Beschlussverfahren nach § 72 OWiG: Beschluss muss schon ähnlich einem Urteil aussehen!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 20.12.2019
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2849 Aufrufe

Eigentlich könnte man denken: Wenn doch im Beschlussverfahren nach § 72 OWiG sowieso keine HV stattfindet, sondern einfach nur die Akte ausgewertet wird, dann kann man ja auch nur "Gründe light" schreiben. Stimmt nicht. Vielmehr ist der Beschluss nach § 72 OWiG ein "verkapptes Urteil":

 

I. Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss des Amtsgerichts vom 11. Juli 2019 mit den zugehörigen Feststellungen sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.

 II. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückverwiesen.

 Gründe: 

 I.

 Das Amtsgericht hat gegen den Betroffenen im schriftlichen Verfahren nach § 72 OWiG mit Beschluss vom 11.07.2019 u.a. wegen einer als Führer eines Pkw auf einer Staatsstraße begangenen Überschreitung der innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 27 km/h (Tatzeit: 11.07.2018) entsprechend den Festsetzungen im Bußgeldbescheid vom 08.01.2018 eine Geldbuße von 115 Euro festgesetzt sowie gegen den Betroffenen ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats angeordnet. Mit seiner hiergegen gerichteten, wegen der unter dem 08.07.2019 gemäß § 67 Abs. 2 OWiG wirksam erklärten (horizontalen) Einspruchsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch nur noch diesen betreffenden Rechtsbeschwerde rügt der Betroffene die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt, die Rechtsbeschwerde durch Beschluss gemäß § 349 Abs. 2 StPO i.V.m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG als unbegründet zu verwerfen.

 II.

 Das nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG statthafte, nur noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Rechtsmittel erweist sich auf die Sachrüge hin (jedenfalls vorläufig) als begründet, weil die bisherigen Feststellungen des Amtsgerichts den konkreten Rechtsfolgenausspruch nicht tragen. Auf die weiteren Beanstandungen der Rechtsbeschwerde kommt es deshalb nicht an.

 1. Wenn auch im auf ‚verwaltungsrechtliche Pflichtenmahnung‘ zielenden Bußgeldverfahren als Massenverfahren entsprechend seinem auf summarische Erledigung angelegten Zweck hinsichtlich der Abfassung der Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind, kann andererseits für den Inhalt des Urteils in Bußgeldsachen prinzipiell nichts anderes als für Urteile in Strafsachen gelten. Denn auch im Bußgeldverfahren bilden die Urteilsgründe die alleinige Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Die Urteilsgründe müssen deshalb nach § 71 OWiG i.V.m. §§ 261, 267 Abs. 1, Abs. 3 StPO auch in Bußgeldsachen derart beschaffen sein, dass ihnen das Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen der Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen der Tatrichter zu den objektiven und subjektiven Tatbestandselementen getroffen hat und welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen von Nebenfolgen zugrunde liegen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, diese auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (st.Rspr., vgl. u.a. OLG Bamberg, Beschluss vom 19.07.2017 - 3 Ss OWi 836/17 = OLGSt StPO § 267 Nr 35; 29.12.2016 - 3 Ss OWi 1566/16 = OLGSt StPO § 267 Nr 33; 14.11.2016 - 3 Ss OWi 1164/16 = DAR 2017, 89 = OLGSt StPO § 267 Nr 31; 14.11.2016 - 3 Ss OWi 1164/16 = DAR 2017, 89 = OLGSt StPO § 267 Nr 31; OLG Bamberg, Beschluss vom 05.05.2008 - 3 Ss OWi 300/08 = VRS 114 [2008], 456 = VerkMitt 2008, Nr 47 und OLG Bamberg, Beschluss vom 09.07.2009 - 3 Ss OWi 290/09 = OLGSt StPO § 267 Nr. 22 = DAR 2009, 655 [Ls] = VRR 2010, 32 [Gieg]; KG, Beschluss vom 9.10.2015 - 162 Ss 77/15 = VRS 129 [2015], 137; OLG Jena, Beschluss vom 15.02.2008 - 1 Ss 313/07 = VRS 114 [2008], 458; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 15.09.2016 - 2 [7] SsBs 507/16 [bei juris] und schon v. 16.10.2006 - 1 Ss 55/06 = NZV 2007, 256; vgl. auch Gieg/Olbermann DAR 2009, 617, 622; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. [2017] § 71 Rn 43 ff.; KK/Senge OWiG 5. Aufl. [2018] § 71 Rn 106; und Burhoff [Hrsg.]/Gieg, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren, 5. Aufl. [2018], Rn. 135 ff., jeweils m.w.N.).

 2. Für die Begründung einer im Beschlusswege erlassenen Entscheidung gelten gemäß § 72 Abs. 4 und Abs. 5 OWiG die vorstehenden Ausführungen insbesondere auch mit Blick auf die Erwägungen für die Bemessung der Geldbuße und für die Nebenfolgen entsprechend und grundsätzlich ungeschmälert (st.Rspr.; vgl. zuletzt u.a. OLG Hamm, Beschluss vom 09.05.2019 - 4 RBs 144/19; KG, Beschluss vom 16.01.2019 - 122 Ss 146/18 und OLG Bamberg, Beschluss vom 27.11.2018 - 2 Ss OWi 1359/18 [sämtliche bei juris]; ferner u.a. Beck-OK/Hettenbach [Stand: 15.06.2019; 23. Edit.] § 72 Rn 41 f.; Bohnert/Krenberger/Krumm OWiG 5. Aufl. § 72 Rn 42; Göhler/Seitz/Bauer OWiG 17. Aufl. § 72 Rn. 63 und Burhoff [Hrsg.]/Gieg, a.a.O., Rn. 477 ff., 483, jeweils m.w.N.).

 3. Diesen Mindestanforderungen werden die Beschlussgründe des Amtsgericht nicht gerecht, weil auf eine konkrete Darstellung der „im Fahreignungsregister gemäß der erholten Auskunft vom 27.05.2019“ enthaltenen und noch verwertbaren „vier Eintragungen“ des Betroffenen einschließlich der deshalb gegen ihn festgesetzten Rechtsfolgen und Angaben zum jeweiligen Rechtskrafteintritt der früheren Zuwiderhandlungen, zu den Erlasszeitpunkten der früheren bußgeldrechtlichen Vorahndungsentscheidungen und nicht zuletzt durch die Mitteilung zu den diesen zugrunde liegenden (früheren) Tatzeiten verzichtet wird.

 Auf eine hinreichend aussagekräftige, namentlich vollständige und präzise Mitteilung der im maßgeblichen Zeitpunkt des Beschlusserlasses nach § 72 OWiG noch verwertbaren, d.h. noch nicht tilgungsreifen Vorahndungen des Betroffenen in den Beschlussgründen durfte schon deshalb nicht verzichtet werden, weil aufgrund des Bußgeldbescheids und des bereits dort vorgesehenen Fahrverbots die konkrete Möglichkeit einer Fahrverbotsverhängung nahe lag. Dies gilt insbesondere dann, wenn Vorahndungen des Betroffenen nicht nur ausdrücklich bußgelderhöhend verwertet worden sind, sondern - soweit aus den Beschlussgründen nachvollziehbar - offenbar gerade aufgrund der einschlägigen Vorahndungslage des Betroffenen die Anordnung eines Fahrverbots wegen eines beharrlichen Pflichtenverstoßes gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 2. Alt. StVG (innerhalb oder außerhalb eines Regelfalls im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 2 BKatV) in Betracht kam, zumal sich der Betroffene nach dem rechtskräftigen Schuldspruch des Bußgeldbescheids tateinheitlich mit dem verfahrensgegenständlichen Geschwindigkeitsverstoß auch wegen Missachtung eines Überholverbots schuldig gemacht hat (zu den Anforderungen für die Wertung eines Pflichtenverstoßes als ‚beharrlich‘ zuletzt statt aller BayObLG, Beschluss vom 17.07.2019 - 202 ObOWi 1065/19 bei juris m. zahlr. weit. Nachw.).

 III.

 Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Mangels ist der angefochtene Beschluss mitsamt den Feststellungen aufzuheben (§ 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG, § 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 6 OWiG).

 IV.

 Die Entscheidung ergeht durch Beschluss nach § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG.

 Gemäß § 80a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

BayObLG BeckRS 2019, 28055

 

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