Eine Vergewaltigung in Tateinheit, ein Esel in der Löwenhaut und ein Fuchs ruhigen Glaubens

von Peter Winslow, veröffentlicht am 06.08.2019

Am 6. Juni 2019 hat der Bundesgerichtshof beschlossen, dass der Glaube eines Richters zu einem Verstoß gegen das Gerichtsverfassungsgesetz geführt hat (1 StR 190/19). Die Tatsachen sprechen für sich. Ein Angeklagter stand wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung vor Gericht. Für ihn wurde ein Dolmetscher für die Sprache Dari hinzugezogen. Und »[a]m ersten Verhandlungstag« fand folgender Vorgang statt. Der Vorsitzende belehrte

den Dolmetscher, treu und gewissenhaft zu übertragen. Der Dolmetscher erklärte, er sei öffentlich bestellt sowie allgemein beeidigt, und berief sich darauf. Tatsächlich hatte er keinen allgemeinen Eid [] abgelegt. Da der Vorsitzende den Angaben des Dolmetschers glaubte, sah er davon ab, diesem die Eidesformel nach § 189 Abs. 1 GVG abzunehmen (Rdnr. 3 des Beschlusses vom 6. Juni 2019).

Ein Esel in der Löwenhaut

Bei seiner Angabe, allgemein beeidigt zu sein, wollte der Dolmetscher augenscheinlich nichts anderes als die logische Regel anwenden, nach der sich eine Verallgemeinerung anhand einer repräsentativen Mehrzahl von Beispielen rechtfertigen lässt. In seiner Stellungnahme, eingeholt im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen Gegenerklärung, hieß es laut dem Bundesgerichtshof wie folgt: »es habe nach mehreren einzelnen Eidesleistungen (§ 189 Abs. 1 GVG) geheißen, er sei jetzt allgemein beeidigt« (Rdnr. 7). Aber das kraus’sche Diktum gilt weiterhin, »Schein hat mehr Buchstaben als Sein« (F 277–78: 60). Ist der Dolmetscher einem blöden Witz zum Opfer gefallen? Wollte ihm jemand wirklich glauben machen, dass wiederholte Eidesleistungen im Einzelfall zur allgemeinen Beeidigung führen könnten? Wenn ja, wer wollte ihm das glauben machen? Und warum? Er habe dies behauptet. Aber wer das glaubt, wird auch glauben, dass Zitronenfalter Zitronen falten. Denn allein aus diesen vom Bundesgerichtshof wiedergegebenen Worten geht klar hervor, dass der Dolmetscher keine Ahnung hat, was eine allgemeine Beeidigung ist oder bedeutet (siehe unten). Man hätte ihm vielleicht seine Unwissenheit verzeihen können, wenn er nicht hätte erkennen müssen, dass seine Denkweise eine Struktur verkörpert, die zweifelsohne dem Trugschluss der Komposition verwandt ist – etwa so: Der Dolmetscher sei mehrmals im Einzelfall beeidigt worden, also sei er allgemein beeidigt. Dass eine solche Denkweise mit verheerenden logischen und tatsächlichen Tücken behaftet sein kann, wissen wir spätestens seit der Antike.

Ein Fuchs ruhigen Glaubens

Für seinen Teil wollte der Richter augenscheinlich nur rechtliches Denken folgerichtig anwenden. Bei der Kenntnisnahme der Berufung des Dolmetschers auf seine allgemeine Beeidigung begnügte sich der Richter allem Anschein nach damit, dass er auf § 189 Abs. 2 GVG abstellen darf, nach der diese Berufung »vor allen Gerichten des Bundes und der Länder« genügt, soweit der Dolmetscher tatsächlich allgemein beeidigt ist. Der Richter »glaubte«, wie der Bundesgerichtshof ausführt, und handelte entsprechend. Er begnügte sich nämlich mit der sich nun als unrichtig erwiesenen Vermutung, dass der Dolmetscher schon wüsste, was er ist und was er nicht ist. Dass der Dolmetscher sich anhand einer seit der Antike fragwürdigen Denkweise eine Kompetenz zusprechen wollte, die er nicht hat, konnte der Richter allen Ernstes nicht gewusst haben. … Nichtsdestotrotz hat der Bundesgerichtshof beschlossen, dass dieser aus Unwissenheit hervorgegangene Glaube zu einem Verstoß gegen §§ 189, 185 Abs. 1 Satz 1 GVG geführt hat (Rdnr. 4). Kraft höchstrichterlichen Beschlusses wird also festgehalten, dass Unwissenheit vielleicht doch vor Strafe schützt; denn sie reicht nicht nur zur Aufhebung eines Urteils aus, in dem eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren ausgesprochen wurde, sondern auch zur Zurückverweisung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zwecks neuer Verhandlung und Entscheidung. Neues Gesicht, neues Glück.

Einzelne Eidesleistungen do not eine allgemeine Beeidung make

Die allgemeine Beeidigung stellt einen »feststellende[n] Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG« dar (Rdnr. 6). Dieser soll, wie vom Bundesgerichtshof zutreffend ausgeführt, gewährleisten, dass Dolmetscher und Dolmetscherinnen (sowie Übersetzer und Übersetzerinnen) nicht nur »fachlich geeignet und persönlich zuverlässig« sind, sondern auch »die [ihnen] zugedachten Aufgaben zuverlässig und sachgerecht« erfüllen (ebenda). Diese Art der Eidesleistung setzt also »ein besonderes Justizverwaltungsverfahren« voraus, dessen Bezeichnung manchmal das Herz auf der Zunge trägt; zum Beispiel heißt dieses Verfahren in Hamburg Eignungsfeststellungsverfahren. Einzelne Eidesleistungen sind Leistungen ganz anderer Art.

Bei ihnen wird keine Eignung festgestellt. Sie gelten als sogenannte ad-hoc-Beeidigungen und nur im Einzelfall. Auch wenn der Sinn und Zweck einer ad-hoc-Eidesleistung und einer Berufung auf einen allgemeinen Eid in einer Hauptverhandlung dasselbe ist – nämlich »dem Dolmetscher seine besondere Verantwortung im konkreten Fall bewusst« zu machen (Rdnr. 5) – sind sie zwei verschiedene Sprechakte, die jeweils vor einem anderen Hintergrund getätigt werden. Die Berufung auf einen allgemeinen Eid in der Hauptverhandlung erfolgt vor dem Hintergrund eines Verwaltungsakts. Die Eidesleistung in einer Hauptverhandlung erfolgt nicht vor diesem Hintergrund; sie erfolgt nur deswegen, weil der Dolmetscher oder die Dolmetscherin nicht im Rahmen eines entsprechenden Justizverwaltungsverfahrens ordnungsgemäß beeidigt wurde.

Wiederholte Eidesleistungen im Einzelfall sind kein Deus ex Machina. Aus ihnen wird weder ein Verwaltungsakt noch eine Eignung hervorgezaubert, selbst wenn uns der Dolmetscher das im hiesigen Fall glauben machen möchte. Eine Art Eignungsfeststellungsverfahren zur allgemeinen Beeidigung von Dolmetschern und Dolmetscherinnen (sowie Übersetzern und Übersetzerinnen) gibt es in jedem Bundesland. Da es dieses in jedem Bundesland gibt und da die Landesjustizverwaltungen eine Online-Plattform in Form der Dolmetscher- und Übersetzerdatenbank kostenlos zur Verfügung stellen, sind wiederholte Eidesleistungen im Einzelfall höchstens Grund zu der Annahme, dass sich das Gericht oder die Parteien des Verfahrens wiederholte Male keine Mühe machen wollten, einen von den vielen – in der genannten Datenbank geführten – ordnungsgemäß vereidigten Dolmetschern und Dolmetscherinnen zu finden. … Nach einer Recherche der Dolmetscher- und Übersetzerdatenbank vom 6. August 2019 soll es zwar nur einen einzigen Dolmetscher geben, der in Bayern für die Sprache Dari vereidigt ist, aber im ganzen Bundesgebiet soll es 218 vereidigte Dolmetscher und Dolmetscherinnen/Übersetzer und Übersetzerinnen für diese Sprache geben. Was sollte man in diesem Fall glauben? Dass die Justiz entgegen eigenem Interesse auf das ihr zur Verfügung stehende, weil von den Landesjustizverwaltungen bereitgestellte, Fachwissen und -können wiederholt verzichtet hat?

Der Fuchs soll nicht vergessen, aufs Maul zu gucken

Während dieser Fall sicherlich nicht der erste ist, in dem eine nicht überzeugende Denkweise nicht zu einem Verwaltungsakt führen konnte, ist nicht ohne Weiteres klar, ob dieser Fall der erste ist, in dem vermutet werden darf, dass eine solche Denkweise zu einer Unwahrheit geführt hat, die ein Richter gesetzesgetreu glauben durfte – ein Fehler, den der Richter sicherlich nicht noch einmal machen wird. … Der Richter wird etwas gelernt haben. Der einst verurteilte Vergewaltiger wird wieder zum Angeklagten und bekommt eine weitere Chance, infolge eines richterlichen Formfehlers seine Unschuld zu beweisen. Und das Opfer des entsetzlichen Verbrechens darf noch einmal auf Gerechtigkeit hoffen. In diesem Fall haben leider alle außer dem Opfer etwas gewonnen.

Nach alledem sollte die Justiz zusehen, dass sich Richter und Richterinnen von keinem Esel in der Löwenhaut ausfuchsen lassen. Diese sollten gleichsam weder vergessen, aufs Maul gucken zu müssen, noch ruhigen Glaubens auf § 189 Abs. 2 GVG abstellen dürfen. Auch ihnen sollte ihre besondere Verpflichtung in jedem Fall bewusst gemacht werden. Diese GVG-Vorschrift sollte nämlich dermaßen geändert werden, dass nicht die Berufung auf den allgemeinen Eid durch den Dolmetscher bzw. die Dolmetscherin genügt. Vielmehr sollte das Gericht grundsätzlich feststellen müssen, ob der Dolmetscher bzw. die Dolmetscherin tatsächlich allgemein vereidigt ist und entsprechend in die von den Landesjustizverwaltungen geführte Datenbank aufgenommen wurde. Angesichts der heutigen Technik – fast jedes Handy hat ja eine Internetverbindung und einen Browser – dürfte die Erfüllung dieser Anforderung kein besonderes Problem darstellen. Soweit der Dolmetscher oder die Dolmetscherin nicht allgemein vereidigt ist und nicht in dieser Datenbank geführt wird, sollte das Gericht eine ad-hoc-Beeidigung durchführen müssen.

Ich höre den Einwand, dass diese Änderung überflüssig sei, da das Urteil nicht vom Bundesgerichtshof aufgehoben wäre, wenn der Dolmetscher nur die Wahrheit gesagt hätte. Aber solange Esel – in welcher Eigenschaft auch immer – an Hauptverhandlungen teilnehmen dürfen, sollte die Justiz zumindest die prozessrechtliche Förmlichkeit eines Verfahrens nicht von den Aussagen eines einzigen Beteiligten abhängig machen. Die Justiz sollte gewährleisten, dass die prozessrechtliche Förmlichkeit eines Verfahrens im Interesse aller Beteiligten bewahrt wird. Damit und nur damit wird dem Angeklagten und dem Opfer gedient.

 

Siehe auch...

Üpo-Berichterstattung vom 1. August 2019
Rechtslupe-Berichterstattung vom 6. August 2019

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