Raubbau an der eigenen Gesundheit – Berufsunfähigkeit trotz fortgesetzter Tätigkeit

von Dr. Michaela Hermes, LL.M., veröffentlicht am 28.07.2018
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Für Selbständige ein schwieriges Unterfangen, eine Leistung aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu erhalten. Ein jahrelanger Rechtstreit gegen das Versicherungsunternehmen zehrt an Ressourcen und Kraft des Versicherten. Oft sind die Selbständigen gezwungen, weiter zu arbeiten. Denn bei Zahlungsverweigerung der Versicherung muss der Lebensunterhalt verdient werden.                                                                                    

Das OLG Hamm, hat in einem bisher wenig beachteten Urteil, 27.04.2018 - 20 U 75/17, BeckRS 2018, 13332 entschieden, dass die Berufsunfähigkeit -hier aus psychischen Gründen- auch bestehen kann, wenn der Versicherte seinen Beruf tatsächlich noch ausübt, dabei aber Raubbau an seiner Gesundheit treibt.

Der Fall

Die Klägerin war Unternehmensgeschäftsführerin mit einer Arbeitszeit von mindestens 10 Stunden an sechs Tagen die Woche. Sie hatte das Unternehmen ihres Vaters mit etwa 500 Mitarbeitern übernommen. Im März 2008 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Unternehmens, einige Monate später auch über das private Vermögen der Klägerin eröffnet.

Die Klägerin nahm die beklagten Versicherungen aus Verträgen über eine Berufsunfähigkeits- bzw. Berufsunfähigkeitszusatzversicherung in Anspruch.

Sie argumentierte, aufgrund einer schweren Depression wäre sie bereits seit Oktober 2007 nicht mehr in der Lage gewesen ihre Berufstätigkeit auszuüben. Sie arbeitete trotzdem im gewohnten Umfang weiter. Die Versicherungen lehnten eine Rentenzahlung ab. Sie sahen in der Depression eine „normale Reaktion“ auf die Insolvenz.

Die Versicherungsbedingungen der beklagten Berufsunfähigkeits- sowie Berufsunfähigkeitszusatzversicherung sahen jeweils vor, dass ein Leistungsanspruch besteht, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, „voraussichtlich sechs Monate“ bzw. „voraussichtlich dauernd“ außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben.

Das Urteil

Die Versicherungen sind, nach Auffassung des OLG, zu einer Rentenzahlung verpflichtet. Die Klägerin habe nachgewiesen, dass sie ab dem 16.03.2008 voraussichtlich für sechs Monate berufsunfähig war. Der Senat stützte sich auf das Gutachten des Sachverständigen, der die ungünstige Prognose von sechs Monaten damit erklärte, dass bereits im Oktober 2007 eine medikamentöse Behandlung eingeleitet worden sei. Diese aber im März 2008 noch zu keiner nachhaltigen Verbesserung geführt habe.

Der Prognose stehe auch nicht entgegen, dass die Klägerin vorher – und unterstützend auch noch im Insolvenzverfahren – beruflich tätig wurde. Soweit sie weiter wie gewohnt arbeitete, sei dies nur unter Raubbau an ihrer Gesundheit, unter dem Aspekt des Durchhaltens geschehen. Für die Zeit ab März 2008 sei sie zu einer Tätigkeit, die 50% des ursprünglichen Umfangs erreicht hätte, ohne Raubbau nicht in der Lage gewesen. Sie habe auch nicht durch Umorganisation ihre berufliche Tätigkeit so gestalten können, dass sie diese trotz ihrer Erkrankung hätte ausüben können.

Praxishinweise

Der Versicherungsnehmer ist im Falle der Berufsunfähigkeit in einer Zwickmühle. Einerseits muss er bei Zahlungsverweigerung der Versicherung weiter arbeiten, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Andererseits riskiert er durch sein überobligationsmäßiges Verhalten eine Verschlechterung seiner Gesundheit.

In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Ärzte und Zahnärzte zunächst einen Praxisvertreter beschäftigen und dann ihre selbständige Tätigkeit frühzeitig aufnehmen. Eine weitere Berufstätigkeit trotz gesundheitlicher Beeinträchtigungen wird aber von den Versicherungen als Indiz gegen eine Berufsunfähigkeit gewertet. Dagegen muss der Versicherte den Nachweis erbringen, dass es durch diese fortgesetzte Tätigkeit mit einem messbaren, rational begründbaren Grad von Wahrscheinlichkeit zu weiteren Gesundheitsbeeinträchtigungen, kommen kann (BGH, Urteil vom 11.10.2000 - IV ZR 208/99).

Das OLG Hamm schließt sich der Rechtsprechung des BGH an. Danach ist Berufsunfähigkeit auch anzunehmen, wenn Gesundheitsbeeinträchtigungen eine Fortsetzung der Berufstätigkeit unzumutbar erscheinen lassen, wenn die Berufstätigkeit sich als Raubbau an der Gesundheit und deshalb als überobligationsmäßig erweist.

Das Urteil ist zu begrüßen. Vielleicht wird es für die Versicherungsnehmer nun einfacher, Ansprüche durchzusetzen. War es bisher doch eher notwendig mit Abschluss der Berufsunfähigkeitsversicherung auch eine Rechtsschutzversicherung abzuschließen.

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