Skurrile strafrechtliche Folgen der Wohnraumknappheit

von Dr. Michael Selk, veröffentlicht am 26.03.2019
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtMiet- und WEG-Recht6|5021 Aufrufe

Ich muss heute sehr verwundert geguckt haben, als ein Vertreter der Jugendgerichtshilfe mir in einer Hauptverhandlungspause mitteilte, ich mit meinem Verteidigungsansatz auf dem Holzweg (und ja, das hat durchaus mietrechtliche Relevanz). Also:

Ob ein Heranwachsender nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht verurteilt wird, richtet sich gem. § 105 JGG u.a. auch danach, ob er zur Zeit der Tat noch nach seiner "sittlichen und geistigen" Entwicklung einem Jugendlichen gleichstand. Bislang ging ich - offenbar naiv - davon aus, dass ein Angeklagter, der noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt und in der Ausbildung ist, in der Regel so "reifeverzögert" ist, dass ich mir über die Anwendung von Erwachsenenstrafrecht gar keine großen Gedanken machen muss.

Pustekuchen. Denn - so offenbar eine Tendenz in der Hamburger Jugendstrafjustiz - angesichts der Wohnraumknappheit in Hamburg würden die Heranwachsenden ja ohnehin zu Hause wohnen müssen, da ein Auszug aufgrund der hohen Mieten und damit ein Wegzug von Mami und Papi gar nicht in Betracht komme. Folglich sei der Umstand, dass ein Heranwachsender noch zu Hause bei den Eltern wohnt, kein Indiz für eine Reifeverzögerung - jedenfalls nicht in Hamburg.

Überzeugend ist dies, wie heute bereits auch mit Henning Müller auf twitter diskutiert, keineswegs. Entscheidend dürfte sein, dass sich ein 19jähriger, der noch zu Hause bei seinen Eltern wohnt, dort in der Regel keineswegs adäquat selbständig im Vergleich zu einem Gleichaltrigen entwickeln kann, der schon seinen eigenen Haushalt führt. Auf die Gründe für diesen Umstand, die durchaus außerhalb der Einflusssphäre des Heranwachsenden liegen können, kann es nicht ankommen. Im Ergebnis führt die Wohnungsnot in Ballungszentren so zu einer "in dubio pro" Erwachsenenstrafrechtrechtsprechung, was offensichtlich willkürlich erscheint. Auf die Spitze getrieben: hast du in Ballungszentren keine andere Chance als noch zu Hause zu wohnen wirst du dafür "doppelt bestraft", oder noch besser: zieh auf's Land, dann "bekommst du nur Jugendstrafrecht".

In Düsseldorf jedenfalls schien man es zuletzt trotz dortiger Wohnraumknappheit und hoher Mieten anders zu sehen. In einem Urteil vom 10.8.2012 des AG Düsseldorf  heißt es:

"Der Angeklagte war zur Tatzeit 19 Jahre und damit Heranwachsender. Er wohnte jedoch noch zu Hause und befand sich noch in der Ausbildung und stand damit weder finanziell noch hinsichtlich seiner Wohnsituation auf eigenen Beinen, so dass Entwicklungs- und Reifeverzögerungen nicht auszuschließen sind und auf den Angeklagten nach §§ 1, 105 JGG Jugendstrafrecht anzuwenden war." (132 Ds 162/12, juris).

 

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6 Kommentare

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Der Spruch aus Düsseldorf (übrigens von 2012) verwundert doch etwas, da der Umstand nicht als Indiz herangezogen wird, sondern als Voraussetzung für die Anwendung. Ich lese in § 105 JGG aber etwas von einer "Gesamtwürdigung".

Der Umstand, dass ein Heranwachsender bei den Eltern wohnt, kann natürlich auf eine Reifeverzögerung hindeuten, dem Umstand der Wohnungsknappheit würde ich aber auch Bedeutung beimessen. Da heutzutage die wenigsten U25 einen eigenen Haushalt führen (ohne dies statistisch nachgewiesen zu haben), würde ich der reinen Wohnsituation insgesamt eher weniger Beachtung im Rahmen der Gesamtwürdigung schenken, da es ja immerhin auf die "Norm" ankommt.
 

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Ich meine auch, dass aus dem Umstand, wer mit wem zusammenlebt, nur sehr begrenzt Rückschlüsse auf Reifeverzögerung gezogen werden können. Gerade zwischen Eltern und Kindern spielt das finanzielle Argument eine große Rolle und nicht etwa der Grund, dass man nicht selbstständig ist.

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Bizarre Rechtsprechung. Auch wenn äußere Zwänge verhindern, dass die Kinder ausziehen, hat das doch zur Folge, dass die Abnabelung vom Elternhaus nicht vollzogen werden kann.

Als Vergleich: Ein Bonsai-Baum ist nicht von Natur aus kleinwüchsig. Aber klein ist er im Ergebnis trotzdem.

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Bizarre Kommentare, die man hier liest. Da könnte man ja auch einem 30-jährigen Mann, der keine eigene Familie gründet sondern lieber bei Mama im vertrauten Nest (der "Primärfamilie") wohnen bleibt, eine Reifeverzögerung zubilligen. So ein Nesthocker ist natürlich nicht gesellschaftlicher Standard, doch weiß der Nesthocker genauso wie jeder andere Mensch auch, was Gut und Böse ist.

Natürlich fördert es nicht die Selbstständigkeit, wenn man sich noch mit 19,20 von Mama bekochen lässt und die Wäsche machen lässt. Aber hat das wirklich etwas mit strafrechtlicher Verantwortung zu tun? Meiner Ansicht nach darf die Tatsache, ob ein junger Mensch noch in seiner alten Primärfamilie wohnt oder schon eine eigene Sekundärfamilie gegründet hat oder zumindest einen  eigenen Singelhaushalt führt, überhaupt keine Rolle bei der Bewertung der "Reife" im strafrechtlichen Sinne spielen.

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Es kommt auch sehr auf die Umstände des Einzelfalls an. Nicht alle, die wegen der Wohnungsknappheit (oder aus anderen Gründen) noch zuhause wohnen, lassen sich von Mama (oder Papa) bekochen und die Wäsche waschen. Man kann das mit volljährigen Kindern auch eher als WG organisieren, was den Realitäten und beiderseitigen Bedürfnissen im Normalfall wohl eher gerecht wird als der bei jüngeren Kindern normale Versorgungsmodus.

Absolut. Notwendig ist eine Abwägung aller Umstände, nicht nur des Wohnens bei Mami und Papi. Es geht nur um die Behandlung dieses Kriteriums, und da habe ich an der Argumentation der JGH erhebliche Zweifel.

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