

2) Damit meinte ich aber auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, beginnend mit der Tennessee Eisenberg-Entscheidung des Bundesverfasssungsgerichts vom 26. Juni 2014: Jetzt gibt es auch ein subjektiv-öffentliches Recht des Verletzten auf effektive Strafverfolgung Dritter, das es vorher nicht gab!   

 

Zuletzt argumentierte das OLG München in Rn. 8 seines Beschlusses v. 05.10.2017 – 2 Ws 1235/17 KL, 2 Ws 1238/17 KL juristisch fundiert: "Die VwGO ist nicht anwendbar."

Ist es denkbar, dass der Satz "Die VwGO ist nicht anwendbar." falsch ist?

Könnte - ist aber nicht.

Haben Sie auch irgendeine Art von Gedanken oder Argument für Ihre geschätzte Rechtsmeinung zu bieten?

Gegen den Beschluss des OLG München vom 5.10.2017, Az. 2 Ws 1235/17 KL (s.o.) habe ich folgende drei Punkte eingewandt, die bisher unerledigt blieben:

1) Fehlende Verkündung und fehlende Zustellung der angeblichen staatsanwaltschaftlichen Verfügung vom 14.6.2017
2) Fehlende richterliche Hinweise gem. § 86 III VwGO und
3) Fehlende mündliche Verhandlung gem. Art. 6 I EMRK i.V.m. § 101 I VwGO.

Methodisch originell. Es passt einem nicht, dass bestimmte Rechtsfolgen nicht vorgesehen sind. Also nimmt man ein anderes Gesetz, wo sie angeordnet sind. Fehlt einem, was man hier ja auch denken könnte, eine Bußgeldbewehrung, so könnte man ja auch die niedersäschsische Rattenbekämpfungsverordnung von 1977 heranziehen. Die enthält nämlich eine Bußgeldbewehrung.

Stimmt: Man nimmt ein anderes Gesetz, wo bestimmte Rechtsfolgen angeordnet sind. Dass es diese Methode schon gibt, lesen Sie bitte oben nach: Bei der Behandlung der Publikums-KG verfährt man seit einer BGH-Entscheidung aus dem Jahr 1972 - methodisch - genauso: Man wendet auf die Publikums-KG nicht das HGB, sondern das AktG an. Fragen Sie den Gesellschaftsrechtler Ihres Vertrauens.   

So so. Nicht das HGB. Wie denn dann kommt es zu Zahlungsansprüchen wegen handelsbilanzieller Überentnahmen durch die berühmten "Ausschüttungen"?

Wissen Sie was: Lesen Sie doch einfach selber nach: In meinem Aufsatz habe ich in Fn. 65 die Kommentarfundstelle schon angegeben: Baumbach/Hopt, Kommentar zum HGB, 36. Auflage 2014, Rnrn. 52 und 53 des Anhangs zu § 177a HGB. Dort wird auch hingewiesen auf die Entscheidung des BGH NJW 1973, 1604.  

Origineller Beleg für die These - laut Urteil BGH 26.1.2016 ist § 122 AktG NICHT,ich wiederhole: NICHT , entprechend auf die Einberufung durch eine ( Schein-)  KG-Komplementärin anzuwenden. Welche These noch einmal sollte durch diesen Rechtsprechungshinweis abgestützt werden?

Korrektur: 25.10.2016.

Diese Entscheidung des BGH enthält zweierlei:

1) Es wird die seit 1972 ständige Rechtsprechung fortgeführt, wonach auf die Publikums-KG im wesentlichen nicht das HGB, sondern das AktG Anwendung findet. Es wird dabei - was der ständigen Rechtsprechung entspricht - Punkt für Punkt im einzelnen untersucht, ob die konkrete Bestimmung des AktG auf den jeweils gegebenen Streitpunkt aus dem Bereich des Sonderrechts der Publikums-KG passt oder ob etwa der Gesellschaftsvertrag der Publikums-KG Vorrang genießt.  

2) Im konkreten Fall hat der BGH offenbar dem Gesellschaftsvertrag Vorrang vor der Vorschrift des AktG eingeräumt. Das ändert aber nichts daran, dass grundsätzlich auf die Publikums-KG das AktG Anwendung findet, q.e.d. 

Warum VwGO? Das Klageerzwingungsverfahren ist in §§ 172 ff. StPO hinreichend geregelt. Was ggf. wirklich unklar ist oder fehlt, kann mit allg. Rechtsgedanken (Rechtsstaat, rechtliches Gehör etc.) analogisiert werden.

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Ich habe deswegen die ergänzende Anwendung der VwGO vorgeschlagen, weil alles, was Sie richtigerweise ansprechen "(Rechtsstaat, rechtliches Gehör etc.)" eben schon sauber, ordentlich und vollständig in der VwGO geregelt ist. 

Das Klageerzwingungsverfahren ist in den §§ 172 ff. StPO eben gerade nicht hinreichend geregelt. Vielmehr vermerkt Meyer-Goßner/Schmitt in Rn. 1 zu § 173 StPO: "Das Verfahren des Gerichts steht in seinem pflichtgemäßen Ermessen." Als das Klageerzwingungsverfahren im Jahr 1878 - also vor 140 Jahren, zu Kaisers Zeiten - geschaffen wurde, entsprach das sicherlich dem seinerzeitigen Rechtsstaatsverständnis. Haben Sie sich aber schon einmal überlegt, was der unbestimmte Rechtsbegriff des "pflichtgemäßen Ermessens" für die Praxis bedeutet?

In der ursprünglichen Fassung der Strafprozessordnung vom 1. Februar 1877 war das Verfahren, das heute in den §§ 172 ff StPO geregelt ist, noch inhaltsgleich in den §§ 170 ff der Strafprozessordnung i.d.F. vom 1. Februar 1877 geregelt. § 170 StPO i.d.F. vom 1. Februar 1877 lautete:[54]

 

"Ist der Antragsteller zugleich der Verletzte, so steht ihm gegen diesen Bescheid binnen zwei Wochen nach der Bekanntmachung die Beschwerde an den vorgesetzten Beamten der Staatsanwaltschaft und gegen dessen ablehnenden Bescheid binnen einem Monat nach der Bekanntmachung der Antrag auf gerichtliche Entscheidung zu. Der Antrag muß die Thatsachen, welche die Erhebung der öffentlichen Klage begründen sollen, und die Beweismittel angeben, auch von einem Rechtsanwalte unterzeichnet sein. Der Antrag ist bei dem für die Entscheidung zuständigen Gerichte einzureichen. Zur Entscheidung ist in den vor das Reichsgericht gehörigen Sachen das Reichsgericht, in anderen Sachen das Oberlandesgericht zuständig."

 

Der historische Gesetzgeber des Jahres 1877 konnte sich noch keine Gedanken über die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 3 VwGO auf das Verfahren nach den § § 170 ff StPO machen, weil § 86 Abs. 3 VwGO erst in der Bundesrepublik durch die Verwaltungsgerichtsordnung i.d.F. vom 21. Januar 1960 geschaffen wurde.[55] Das Merkmal der "Planwidrigkeit" als Voraussetzung der Analogie ist also gegeben.

Iura novit curia: Das Gericht wendet das Recht an. "Recht" ist auch das Prozessrecht. Das gilt unabhängig davon, ob dazu schon ein wissenschaftlicher Aufsatz vorliegt, ob ein anderes Gericht schon einmal genauso entschieden hat oder ob der Autor des Aufsatzes bekannt oder unbekannt ist. Denn Recht ist Recht: Das Gericht muss dasjenige Prozessrecht anwenden, das richtig ist.    

Folgender Gesichtspunkt kam damals in meinem Aufsatz zu kurz: Im Ermittlungserzwingungsverfahren besteht nämlich die Notwendigkeit einer mündlichen Verhandlung gem. Art. 6 I EMRK i.V.m. § 101 I VwGO!

 

Artikel 6 EMRK enthält das Recht auf ein faires Verfahren. Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält unter anderem den Anspruch auf eine öffentliche und damit mündliche Gerichtsverhandlung. Diese ist zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des Gerichtsverfahrens durchzuführen. Umfasst das Gerichtsverfahren nur eine einzige Instanz, ist die mündliche öffentliche Verhandlung also in dieser Instanz durchzuführen. Ich verweise hierzu auf das Urteil der IV. Sektion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 5.4.2016, Az. 33060/10, in der Sache Blum gegen Österreich, abgedruckt in NJW 2017, 2455 (Heft 34/2017) sowie auf die beiden Kommentierungen Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK-Kommentar, 2. Auflage 2015, Rnrn. 60 ff. zu Art. 6 EMRK und Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan von Raumer: Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Auflage 2017, Rnrn. 170 ff. zu Art. 6 EMRK.

 

In Deutschland steht die EMRK im Rang unter dem Grundgesetz auf der Ebene eines einfachen Bundesgesetzes. Damit geht sie zwar landesgesetzlichen Bestimmungen vor, ist im Vergleich mit bundesgesetzlichen gleichartigen Regelungen allerdings dem „lex posterior“-Grundsatz unterworfen, könnte also unter Umständen hinter neueren gesetzlichen Regelungen zurücktreten. Da jedoch die Grundrechtsgewährleistung der EMRK weitgehend der des Grundgesetzes entspricht, hat das Bundesverfassungsgericht 1987 ausgeführt, dass andere gesetzliche Bestimmungen der Bundesrepublik im Lichte der EMRK auszulegen seien. Hierzu verweise ich auf den Beschluss des BVerfG vom 26. März 1987, Az. 2 BvR 589/79, BVerfGE 74, 358. Dieser Auffassung folgen auch die oberen Bundesgerichte. Damit kommt de facto der EMRK im deutschen Recht zwar kein verfassungsrechtlicher, aber doch ein übergesetzlicher Rang zu.

 

Eine mündliche Verhandlung ist deshalb durchzuführen!

Artikel 6 EMRK enthält das Recht auf ein faires Verfahren. Art. 6 Abs. 1 EMRK enthält unter anderem den Anspruch auf eine öffentliche und damit mündliche Gerichtsverhandlung.

Die Vorschrift gilt in bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine erhobene strafrechtliche Anklage. Das Klageerzwingungsverfahren ist also offenbar nicht erfaßt.

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Doch, es ist natürlich schon erfasst, weil mit "zivilrechtlich" vs. "strafrechtlich" nach einhelliger Meinung beabsichtigt ist, alle Zweige der Gerichtsbarkeit damit zu erfassen. 

Aber für solche Fragen muss man sich schon ein ganzes Stück in die Kommentarliteratur zur EMRK eingraben. Demgegenüber ist z.B. die Kommentierung der EMRK im Meyer-Goßner/Schmitt (dort unter Anhang 4), sagen wir mal, nicht 100%ig zufriedenstellend: 

1) Zunächst sind für unsere Frage interessant die Rnrn. 3 und 4 der Vorbemerkungen vor Art. 1 EMRK. Allerdings ist die dortige Kommentierung unter den Überschriften "Innerstaatliche Geltung" und "Wirkung der MRK auf bestehendes Recht" doch ein wenig ausweichend.   

2) Sodann verdient Rn. 1 zu Art. 6 EMRK Beachtung, weil dort der "Anwendungsbereich" des Art. 6 EMRK abgehandelt ist. Immerhin, so scheint mir, beantwortet die dortige Kommentierung die von Ihnen aufgeworfene Frage.  

3) Und schließlich gibt es in Rn. 6 zu Art. 6 EMRK unter der Überschrift "Öffentliche Anhörung" noch eine sage und schreibe neun Zeilen lange Kommentierung.

 

Noch ein Punkt, wo ich mit der Kommentierung im Meyer-Goßner/Schmitt nicht so ganz glücklich bin, ist die Rn. 1 zu § 173 StPO: Dort wird zwar beiläufig erwähnt, dass irgend ein Autor die "entsprechende Anwendung der Vorschriften des Verwaltungsprozessrechts" vorschlägt. Die Kommentierung sagt aber nicht, was das praktisch bedeutet. Ich meine, ein zusätzliches beiläufiges Sätzchen zu den praktischen Auswirkungen der Anwendung von Verwaltungsprozessrecht auf das Klageerzwingungsverfahren hätte das Verständnis der Kommentarnutzer für diese prozessrechtliche Materie doch ein klein wenig gefördert.   

Wo ist die angebliche "einhellige Meinung" niedergelegt, dass angeblich "alle Zweige der Gerichtsbarkeit" (entgegen dem Gesetzestext) vom Zwang einer mündlichen Verhandlung erfasst sein sollen? Ist nach Ihrer Auffassung z. B. das Verfahren des Bundesverfassungsgerichts und des EGMR dann selbst also ein Verstoß gegen die Menschenrechte, da bei diesen Gerichten eine bekanntlich eine mündliche Verhandlung keineswegs zwingend angeordnet ist, sondern im Gegenteil in der Mehrzahl der Fälle gerade nicht stattfindet?

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Sie müssen schon genau lesen: "Die mündliche Gerichtsverhandlung ist zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des Gerichtsverfahrens durchzuführen." D.h.: Wenn die Sache erst mal beim BVerfG oder beim EGMR angekommen ist, war bis dahin natürlich längst eine mündliche Verhandlung gewesen. Denn der Satz heißt natürlich nicht, dass in jeder Instanz eine  mündliche Verhandlung stattfinden müsste. Und die Fundstellen aus der Kommentarliteratur habe ich oben schon angegeben. 

 

Sie müssen schon genau lesen: "Die mündliche Gerichtsverhandlung ist zumindest zu irgendeinem Zeitpunkt im Laufe des Gerichtsverfahrens durchzuführen."

Ich kann lesen. Aber das von Ihnen in Anführungszeichen (!) gesetzte Zitat (!) der Vorschrift ist völlig falsch! Die Vorschrift lautet vielmehr u. a. : "Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird." (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 EMRK).

Wenn die Sache erst mal beim BVerfG oder beim EGMR angekommen ist, war bis dahin natürlich längst eine mündliche Verhandlung gewesen

Es gibt in § 13 BVerfGG jede Menge Sachen, für die das BVerfG originär und ohne vorangehenden Instanzenzug zuständig ist, also ohne dass "bis dahin natürlich längst eine mündliche Verhandlung gewesen" wäre.

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Ich habe nicht den Gesetzestext des Art. 6 EMRK zitiert, sondern ich habe die einhellige Meinung in der Kommentarliteratur zitiert. Und was es mit einer möglichen Kollision zwischen § 13 BVerfGG und Art. 6 EMRK auf sich hat, ist hier nicht das Thema. Es mag tatsächlich sein, dass auch in den Fällen des § 13 BVerfGG eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist.    

ich habe die einhellige Meinung in der Kommentarliteratur zitiert

Was bzw. wen genau haben Sie da zitiert? Wenn es sich um ein Zitat handelt, gibt es auch eine Zitatstelle.

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Das sind die beiden Kommentierungen Karpenstein/Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EMRK-Kommentar, 2. Auflage 2015, Rnrn. 60 ff. zu Art. 6 EMRK und Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim/Stefan von Raumer: Europäische Menschenrechtskonvention, Handkommentar, 4. Auflage 2017, Rnrn. 170 ff. zu Art. 6 EMRK.

Das sind die beiden Kommentierungen...

Schreiben die beiden Kommentare (die ich jetzt hier leider nicht vorrätig habe) wirklich, wie von Ihnen zitiert, wortwörtlich den gleichen Wortlaut? Kann ich Ihr Zitat wirklich wortwörtlich so zitieren, dass es wortwörtlich beide Kommentare im gleichen Wortlaut so bringen?

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Nein, das ist natürlich nicht der "wortwörtlich gleiche Wortlaut", das hatte ich auch nie behauptet. Nein, es ist vielmehr das sinngemäße Ergebnis, zu dem die Kommentierungen übereinstimmend gelangen. 

Nein, das ist natürlich nicht...

Wenn Sie zitieren und ein Zitat in Anführungszeichen setzen, dann ist es keineswegs "natürlich", dass das "natürlich" nicht wortwörtlich gemeint ist. Im Gegenteil: Das ist, wissenschaftlich gesehen, ein Kapitalverbrechen und im Übrigen eine satifaktionsfähige Persönlichkeitsverletzung, wenn Sie anderen Personen Worte in den Mund legen, die das niemals gesagt haben. Falschzitate, die unwahre Tatsachenbehauptungen wiedergeben, sind nicht von der Meinungsfreiheit geschützt. "Ein wörtliches oder direktes Zitat muss formal und inhaltlich völlig mit dem Original, auch Hervorhebungen (Unterstreichungen, gesperrt Gedrucktes etc.) und eigenwillige Zeichensetzung, übereinstimmen. Es wird durch Anführungszeichen gekennzeichnet..." (Wikipedia).

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Wie auch immer. Meine Absicht bestand offenkundig lediglich darin, einen bestimmten Inhalt der Kommentierungen mitzuteilen. Wissenschaftliche Ungenauigkeiten bitte ich mir dabei nachzusehen.   

Äh, ja, mündliche Verhandlung muss also auch sein. Und der Beschuldigte wird dann beigeladen, da notwendige Beiladung § 65 Abs. 2 VwGO analog?   Nur:  wie passt das dann dazu, dass ein Beschuldigter im Strafverfahren gar nichts sagen muss und sorgar lügen darf ? Was ist, wenn der Beschuldigte noch gar nicht bekannt ist (zB Polizeieinsatz ohne individuelle Kennzeichnung)?  Wird die VwGO wiederum wegen Rückanalogie  oder durch Anwendung des nemo tenetur eingeschränkt angewendet, also doch keine vollständige Amtsermittlung?  Mit welchen Folgen für die Entscheidung des OLG? In dubio oder non liquet als Entscheidungsregel? 

 

 

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Dem Beschuldigten muss jedenfalls die Möglichkeit gegeben werden, sich zu der Frage äußern zu können, ob ein Ermittlungsverfahren gegen ihn förmlich eingeleitet wird oder nicht. Das ist dasselbe Prinzip wie in jedem anderen Verwaltungsprozess auch: Wenn der Grundstückseigentümer gegen die Behörde mit dem Ziel klagt, die Behörde möge gegen seinen Grundstücksnachbarn eine Abrissverfügung erlassen, muss ja auch der Grundstücksnachbar des Klägers gem. § 65 VwGO zum Prozess beigeladen werden, um sich zu der Frage äußern zu können, ob eine Abrissverfügung gegen ihn ergeht oder nicht. 

Und was Ihre weiteren Fragen betrifft: Der Akzent liegt insoweit darauf, dass der Beschuldigte sich äußern darf, aber er muss sich natürlich nicht äußern. Der Strafsenat des OLG wird dann seine Entscheidung über die förmliche Einleitung des Ermittlungsverfahrens gegen ihn treffen, nachdem das OLG dem Beschuldigten auf diese Weise im Wege der Beiladung gem. § 65 VwGO rechtliches Gehör gewährt haben wird. 

Das wird dann aber sehr lustig in den Fällen, in denen die StA zB für einigermaßen sinnvolle Ermittlungen beim Beschuldigten oder Dritten auch durchsuchen müsste oder wegen des Tatvorwurfs ggf. auch die Haftfrage im Raum stünde.

Der Beschuldigte erhält rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren, bekommt eine Mitteilung als Beigeladener, rechtliches Gehör und kann schön in Ruhe etwaige Beweismittel beseitigen, Zeugen beeinflussen oder sich absetzen.  Sehr sinnvoll, die analoge Anwendung der VwGO.

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Genau um solche Sachen zu vermeiden hat man die StA und den Ermittlungsrichter, die sich an Recht und Gesetz halten müssen und ggf. Haftbefehle wegen Flucht- oder Verdunkelungsgefahr ausbringen können und müssen. Diese Probleme bestehen ohnehin. Das alles hat aber mit den hier besprochenen prozessualen Problemen nicht das Geringste zu tun.    

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