Erst Amok, dann Terror - zur kriminologischen Bewertung von Anschlägen

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 25.10.2019
Rechtsgebiete: StrafrechtKriminologie2|11966 Aufrufe

Vor gut zwei Jahren schrieb ich hier im Beck-Bog einen Beitrag, der sich mit der kriminologischen Bewertung von Anschlägen befasste. Unmittelbarer Anlass war, dass der Anschlag im Olympiazentrum München (neun Todesopfer) von der Polizei offiziell  als im Wesentlichen unpolitische Einzeltat eines psychisch Kranken eingestuft worden war, dieser Einschätzung aber von drei Gutachtern widersprochen wurde, die eher die (rechts-)terroristische Motivlage hervorhoben.

Ich habe mich von der Forderung nach einer klaren Einstufung distanziert und habe versucht herauszustellen, dass es seit einiger Zeit durchaus politisch motivierte Anschläge von zugleich  auch psychisch gestörten Einzeltätern gegeben hat, die man durchaus als (Einzel-)"Terror" und "Amok" zugleich (Kunstwort "Termok") einstufen könnte und sollte. In diesem früheren Beitrag habe ich auch näher erläutert warum solche Klassifizierungen überhaupt wichtig sind.

Nun hat das Bayerische LKA den Münchener Anschlag von 2016 zu einer politisch motivierten Gewalttat umklassifiziert: Hier ein Auszug aus der Erklärung des LKA; im ersten Absatz sind die Gründe für die bisherige Einstufung, in den dann folgenden Absätzen die Gründe für die Neueinstufung zu erkennen:

Die Ermittlungen haben ergeben, dass die Rache für das erlittene Mobbing durch Mitschüler mit deutscher, deutsch-türkischer, polnischer, serbischer und bosnisch-herzegowinischer Nationalität nach Bewertung aller Umstände maßgeblich zu der Tat geführt hat. Neben das Rachemotiv treten weitere Faktoren, wie insbesondere die psychische Erkrankung, mangelnde soziale Kontakte, exzessives Spielen von Ego-Shootern, die Identifizierung mit Amoktätern und die rassistische Gesinnung. Insbesondere der Hass des David Ali S. auf die Herkunftsländer seiner Mitschüler kommt dabei zum Ausdruck. Die verschiedenen festgestellten Faktoren stehen untereinander in Wechselwirkung und bedingen sich gegenseitig.

Allerdings gibt es auch Anhaltspunkte, dass David Ali S. seine Opfer auch auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit und Herkunft ausgesucht hat. Auch in seinem Manifest äußerte er seine Ablehnung gegen ausländische Menschen eines Münchner Stadtviertels.

Weitere Anhaltspunkte für seine rechtsextremistische Orientierung zeigen sich in anderen massiven ausländer- und menschenfeindlichen Abwertungen und durch sein Interesse an dem rechtsmotivierten Attentäter Breivik. Die langwierigen Überprüfungen verschiedener Online-Plattformen ergaben weitere Hinweise auf rechtes Gedankengut. Auf diesen Plattformen werden vielfach menschenverachtende Kommentare, teils mit rechtsradikal motivierten rassistischen Elementen abgegeben. David Ali S. war auch Mitglied in derartigen Gruppen dieser Plattformen und gab dort Kommentare ab, die nahezu das gesamte Motivbündel widerspiegeln.

Die Tat wird daher vor dem Hintergrund des Motivationsbündels, welches sowohl Anhaltspunkte für das tatleitende Motiv der Rache als auch einer rechten Orientierung u.a. enthält, als Politisch motivierte Gewaltkriminalität -rechts- eingestuft und im Kriminalpolizeilichen Meldedienst in Fällen Politisch motivierter Kriminalität ausgewiesen.

Aber ganz unabhängig von der Klassifizierung als politisch oder unpolitisch motivierte Gewalttat: Erkennbar ist auch in diesem Fall - ähnlich wie schon in Halle vor wenigen Wochen  -  welche kriminologisch bedeutsame Rolle Anschläge wie die in Norwegen 2011 haben können, weit über deren schon grausame unmittelbare Wirkung hinaus: Mit solchen Anschlägen ist eine (negative) Heldengeschichte verbunden, die dazu bereite (ggf. extremistisch motivierte)  Personen  - auch noch nach Jahren - zu Nachahmungstaten motivieren kann. Deshalb gilt auch bei politischen Gewalttaten jeglicher Couleur nach wie vor, dass sich die Presse bei der Namensnennung zurückhalten sollte, vgl. meinen Beitrag hier. Nach dem Anschlag von Halle wurde diese gute Absicht schon nach wenigen Stunden aufgegeben.

 

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2 Kommentare

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Deshalb gilt auch bei politischen Gewalttaten jeglicher Couleur nach wie vor, dass sich die Presse bei der Namensnennung zurückhalten sollte...

Vielleicht sollte man sich überhaupt bei der Berichterstattung über solche Amok-Taten zurückhalten, um Trittbrett-Taten zu vermeiden, ähnlich wie man es schon bei Suiziden praktiziert.

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Die Trennung in Amokläufe und Terroranschläge ist m. E. recht willkürlich. Es dürfte sich um Ausschnitte desselben Spektrums handeln. Die Anschläge vom 11. September 2001 sind, rein objektiv betrachtet, erweiterte Suizide gewesen.

Soweit mir bekannt, wurden alle oder fast alle derartigen Taten durch Täter mit erheblichen sozialen, rechtlichen und/oder wirtschaftlichen Problemen begangen. Die Probleme waren unterschiedlicher Art und Schwere, aber sie haben bei allen offenbar ausgereicht, um eine gewisse Verzweiflung und Selbstaufgabe zu erzeugen. Auch Anders Brejvik, der rein wirtschaftlich offenbar zumindest passabel dastand, ist als sozial isolierter Drop-Out aus der Gesellschaft zu klassifizieren.

Dieser Hintergrund schafft überhaupt erst einmal die Bereitschaft, das eigene Leben oder die eigene Freiheit aufzugeben oder zumindest zu riskieren.

Ob das in Gewaltanwendung gegen sich oder andere umschlägt, gegen wen sich die Gewalt dann richtet, wie viele Opfer es gibt, mögen dann vom sozialen Umfeld, den politischen und religiösen Überzeugungen, den Mitteln und Fähigkeiten des Täters abhängen. Auch spielt natürlich eine erhebliche Rolle, ob es Dritte gibt, die Motivation oder Mittel bestärken.

Daraus ergibt sich m. E., dass für die Prävention nicht nur auf Terrorpropaganda, "die Gamerszene", 8chan o. ä. geblickt werden muss, sondern auf die Klientel, die überhaupt zu solchen Taten bereit ist. Diese Individuen müssten irgendwie in den Kreis der Gesellschaft zurückgeführt werden - im Prinzip also "schlichte" Sozialarbeit.

Richtiger Angriffspunkt ist daher m. E. nicht das Internet, der IS, der Islam oder "lebensfrohe Grundeinstellung von Arabern", sondern dass wir erstens in einigen fernen Regionen der Welt (Nordafrika, Afghanistan usw.), zunehmend aber auch bei uns vor Ort Scharen an jungen, hoffnungslosen Männern haben. Zur Sozialarbeit muss daher Entwicklungshilfe kommen.

Ich sage das jetzt nur ungern: Aber dieses Phänomen hat auch etwas mit der Erwartungshaltung gegenüber Männern und deren (unserer) Selbstwahrnehmung zu tun, also dem "Männerbild". Wenn nicht die Erwartung geschürt würde, dass jeder Mann einen Mercedes aus reinem Gold fährt und an jedem Arm zwei Rolexuhren und drei Frauen hat, wäre die Enttäuschung über die Realität vielleicht nicht so groß, wäre die Bereitschaft für Terroranschläge/Amokläufe nicht gegeben, hätten wir weniger Gewalt.

Nun muss man offen sagen, dass es nicht möglich sein wird, bspw. Nordafrika in absehbarer Zeit auf einen akzeptablen wirtschaftlichen Zustand zu bringen. An Afghanistan beißen sich Invasoren/Zivilisatoren seit über tausend Jahren die Zähne aus. Aber erstens dürfte es ausreichen, zumindest ein wenig Hoffnung zu verbreiten. Und zweitens möge man es zumindest unterlassen, den Funken selbst zu setzen, stabile Gesellschaft zu destabilisieren, auch wenn man meint, dass dies moralisch richtig ist. Man könnte meinen, die westliche Welt habe sich den Schlachtruf gegeben "Lieber Anomie als Diktatur, lieber Hungertod für alle als unrechte Haft für einen!"

Gefragt ist daher, so will ich meinen, weniger die Strafjustiz, vielleicht auch weniger der Kriminologe, als vielmehr der Sozialarbeiter daheim, der Entwicklungshelfer auswärts, der Vernünftige in der Außenpolitik.

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