Urteil nicht rechtzeitig abgesetzt? Vielleicht? Zweifel gehen zugunsten des Betroffenen/Angeklagten!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 24.07.2019
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht1|8787 Aufrufe

Das ist schon eine interessante Konstellation. In der Akte fehlt der Vermerk über den Eingang des abgesetzten Urteils. Die sonstigen Umstände legen vielleicht nahe, dass das Urteil rechtzeitig zur Akte gelangt ist - sicher ist dies aber nach Ansicht des OLG nicht. Verteidiger werden Akten auch hierauf prüfen müssen! (Zum Verständnis: "Judica" ist das zur Aktenbearbeitung genutzte System in der Justiz NRW)

 

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Antragsschrift vom 09.05.2019 Folgendes ausgeführt:

„I.

Das Amtsgericht Paderborn - 66 Ls 30/17 - hat den Angeklagten durch Urteil vom 25.09.2017 wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln im besonders schweren Fall in sieben Fällen, davon in einem Fall tateinheitlich mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt (Bl. 242 ff. d.A.). Auf die gegen dieses Urteil gerichtete Berufung des Angeklagten vom 26.09.2017 (Bl. 239 d.A.) und der Staatsanwaltschaft vom 27.09.2017 (Bl. 231 d.A.) hat das Landgericht Paderborn durch Urteil vom 22.03.2018 die Berufungen mit der Maßgabe verworfen, dass zusätzlich die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet wurde (Bl. 323 ff. d.A.).

Gegen dieses in Anwesenheit des Angeklagten verkündete (Bl. 306 ff. d.A.) und auf Anordnung der Vorsitzenden vom 23.09.2018 (Bl. 357 d.A.) seinem Verteidiger am 08.10.2018 zugestellte (Bl. 359 d.A.) Urteil hat der Angeklagte mit am 23.03.2019 bei dem Landgericht Paderborn eingegangenem (Bl. 315 d.A.) Schreiben seines Verteidigers vom selben Tag Revision eingelegt und diese mit am 07.11.2018 bei dem Landgericht Paderborn eingegangenem Schreiben seines Verteidigers vom selben Tag mit der Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts begründet (Bl. 375 d.A.).

II.

Die rechtzeitig eingelegte sowie form- und fristgerecht begründete Revision ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg.

Es liegt der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO vor, da die Urteilsabsetzungsfrist des § 275 Abs. 1 S. 1 StPO nicht eingehalten wurde. Es kann nicht nachvollzogen werden, zu welchem Zeitpunkt die schriftlichen Urteilsgründe auf der Geschäftsstelle eingegangen sind. Einen Eingangsvermerk enthält das Urteil nicht. Ein konkretes Eingangsdatum ergibt sich auch nicht aus dem Vermerk der Vorsitzenden vom 23.09.2018 (Bl. 357 d.A.). Soweit sich aus dem Judica-Auszug (Bl. 358 d.A.) ergibt, am 26.03.2018 sei der Eingang eines Tonträgers „Urteil/Verwerfung…“ auf der Geschäftsstelle erfasst worden, ergibt sich nicht zwingend, dass zu diesem Zeitpunkt auch die schriftlichen Urteilsgründe vorlagen. Der Eingang des Tonträgers alleine ist jedoch für die Einhaltung der Absetzungsfrist nicht ausreichend (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 275 Rn. 3).“

Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat nach eigener Prüfung an und ergänzt:

Geht man davon aus, dass die Akten chronologisch geführt sind, was hier allerdings nicht sicher ist, weil sie zwischenzeitlich in Verlust geraten waren (vgl. Vermerk vom 23.09.2018 Bl. 357 d. A.), so könnte das vollständig abgefasste Urteil zwischen dem 06.04.2018 und dem 12.07.2018 zu den Akten gelangt sein, möglicherweise also innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist. Die Vorsitzende konnte sich an eine fristgerechte Absetzung nicht erinnern und hat bzgl. des Eingangs des Diktats auf den Judica-Eintrag vom 26.03.2018 verwiesen. Die Geschäftsstellenmitarbeiterin hat selbst keine eigene Erinnerung daran, wann das vollständig abgefasste und unterschriebene Urteil vorlag, dass sie aber davon ausgehe, dass das Urteil am Tag der Registrierung in Judica vorlag. Neben dem Eintrag vom 22.03.2018, der sich offenbar nur als Eintrag des Ergebnisses der an diesem Tag durchgeführten Hauptverhandlung darstellt, ist am 26.03.2018 der Eingang eines Tonträgers vermerkt. Außerdem findet sich der Vermerk „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 26.03.2018“, was sich offenbar auf die genehmigten Änderungen im Protokoll bezieht.

Der Ausdruck aus Judica zum Verfahrensgang weist unter dem Datum 26.03.2018 folgenden weiteren Eintrag auf: „Eingangsdatum eines vollständigen Urteils/Entscheidung erfasst durch Benutzer M“. Dies könnte zunächst darauf hindeuten, dass ein vollständiges Urteil am 26.03.2018 auf der Geschäftsstelle vorlag, wobei aber unklar bleibt, ob dieses auch unterschrieben war (es hätte dann am Tag des Diktateingangs noch geschrieben, der Vorsitzenden vorgelegt, von dieser gelesen und unterschrieben werden sowie zur Geschäftsstelle zurückgelangen müssen). Die dienstliche Stellungnahme der Geschäftsstellenmitarbeitern vom 28.04.2019 ergibt keine weitere Aufklärung hierzu. Ihre weitere dienstliche Stellungnahme vom 27.05.2019 geht dahin, dass eine eigene Erinnerung nicht bestünde, sondern dass sie „dies“ nur so dem Judica-Eintrag entnehmen könne. Das lässt sich einerseits so verstehen, dass mit „dies“ ein vollständiges und unterschriebenes Urteil vorlag, andererseits aber auch so, dass lediglich auf den Judica-Eintrag (der aber selbst insoweit unklar ist) verwiesen wird. Es findet sich zudem der Eintrag „Urteil/Verwerfung der Berufung zu Beschuldigten H, T geändert am 04.07.2018 durch Benutzer M“. Insoweit bleibt auch nach der dienstlichen Stellungnahme vom 27.05.2019 gänzlich unklar, worum es sich hierbei gehandelt hat, insbesondere ob womöglich erst zu diesem Zeitpunkt ein vollständiges und unterschriebenes Urteil zu den Akten gelangt war. Die Zustellung des angefochtenen Urteils wurde durch die Vorsitzende jedenfalls erst nach Wiederauffinden der Akten am 23.09.2018 verfügt.

Letztlich kann sich der Senat nach alledem keine hinreichende Überzeugung davon verschaffen, ob das angefochtene Urteil vollständig abgefasst und richterlich unterschrieben innerhalb der Urteilsabsetzungsfrist zu den Akten gebracht worden ist, wie dies § 275 Abs. 1 StPO gebietet. Zwar kann der Senat auch nicht feststellen, dass die Urteilsabsetzungsfrist versäumt wurde. Gerade in dieser Konstellation greift aber der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 7 StPO ein (Gericke in: KK-StPO, 8. Aufl., § 338 Rdn. 96; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 338 Rdn. 55; Wiedner in: Graf, StPO, 3. Aufl., § 338 Rdn. 146; vgl. auch: BGH, Beschl. v. 03.11.1992 – 5 StR 565/92 -juris). Der Umstand, dass der Verfahrensverstoß nicht sicher feststeht, andererseits aber auch nicht die Wahrung der Frist des § 275 Abs. 1 StPO mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, kann nicht zu Lasten des Angeklagten gehen. Schon nach dem Gesetz wird die Nachweispflicht bzgl. der Fristwahrung den Justizbehörden auferlegt (vgl. § 275 Abs. 1 S. 5 StPO). Der Angeklagte hat auch keinen Einfluss darauf, wie die Akten geführt werden. Ihm würde bei entsprechend lückenhafter Aktenführung und fehlendem Erinnerungsvermögen auf Seiten der in der Justiz befassten Personen jegliche Möglichkeit zum Nachweis des Verfahrensfehlers genommen.

 

OLG Hamm, Beschl. v. 4.6.2019 - 4 RVs 55/19

 

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Es geht noch schräger, wenn das Urteil gegen den Betroffenen überhaupt nicht zu den Akten gelangt und die Nachfolgerin auf- oder besser abräumt:

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Neue Geschäftsverteilung am 1. März 2023, Beschluss vom 13. März 2023. Das nenne ich Tatkraft!

Das ist ganz sicher kein Beschluss, der je in Juris veröffentlicht wird. Und da sich damit auch das OLG niemals befassen wird, bleibt dieser Beschluss schön unter dem Radar. Aber man möchte ja eigentlich schon wissen, was da los war - erst ein "Urteil im Namen des Volkes" und dann ein stiller Rückzug in die Verjährung, weil ein Urteil, dessen Existenz nicht aktenkundig ist, kein Ruhen der Verfolgungsverjährung nach § 32 Abs. 2 OWiG auslöst. Außer Spesen (für den Staat) nix gewesen ...

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