Einlassung des entbundenen Betroffenen ist auch zu berücksichtigen, wenn sie erst 20 min vor Termin gefaxt wird

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 16.08.2018
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht108|11932 Aufrufe

Nun ja...je größer das Gericht, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Fax nicht innerhalb von 20 Minuten bei dem zuständigen Richter landet. So auch hier in einem Fall, den das OLG Bamberg zu entscheiden hatte:

Das AG hat den Betr. wegen eines zum Unfall führenden Abbiegefehlers zu einer Geldbuße von 85 Euro verurteilt. 
 
Das schriftliche Urteil enthält keine Entscheidungsgründe. 
 
Mit seiner gegen dieses Urteil gerichteten Rechtsbeschwerde, deren Zulassung er beantragt, rügt der Betr. die Verletzung formellen und materiellen Rechts. 
 
Das Rechtsmittel erwies sich als erfolgreich.
 
 
Aus den Gründen:
 
Die Rechtsbeschwerde ist zuzulassen, weil es geboten ist, das Urteil wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben (§ 80 I Nr. 2, II Nr. 1 OWiG). Die Verfahrensrüge, das Gericht habe den Sachvortrag des Betr., bei Einleitung des Abbiegevorgangs mit seinem Fahrzeug sei kein weiteres Fahrzeug sichtbar gewesen und er habe den Abbiegevorgang sofort nach dessen Sichtbarwerden abgebrochen, übergangen bzw. nicht zur Kenntnis genommen, ist zulässig und auch begründet. Dieses Vorgehen verletzt den Anspruch des Betr. auf rechtliches Gehör (Art. 103 I GG).
 
1. Art. 103 I GG verpflichtet das Gericht, das Vorbringen des Betr. zur Kenntnis zu nehmen und in seine Entscheidungserwägungen einzubeziehen (vgl. nur BVerfG NJW 1992, 1875 und NJW 1996, 2785, 2786). Zwar kommt ein Verstoß gegen rechtliches Gehör nach gefestigter höchstrichterlicher Rspr. (vgl. etwa BGH NStZ-RR 2013, 157) nur dann in Betracht, wenn sich aus den besonderen Umständen des konkreten Einzelfalles ergibt, dass der Tatrichter ein Vorbringen entweder überhaupt nicht zur Kenntnis oder doch bei seiner Entscheidung ersichtlich nicht in Erwägung gezogen hat (vgl. BVerfGE 54, 86; KK/Senge OWiG 5. Aufl. § 80 Rn. 41 m.w.N.). Solche besonderen Umstände liegen hier jedoch vor.
 
a) Ausweislich des Sitzungsprotokolls hat das AG die am Hauptverhandlungstag eingegangene schriftliche Einlassung des Betr. nicht nur nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, sondern sogar unzutreffender weise festgestellt, dass dieser sich über die Einräumung der Fahrereigenschaft hinaus nicht zur Sache einlasse. Auch aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, dass das AG die für die Schuldfrage relevante Einlassung zumindest der Sache nach in Betracht gezogen und für unerheblich oder widerlegt gehalten hätte. Von einer Absetzung schriftlicher Gründe hat das Gericht vielmehr in rechtsfehlerhafter Weise abgesehen, obwohl die in § 77b I 1 und S. 3 OWiG genannten Voraussetzungen hierfür mangels Verzichts und mangels Vertretung des Betr. in der Hauptverhandlung nicht vorgelegen haben.
 
b) Darauf, dass die vom Verteidiger weitergeleitete Einlassung des Betr. erst am 22.03.2018 um 14.24 Uhr und damit nur kurz vor dem auf 14.45 Uhr angesetzten Hauptverhandlungstermin per Telefax beim AG einging und möglicherweise dem zuständigen Richter gar nicht mehr vorgelegt wurde, kommt es nicht an. Maßgeblich ist vielmehr allein, dass nach Aktenlage die Einlassung das AG am Terminstag vor Beginn der Hauptverhandlung tatsächlich erreicht hatte und deshalb bei gehöriger gerichtsinterner Organisation dem zuständigen Richter rechtzeitig hätte zugeleitet werden können. Im Falle der Durchführung eines Abwesenheitsverfahrens nach § 74 I OWiG gebietet es die Aufklärungs- bzw. Fürsorgepflicht, dass der Richter sich zuvor bei seiner Geschäftsstelle informiert. Dies entspricht st.Rspr. des Senats für den Fall des Eingangs eines Entbindungsantrags nach §§ 73 II, 74 II OWiG (vgl. u.a. OLG Bamberg, Beschluss vom 30.10.2007 – 2 Ss OWi 1409/07 = NStZ-RR 2008, 86 = NZV 2008, 259; vom 27.01.2009 - 2 Ss OWi 1613/08 = NStZ-RR 2009, 149 = ZfS 2009, 290 = NZV 2009, 355 = OLGSt OWiG § 74 Nr. 2 und vom 29.12.2010 – 2 Ss OWi 1939/10 = NZV 2011, 409, jeweils m.w.N.; vgl. auch OLG Naumburg, Beschluss vom 25.08.2015 – 2 Ws 163/15 [bei juris] sowie KG, Beschluss vom 10.11.2011 – 2 Ss 286/11 [bei juris] und vom 28.08.2014 – 122 Ss 132/14 = StraFo 2014, 467 = VRS 127 [2014], 181) und kann in der vorliegenden Fallkonstellation nicht anders gehandhabt werden, da es dem Betr. jederzeit freisteht, sein Einlassungsverhalten auch kurzfristig zu ändern und da schriftliche Mitteilungen des Betr. bzw. prozessuale Gesuche erfahrungsgemäß nicht selten noch am Terminstag bei Gericht eingehen.
 
2. Das Urteil beruht auch auf dem Rechtsfehler. Es ist nicht auszuschließen, dass dieses bei Berücksichtigung der Einlassung des Betr. zu seinen Gunsten ausgefallen wäre.

 
OLG Bamberg Beschl. v. 3.7.2018 – 3 Ss OWi 932/18, BeckRS 2018, 15195
 
Ein Verteidiger ohne große Verteidigungschancen wird so stets wert darauf legen müssen, kurz vor dem HVT ein Fax mit einer Einlassung an das Gericht senden zu lassen, wenn er erwarten kann, dass das Fax den zuständigen Richter ohnehin nicht mehr erreicht. Na: Schönen Dank! 

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108 Kommentare

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Nun meinen Sie mit Dr. Peus sicher auch nicht Peus beim Doktor. Also denken Sie noch einmal eine Sekunde nach, bevor Sie mich und den Blog mit Geschwätz zumüllen.

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Wenn wir schin beim "Rechtstaat" sind:

Durchstechereien bei Behörden und Gericht

  • Bei „medialem Interesse“
  • Von Egon Peus
  • 20180905

Empö wallt in  NRW unter den Freunden des SamiFanClubs, weil Minister Dr. Stamp Informationsherausgabe über den vorbestimmten und dann effektiv realisierten Abschiebabflugtermin 13. Juli 2018 morgens auf den Kreis, für den das „rechtlich zwingend“ sei, durch Weisung beschränkt hat und dies damit begründete, Erfahrungen lehrten die Gefahr von Durchstechereien und Bruch des Dienstgeheimnisses. Besondere „Empö“ – nicht verbal ausgedrückt durch Gerichte, aber andere Mitglieder des SamiFanClubs der Politattacke gegen die Regierung, es sei „empörend“ dass der Minister gar dem Gericht zugetraut hätte, Amts- und Dienstgeheimnisse nicht zu wahren.

Der realtrumpbegleitende Zeitgeist empfiehlt, den Altsprachler begeisternd, „faktencheck“. Das mag sich vollziehen.

 

  1. Eine Behörde:

Medial interessierend: Herr Hoeness. FAZ 23. Januar 2014: „Ein Sprecher der Staatsanwaltschaft München I bestätigte nun die Durchsuchungsaktion. Hoeneß sei im Oktober 2013 von „einem Presseorgan“ ein Dokument vorgelegt worden, das Informationen aus seiner Steuerakte enthalten habe, sagte der Sprecher…… Es handle sich dabei um ein internes Papier, zu dem außerhalb der Finanzverwaltung niemand Zugang hatte.“ Zitat Ende. Süddeutsche:

25. August 2014, 07:22 Uhr

Ermittlungen wegen Verrat von Dienstgeheimnissen Tausende Beamte hatten Zugriff auf Hoeneß' Steuerakte

Ärgerlich für Uli Hoeneß: So viele Menschen hatten Zugang zu seinen Steuerakten, dass nun nicht mehr geklärt werden kann, wer die Details an die Medien gab Zitat Ende. Siehe auch Spiegel 23. August 2014.

  1. JUSTIZbehörde: Ein Justizvollzugsbeamter in Chemnitz veröffentlicht Ende August 2018 einen Haftbefehl.

 

  1.  GERICHT – vermutlich:

 

Welt 15. August 2013: „Der Prozess gegen den früheren Bundespräsidenten Christian Wulff soll am 1. November dieses Jahres vor dem Landgericht Hannover beginnen. Ein entsprechender Beschluss der Zweiten Großen Strafkammer soll nach Informationen der „Welt“ am 27. August verkündet werden. Danach wollen die Richter um den Vorsitzenden Frank Rosenow das Verfahren allerdings nicht wegen Bestechlichkeit führen. Wulff soll sich stattdessen wegen Vorteilsnahme verantworten.  

Landgerichtssprecher Martin Grote wollte diese Informationen am Donnerstagmittag noch nicht bestätigen. Es gäbe bisher noch keine Entscheidung der Kammer, sagte Grote der „Welt“. Hintergrund dieses Dementis ist offenbar, dass die Entscheidung der Strafkammer den beteiligten Parteien, Staatsanwaltschaft wie Verteidigern, noch nicht zugestellt worden ist.

  1. Wulffs Strafverteidiger Bernd Müssig und sein persönlicher Anwalt Gernot Lehr befinden sich ebenso noch im Urlaub wie der für den Fall zuständige Pressestaatsanwalt, der erst am 26. August wieder im Dienst ist. Einen Tag später soll die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen Christian Wulff dann offiziell bekannt gegeben werden. ……………….“  Zitat Ende.

Wie das? „Es gibt noch keine Entscheidung“? Ja in der Tat – unter Juristen „gibt“ oder „gab“ es keine – wie in Gelsenkirchen am „12.“ Juli 2018, ab 19:20 Uhr - , denn interne Papiere haben die (Außen-)Rechtswirkung wie gerichtsintern benutztes Toilettenpapier, nämlich: KEINE. Es kann freilich einen gefassten Beschluss geben. Rechtlich bindend insoweit, als der Spruchkörper ihn nicht mehr ändern darf. Auch – wenn gefasst, muss er veröffentlicht, jedenfalls den Verfahrensbeteiligten bekanntgegeben werden. Das ist dann absehbar. Zunächst den mitwirkenden internen Spruchkörpermitgliedern (und dem Lieben Gott), und ansonsten? Woher „wusste“ der Welt-Redakteur gedruckt am 15. August 2013 den Inhalt des Beschlusses, der dann in der Tat am 27.August 2013 veröffentlicht wurde (HNA Dienstag 27. August 2013) ? Woher hatte der Redakteur das Wissen, wenn nicht „vom Gericht“ – dort wem auch immer?

 

  1. GERICHT – VG Gelsenkirchen

Laut Pressenachricht Süddeutsche 20. Juli 2018 – Verifikationsanfrage an das Gericht bisher ( 5. Sept. 2018 ) nicht beantwortet – hat der Pressesprecher des VG Gelsenkirchen am 13. Juli 2018 „vor acht Uhr“ die Pressemitteilung über den Beschluss, der das Datum „12.“ Juli 2018 trägt (  Beschluss  7a L 1200/18. Wir wissen: bis zur Bekanntmachung an Beteiligte ohne Außenwirkung - wie benutztes Toilettenpapier!) in die homepage des VG Gelsenkirchen eingestellt. Laut Ablaufschilderung des Präsidenten des VG Gelsenkirchen BEGANN die Bekanntmachung um 8:01 Uhr, an die erste der beteiligten Behörden noch später, an die andere noch weiter später.

  1. Meint man, Minister Dr. Stamp hätte bei seiner Sorge vor Durchstechereien Gespenster gesehen?

 

 

 

 

 

Meine Verbeugung vor dem OLG Düsseldorf!

Ein Winkeladvokat hatte in einer Bußgeldsache den Amtsrichter mit einer Gehörsrügenfalle austricksen wollen, indem er in seinem Schriftsatz die vermeintliche Äußerung seines Mandanten seitenlang in Kauderwelsch zitiert hatte, der am Ende einen Entbindungsantrag stellte. Der Amtsrichter hatte diesen Antrag nicht beschieden. Zur HV sind Anwalt und Betroffene nicht erschienen. Das Amtsgericht hat den Einspruch nach 74 II OWiG verworfen. Der Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde wegen Verletzung rechtlichen Gehörs wurde vom OLG Düsseldorf als unbegründet verworfen. Aus der Entscheidung: "Im Übrigen bemerkt der Senat, dass sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Verteidigers nicht mit dessen Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) vereinbaren lässt."

OLG Düsseldorf, Beschluss v. 25.4.2017,  IV 2 RBs 49/17

https://www.justiz.nrw.de/nrwe/olgs/duesseldorf/j2017/IV_2_RBs_49_17_Beschluss_20170425.html

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"Im Übrigen bemerkt der Senat, dass sich das rechtsmissbräuchliche Verhalten des Verteidigers nicht mit dessen Stellung als unabhängiges Organ der Rechtspflege (§ 1 BRAO) vereinbaren lässt."

So ein Satz wäre eine Verbeugung wert, wenn sich die Revisionsgerichte nicht schon längst aus ihrer ureigensten Aufgabe verabschiedet hätten und die Tatsacheninstanzen eine strenge Kontrolle ernsthaft fürchten müssten. So einen Satz kann natürlich schreiben, wer durch § 839 Abs. 2 BGB und § 339 StGB auf ein sanftes Ruhekissen gebettet ist. 

Es ist zwar ein Henne-und-Ei-Problem - ist die Erosion von Verfahrensrechten eine Folge der Konfliktverteidigung oder ist das umgekehrt zu betrachten - dennoch würde ich mir wünschen, dass das Schicksal von Menschen nicht gar so zwischen Formalitäten zerrieben wird. 

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Sicher darf man auch den Gerichten den Vorwurf machen, dass auch sie nicht selten ergebnisorientiert arbeiten und den Satz "Der Zweck heiligt die Mittel" überspannen, ohne dafür aber Konsequenzen tragen zu müssen. So ist auch dem BGH (BGH 5 StR 713/94 - Urteil vom 15.9.1995, Rn.18) einmal der Satz ausgerutscht:

"sind gesteigerte Anforderungen an den Rechtsbeugungstatbestand ein notwendiges Korrektiv gegen die andernfalls drohende Konsequenz, Gerichtsentscheidungen allzu häufig nochmals wegen des Vorwurfs der Rechtsbeugung erneuter Sachprüfung durch die Justiz zu unterstellen."

https://www.hrr-strafrecht.de/hrr/5/94/5-713-94.php

Gilt wohl nicht nur für die Wiederaufnahme. Entsprechend dürfte das in etwa auch der Leitsatz für die Revisionsgerichte sein. Das macht den Rechtsmissbrauch von Rechtsanwälten nicht besser.

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Dazwischen, Gästelchen, gibt es noch Vernunft:  A: Minister Reul ziiert FAZ 24.8.2018: Richter sollten "immer auch im Blick" haben, dass ihre Entscheidungen "dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen". Dies dort als wörtliche Zitatteile. Also nicht etwa nach Volksempfinden entscheiden. "auch im Blick haben". Mann muss vieles im Blick haben..  B:   darüber Opposition (!!) "erzürnt", WAZ 18.8.2018; Dr. Barley, FAZ   22. August 2018 S. 2: Minister Reul habe "zurückgenommen" ( was nicht wahr ist, er hat Missverständnismöglichkeit bedauert, was ihm als Rücknahme in der Journaille angehängt worden ist. Ein Muster von Rückgrat war er bei diesem Einknicken freilich nicht.). "Das Rechtsempfinden der Bevölkerung darf im Rechtsstaat nicht entscheidend sein, das ist genau der Punkt." Ja, der Punkt - Reul hat es gerade nicht (!!!) gesagt, nicht (!!!) dass es "entscheidend" sein müsse. Da polemisiert eine BMinJ also mit verfälschender Insinuierung. "Berücksichtigen" ist etwas prinzipiell anderes! Präs. Dr. Brandts im vielerwähnten dpa-Interview, abgedruckt etwa WAZ 17.8.2018: "Die Gerichte müssen unabhängig  von der Mehrheitsmeinung urteilen." Aha, einschränkungslos "unabhängig von der Mehrheitsmeinung." Alle, generell , stets.  C: Zur Bedeutung des "Rechtsempfindens der Bevölkerung: vgl. BGH 1 StR 342/08; 1 StR 353/70;  4 StR 415/16  ( NW 2017, 3011-3013, vgl. bes. Tz 29, 31) ; XII ZB 68/09; 1 StR 358/86; 1 StR 179/86; weitere Hinweise bei Stöhr, NJW aktuell 36/2018 S. 15 ( BVerfG NJW 1973, 1221, 1225 - Lücken nach den "fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft" zu schließen; BGH NJW 1962, 2054,  2057: abstellen auf "allgemeine Gerechtgkeitserwägungen"; BFHE 81, 572, 579: BFH definiere (!!) den Begriff der Billigkeit über die "Vereinbarkeit mit dem Rechtsempfinden". Vgl. auch Müller FAZ 23.8.2018 S. 1  D: A weia, wer da so alles "Unrechtsstaatsapologeten" sein soll. E: Selbstredend "dürfen" auch Damen von höchstricherlicher Rechtsprechung abweichende grundsätzliche Rechtsauffassungen haben , sogar dartun. F: Und "Gäste" auch. Auch wer nur gastweise in Recht hineinschnuppert.

"Meiner Meinung nach darf niemand, der 20 Minuten vor einer Verhandlung an ein Gericht faxt, darauf vertrauen, dass das noch zur Akte gelangt."

Tatsächlich erscheint mir das die tatsächliche Frage zu sein: wer trägt das Risiko der (rechtzeitigen) Übermittlung?

Nicht diskutiert werden muss m.E., dass es hier nicht um einen persönlichen Vorwurf gegen den Richter geht: Man kann nur berücksichtigen, was man kennt - und das ist (zwingend) der tatsächliche Akteninhalt und das Ergebnis der mündlichen Verhandlung zum Zeitpunkt der Entscheidung. Auch wird unstreitig von einem Richter nicht (im Sinne einer Dienstpflicht) erwartet, dass er vor Erlass einer Entscheidung alle Faxgeräte und Briefkästen kontrolliert und Rücksprache mit allen Serviceeinheiten hält.

Darum geht es aber hier (m.E.) nicht.

Die Intention der hier diskutierten Norm ist ja (m.E. recht offensichtlich), dass dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs im Falle der Abwesenheitsverhandlung dadurch Rechnung getragen wird, dass alles, was der Betroffene bisher zum Verfahren zu sagen hatte, umfassend (viel umfassender als bei Verhandlung in seiner Anwesenheit) durch Verlesung in die mündliche Verhandlung eingeführt werden kann.

Im Gesetz ist keine Frist vorgesehen, die der Betroffene für entsprechende Äußerungen zum Verfahren (vor der Verhandlung) einzuhalten hätte.

Für die Entscheidung ist der einzige, konkret festzuhaltende Zeitpunkt der Schluss der mündlichen Verhandlung, im Straf-/Owiprozess daher idR der Erlass des Stuhlurteils. Bei Anwesenheit ist ja auch daran zu denken,

Will man den Betroffenen (durch eine wie auch immer begründete Auslegung der oben zitierten Norm) auf einen früheren Zeitpunkt verweisen, etwa den, bei dem ein verständiger Absender noch darauf vertrauen kann, dass die Schrift dem Richter rechtzeitig vor dem Ende der Verhandlung vorgelegt werden kann, so stellen sich erhebliche Abgrenzungsprobleme, die zB von (dem Absender bekannter?) Größe, Ausstattung und Organisation des Gerichts abhängen.

Tatsächlich ist ein Abstellen auf den Eingang vor Ende der mündlichen Verhandlung auch inhaltlich nicht ganz unplausibel: Die Verteilung der Information, sobald das Fax bei Gericht eingegangen ist, liegt in der Oranisation der Justiz, für die der Betroffene  nicht verantwortlich ist. Dass dann auch ohne jegliches Verschulden von Beschäftigten dort - zB, wenn die Wachtmeister gerade sämtlichst mit Einlaskontrollen und Vorführungen beschäftigt sind und das Fax nicht sehen können - eine rechtzeitige Richtervorlage nicht stets gewährleistet werden kann, ändert ja nichts daran, dass die Info rechtzeitig im Zuständigkeitsbereich des Gerichts war.

Soweit (vielleicht nicht ganz zu Unrecht) Bedenken bestehen, dass dies von der Verteidigung für "Spielchen" zur Begründung von Rechtsmitteln genutzt werden kann, die mit dem materiell wichtigen rechtlichen Gehör in der Sache nicht viel zu tun haben, sei jedenfalls darauf hingewiesen, dass a) die OWi-Abwesenheitsverhandlung eine Minuten-/bzw. Sekundensache ist und jede Verzögerung, die außerhalb des Bereichs des Gerichts bei der Übersendung eintritt (Absendegerät, Leitung, Adressierungsfehler) zu Lasten des Absenders geht...

Ich denke, Sie irren sich. Der Zugang ist völlig unproblematisch. Aber Sie befinden sich jedenfalls in guter Gesellschaft. Denn auch das OLG Rostock meint, die Frage der Rechtzeitigkeit hätte etwas mit dem Zugang zu tun (OLG Rostock, Beschl. v. 15.04.2015 - 21 Ss OWi 45/15):

"Ein Entbindungsantrag ist so rechtzeitig und in einer solchen Aufmachung anzubringen, dass das Gericht - angelehnt an den Zugang von Willenserklärungen im Zivilrecht - unter gewöhnlichen Umständen bei üblichem Geschäftsgang und zumutbarer Sorgfalt ihn als solchen erkennen, von ihm Kenntnis nehmen kann und muss und ihn deshalb einer Bearbeitung zuzuführen hat."

Richtig ist, dass der Zugang des Entbindungsantrag an den Zugangsvoraussetzungen von (empfangsbedürftigen) Willenserklärungen (WE) im Zivilrecht (BGB-AT) angelehnt ist (M.E. nicht nur angelehnt). Eine empfangsbedürftige WE ist dem Empfänger aber spätestens dann zugegangen, wenn sie in den Machtbereich des Empfängers gelangt ist und er unter normalen Verhältnissen die Möglichkeit hat, den Inhalt der Erklärung zur Kenntnis zu nehmen. Es kommt weder darauf an, dass der Richter sie tatsächlich zur Kenntnis nimmt, noch die Geschäftsstelle.

Ich glaube, dass das OLG Rostock die Voraussetzungen für Abgabe und Zugang von empfangsbedürftigen WE etwas willkürlich miteinander vermischt.

Abgabe und Zugang von WE sind im Zivilrecht Wirksamkeitsvoraussetzungen iSv Bindungswirkung. Diese Art von Bindungswirkung ist aber auf das Prozessrecht nicht übertragbar. Was dem Zivilrecht die Bindungswirkung der WE ist, ist dem Prozessrecht die Zulässigkeit. Rechtzeitigkeit und Form prozessualer Willenserklärungen sind eine Frage der Zulässigkeit. Der Entbindungsantrag als prozessuale WE ist eine prozessuale Erwirkungshandlung, weil sie auf Entbindung von der Pflicht zum Erscheinen in der HV gerichtet ist, über die der Richter entscheiden muss. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen bezüglich Rechtzeitigkeit sind daher daran zu messen, ob die Vornahme der angestrebten Bewirkungshandlung von dem Amtsrichter in dem betreffenden Stadium des Verfahrens bei normalem Ablauf des Geschäftsgangs noch möglich und zu erwarten ist. Darunter fällt zunächst die tatsächliche Kenntnisnahme durch den Richter, die aber - wie gesagt - keine Zugangsvoraussetzung ist.

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