Ausufernde Jugendgewalt?

von Prof. Dr. Henning Ernst Müller, veröffentlicht am 16.12.2019
Rechtsgebiete: StrafrechtJugendstrafrechtKriminologie105|29002 Aufrufe

Derzeit steht wieder das Thema „Gewalt im öffentlichen Raum“ im Fokus von Medienöffentlichkeit und Politik. Bei einem Zusammentreffen mit einer Gruppe Jugendlicher in der Augsburger Innenstadt wurde ein 49jähriger Mann durch einen Schlag gegen den Kopf tödlich verletzt. Offenbar die Gewalttat eines 17jährigen Jugendlichen. Ob von einem Tötungsvorsatz des inhaftierten Haupttatverdächtigen oder von einem Gehilfenvorsatz zur Tötung bei den anderen inhaftierten Gruppenangehörigen ausgegangen werden kann, ist fraglich (dazu u.a. Thomas Fischer, Spiegel Online). Doch liegt die rechtliche Prüfung zunächst bei der Augsburger Staatsanwaltschaft, die ja offenbar auch über Detailkenntnisse aus der Videoüberwachung verfügt.

In der Diskussion um diese Tat wird allerdings auch von verschiedenen Seiten vorgebracht, in Deutschland zeige sich derzeit ein Trend zu mehr (öffentlichen) Gewaltakten. Männliche Jugendliche und Heranwachsende seien gewalttätiger als früher, insbesondere der höhere Anteil von jungen Männern mit Migrationshintergrund trage seit der vermehrten Aufnahme von Flüchtlingen seit 2015 dazu bei. Die Rede ist sogar von „ausufernder" Gewalt.

Im Kontrast dazu steht die im Hell- wie Dunkelfeld in den letzten zehn Jahren beobachtete und von Kriminologen wie Polizei oftmals berichtete allgemeine Tendenz zum Rückgang von Gewaltdelinquenz, insbesondere von Jugendlichen und Heranwachsenden.

Eine gerade veröffentlichte kriminalstatistische Studie von Stefanie Kemme, Anabel Taefi (beide FH Polizei Hamburg) und Thomas Görgen (DHPol Münster) in der Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe (ZJJ) befasst sich mit Vorhersagen der Jugendkriminalität, wobei geprüft wird, wie zuverlässig solche früheren Angaben die derzeitige Entwicklung der Jugendkriminalität prognostiziert haben. (Kemme, S., Taefi, A., Görgen, T.: Die Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war Vorhersagen der Jugendkriminalität auf dem Prüfstand (ZJJ 2019, 350).

Die Studie kommt dabei zu differenzierten Beobachtungen und Folgerungen, bestätigt aber einen 10-Jahres-Trend: Die Gewaltdelinquenz Jugendlicher und Heranwachsender ist im Rückgang begriffen. Schon seit dem Jahr 2000 im Dunkelfeld, seit 2007 auch im Hellfeld, ist eine klare Tendenz zur Reduktion der Gewaltdelinquenz von Jugendlichen und Heranwachsenden erkennbar.

Der vorrangig beachtete demografische Faktor ist offenbar nicht allein relevant für diese Entwicklung. Ein Rückgang der Jugendgewalt zeigt sich vielmehr auch in den Tatverdächtigenbelastungszahlen (Tatverdächtige pro 100.000 derselben Altersgruppe), bei denen die demografische Entwicklung herausgerechnet wird.   

Zwar macht sich zwischenzeitlich die Zuwanderung einer großen Zahl heranwachsender junger Männer ab 2015 in der Statistik durchaus bemerkbar; der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund an den Tatverdächtigen ist seit 2015 erheblich gestiegen. Aber die jeweiligen Gesamtzahlen der Fälle aus den Jahren 2007 bis 2011 werden nach wie vor unterschritten. 

Der Trend bei der Jugendgewalt entspricht auch den schon aus der PKS erkennbaren allgemeinen Trends: Die Fallzahlen (Gesamtkriminalität und Gewaltkriminalität) sind seit 2007 nahezu kontinuierlich im Rückgang begriffen, 2016 ergab sich in beiden Kategorien dabei eine Steigerung auf den Stand von 2012/2013, seither gingen die Fallzahlen wieder zurück auf (derzeit) das Niveau von etwa 2013/2014, also vor den hohen Zuwanderungszahlen.

Da die Hellfeldzahlen stark von der Anzeigebereitschaft abhängig sind, ist natürlich Vorsicht geboten: Schließlich zeigen die Zahlen der Polizeistatistik nur die Fälle der angezeigten Delikte, und wir wissen, dass viele Delikte, gerade Gewaltdelikte, nicht angezeigt werden – aus unterschiedlichsten Gründen. Nicht nur die absolute Zahl der statistisch erfassten Delikte sondern auch deren strukturelle Zusammensetzung (insbesondere was die Bekanntschaft zwischen Oper und Tatverdächtigen betrifft) weicht wohl erheblich von der empirischen Wirklichkeit ab. Wir können allerdings immerhin davon ausgehen, dass schwerwiegendere Körperverletzungs- und Raubdelikte, die von unbekannten Tätern begangen wurden, eher angezeigt werden als leichte Taten und solche, die von dem Opfer bekannten Tätern begangen wurden. Für die Sicherheit im öffentlichen Raum sind die Zahlen häuslicher Gewaltdelikte mit großem, in der Tendenz weniger gut einschätzbarem Dunkelfeld, weniger bedeutsam.

Deshalb ist auch die Kategorie "Gefährliche und schwere Körperverletzungen auf Straßen, Wegen und Plätzen" (PKS-Schlüssel 222100) so relevant:

Entgegen der öffentlichen Wahrnehmung und der Verbreitung durch Medien ist die Zahl dieser Delikte von einem Höchststand im Jahr 2008 (ca. 73.000 Delikte) bis 2015 (ca. 58.000 Delikte) immerhin um 20 % zurückgegangen (die Zahl von 2007 war allerdings eine Phantasiezahl). Die Fallzahl ist 2016 um knapp 5 % auf 61.000 Delikte angestiegen und stagniert seither. Damit ist auch die Lage der „Gewalt auf deutschen Straßen“ in etwa auf dem Stand von 2012.

Über die Ursachen des Rückgangs können bislang nur Vermutungen angestellt werden: Angeführt werden in der oben genannten Studie, dass wohl einige im Zusammenhang mit Jugendgewaltdelinquenz beobachtete Faktoren betroffen sein können:
- weniger delinquenter Freunde
- reduzierter Alkoholkonsum
- Rückgang von Elterngewalt/gewalttätiger Erziehungsstile
- Zunahme höherer Schulabschlüsse
- verändertes Kommunikationsverhalten aufgrund neuer Technologie

Der tatsächliche Gesamttrend ist so erheblich, dass sämtliche dem Jahr 2009 entstammende Vorhersagen deutlich unterschritten wurden, obwohl diese schon auf einer „Trendextrapolation“ beruhten.

Dazu die Autor_inn_en der o.a. Studie in ihrem Fazit:

„Der Beitrag zeigt, dass der Rückgang der Jugendkriminalität und insbesondere der Gewaltkriminalität stärker war, als mit der Methode der Trendextrapolation abgeschätzt werden konnte. Die im Jahr 2015 einsetzende starke fluchtbedingte Migration nach Deutschland, die zum Zeitpunkt der Prognoseerstellung nicht vorhersehbar war, führte zwar zu einem Anstieg der jungen männlichen Bevölkerung. Dennoch konnte die Zunahme junger Männer den weiteren Rückgang der Gewaltkriminalität lediglich für eine kurze Zeit beenden, ohne einen Aufwärtstrend zu bewirken.“

(...)

„Die Zahl der männlichen und weiblichen Tatverdächtigen ist insgesamt, aber auch in den Deliktsbereichen Gewalt und Raub (…) viel stärker gesunken als die sinkenden Zahlen Jugendlicher und Heranwachsender in der Bevölkerung nahegelegt hätten. Die TVBZ ist in allen diesen Deliktsbereichen gesunken (… Es) zeigte sich in den tatsächlichen Verläufen, dass die Zuwanderung lediglich in den Jahren 2015 und 2016 vorübergehend einen möglicherweise als anomisch zu bezeichnenden Zustand erzeugt hat, der bereits 2017 wieder zu enden begann.“

Dass wir uns über Gewaltakte entrüsten, ist keineswegs kritikwürdig oder gar falsch. Gerade die weit verbreitete Empörung belegt ja, dass unsere Gesellschaft inzwischen eine ist, in der Gewalttätigkeiten zu recht tabuisiert und geächtet werden – und das bleibt sicherlich nicht ohne Wirkung auch auf potentielle Gewalttäter. Aber Fälle, die hohe Aufmerksamkeit der Medien bekommen, sind für die Trendbeschreibung einer Gesamtentwicklung ungeeignet. Die Jugend ist in der vergangenen Dekade nicht gewalttätiger geworden, sondern Jugendgewalt ist  - im Gegenteil - deutlich zurückgegangen. Derzeit spricht viel dafür, dass dieser Trend anhält, auch wenn die Utopie einer gewaltfreien Gesellschaft wohl eine bleiben wird.

 

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105 Kommentare

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Ein weites Feld. Anderswo wird über "Dunkelfeld" debattiert. Ein solches wird willentlich produziert, wenn in Schulen Vorgesetzte und Aufsichtsbehörden darauf  hinwirken , dass Lehrer Straftaten von Schülern NICHT anzeigen. Dunkelfelder werden auch pressekodexgemäß dadurch produziert, dass soziokulturelle Zusammenhänge von Straftaten bewusst NICHT mitgeteilt werden. - In der Tat, auch nach meiner Erinnerung hat es schon längst vor der Jahrhundertwende auch linksterroristische Gewalttaten gegeben, auch Aufrottungen. auch Plünderungen.  Einheitlich seit Jahrzehnten die anscheinend gewollt-drastische Hilflosigkeit der Polizei. Ich hätte doch keinen Zweifel: Megaphon, Aufforderung zur Entfernung, 1mal wiederholt, per Megaphon Warnung vor scharfem Schuss - und mit MP müssten sich doch selbst größere Verbrechermassen bewältigen lassen. Aber Hass und Verachtung richten sich ja gegen den rechtsgetreuen Normalbürger. Ein Polizist erschießt einen Verbrecher - wenn Franzose, bekommt er an den Hals einen Orden, wenn Deutscher: ein Strafverfahren. Recht und Rechtsstaat verkommen zur Lachnummer - ungehindert Besetzung von Braunkohlenbaggern in diesen Tagen. Die Verbrecher müsste man doch mit einem Schuss herunterkriegen können, oder?

Ach ne, Verhältnisse wie in den USA mit scharfen Schüssen sind doch keine Lösungen, wenn einer auf einen Braunkohlebagger geklettert ist. Probates Mittel: Beschallung mit den Wildecker Herzbuben (Herzilein, Do muát nicht traurig sein ....), Trio (Da, da da, ich lieb' dich nicht, du liebst mich nicht ....) oder Freddy Quinn (Junge, komm bald wieder ....). Einige Stunden dürften evtl. schon reichen.

Eine alte, erprobte Technik.

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Gibt, es Gast 06-29   20.22 Uhr, ein zeitliches Limit, wegen Rechtsbruch gefälligst hinzunehmen ist?  Bedeutet Rechtsstaat , dass das Recht zeitlich länger sehenden Auges und unverhindert gebrochen werden darf? Einem solchen Rechtsweistumskünder würde ich weniger gern folgen, wenn ich in der Bonner Siegaue  als Frau mt Bedrohung durch eine Kettensäge mit gespreizt gedrückten Beinen rücklings läge und vergewaltigt würde. - Was Sie zu USA wohl andeuten wollen - Präsident Trump hat Ähnlichkeit mit dem Ankündigungs-Seehofer. Große Versprechungen - aber geschossen wird ja doch nicht. Auch Plünderungen, mindestens wenn von political correct Genehmen, sollen also  länger unbekämpft bleiben?

Ich hatte auf Ihr Baggerbeispiel geantwortet.

Grundlage für Bundes-Polizeigewalt ist immer das UZwG:

§ 4 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit(1) Die Vollzugsbeamten haben bei der Anwendung unmittelbaren Zwanges unter mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen diejenigen zu treffen, die den einzelnen und die Allgemeinheit am wenigsten beeinträchtigen.(2) Ein durch eine Maßnahme des unmittelbaren Zwanges zu erwartender Schaden darf nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen.

 und Landespolizeirecht, wie das PolG NRW:

§ 2 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

(1) Von mehreren möglichen und geeigneten Maßnahmen hat die Polizei diejenige zu treffen, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt.

(2) Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

(3) Eine Maßnahme ist nur solange zulässig, bis ihr Zweck erreicht ist oder sich zeigt, dass er nicht erreicht werden kann.

Schusswaffeneinsatz in NRW siehe PolG §§63 - 66

In BaWü gibt es auch ein PolG, siehe dort zu Schusswaffeneinsatz auch §§49 -54a.

Rambo, Terminator und Co. lieber hier nur im Kino aufführen. Ende.

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Alles immer eine Frage der Verhältnismässigkeit, der Verhältnisse in einer Gesellschaft und in den Parlamenten, damit auch der politischen Mehrheiten in einer Demokratie auf die längere Sicht.

Daraus ziehen die Einen ihre Schlüsse, Andere ziehen daraus andere Schlüsse, so ist das eben.

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