„Ausgangsbeschränkungen“ vs. Öffentlichkeitsgrundsatz – ein Dilemma!
von , veröffentlicht am 30.03.2020Prozessmaxime des Öffentlichkeitsgrundsatzes
Art. 6 I 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention und – im nationalen Recht damit inhaltlich korrespondierend – § 169 GVG verlangen, dass grundsätzlich. jede Person die Möglichkeit hat, von der Durchführung einer Hauptverhandlung einschließlich Zeit und Ort „Kenntnis zu erlangen“ sowie an dieser „als Zuhörer teilzunehmen“ (BeckOK GVG/Walther GVG § 169 Rn. 3 m.w.N.). Schutzzweck des Öffentlichkeitsgrundsatzes ist die Transparenz der gerichtlichen Entscheidungsfindung, die der Allgemeinheit die Kontrolle über die Gerichte ermöglichen und ihr Vertrauen in die Rechtsprechung stärken soll (BeckOK StPO/Valerius EMRK Art. 6 Rn. 18 m.w.N.).
Mit anderen Worten:
Es gilt zu verhindern, dass „die Tätigkeit des Gerichts hinter verschlossenen Türen in ein Dunkel gehüllt und dadurch Missdeutungen und Argwohn ausgesetzt ist“ (MükoStPO/Knauer/Kudlich StPO § 338 Rn. 125 m.w.N.).
Im Strafverfahren begründet ein dem Gericht zurechenbarer Verstoß gegen die Vorschriften über die Öffentlichkeit einen absoluten Revisionsgrund (§ 338 Nr. 6 StPO).
Flächendeckende Anordnung von bußgeldbewehrten „Kontaktsperren“
Soweit ersichtlich haben seit dem 20.03.2020 bis heute alle Bundesländer Regelungen erlassen, die u.a. ein Verlassen der eigenen Wohnung grundsätzlich untersagen und lediglich ausnahmsweise im Falle triftiger Gründe gestatten.
Ein Überblick über die verschiedenen Regelungen der Bundesländer findet sich hier: https://kripoz.de/2020/03/25/straf-und-ordnungswidrigkeitenrechtliche-massnahmen-des-bundes-und-der-laender-im-zusammenhang-mit-der-corona-pandemie/
In Bezug auf das vorliegend interessierende Spannungsfeld zwischen der „Prozessmaxime des Öffentlichkeitsgrundsatzes“ einerseits und den geltenden „Ausgangsbeschränkungen“ andererseits können drei verschiedene Fallgruppen unterschieden werden:
Die Kontaktsperre …
- sieht keine Ausnahmen für (Öffentlichkeits)besuche bei Gericht vor (so z.B. in Bayern, NRW, Rheinland-Pfalz)
- sieht Ausnahmen ausschließlich für Verfahrensbeteiligte eines Gerichtsverfahrens vor (so z.B. in Berlin und Sachsen)
- nimmt den Besuch bei Gerichten und Behörden ausdrücklich von den Beschränkungen aus
Jedenfalls in den Fällen (1) und (2) gibt es m. E. begründeten Anlass, über eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes gem. § 169 GVG nachzudenken.
Ungeachtet der Frage einer (erforderlichen) verfassungskonformen Auslegung der entsprechenden Regelungen wird man wohl nicht ausschließen können, dass eine Person die sich aktuell als Zuhörer auf dem Weg zu einer Gerichtsverhandlung befindet, im Falle einer polizeilichen Kontrolle unerwartet Betroffener eines Ordnunsgwidrigkeitenverfahrens werden kann. Läuft es für ihn schlechter, etwa weil er in der U-Bahn drei weitere am Verfahren interessierte Zuhörer trifft und man den Weg zum Gerichtsgebäude gemeinsam fortsetzt, könnte sogar der Anfangsverdacht einer Straftat gem. § 75 Abs. 1 Nr. 1 IFSG im Raum stehen (Verstoß gegen die Ausgangsbeschränkungen in Gruppen i.S.d. § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG). Letztere kann auch fahrlässig begangen werden (§ 75 Abs. 4 IfSG).
Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang, dass die Rechtsprechung eine Verletzung des Öffentlichkeitsgrundsatzes auch dann bejaht, wenn aufgrund starken psychischen Drucks eine Hemmschwelle erzeugt wird, aufgrund derer sich der Betroffene an dem Zugang zur Verhandlung gehindert sieht (vgl. BeckOK GVG/Walther GVG § 169 Rn. 8 m.w.N.; für den Fall abschreckend wirkender Sicherungsmaßnahmen), kommt es auf das Ergebnis eines solchen Ordnungswidrigkeiten- oder Strafverfahrens gar nicht mehr an.
Verstärkung durch öffentliche Hinweise der Justizverwaltung
Jenseits der aktuell bestehenden Kontaktsperren/Ausgangsbeschränkungen tragen auch die öffentlichen „Empfehlungen“ der Justizverwaltung dazu bei, die interessierte Öffentlichkeit aktuell davon abzuhalten, Gerichtsgebäude als Nicht-Verfahrens-beteiligte zu betreten.
So weist etwa das Bayerische Staatsministeriums der Justiz auf seiner Homepage (https://www.justiz.bayern.de/service/corona/Umgang_Justiz.php) zwar darauf hin, dass der „Zugang zu Gerichtsverhandlungen weiterhin möglich“ sei, um dann jedoch auszuführen:
„Gäste oder nicht am Verfahren beteiligte Personen werden dringend gebeten, auf nicht notwendige Besuche bei Gericht zu verzichten.“
Auf der Homepage des OLG München (https://www.justiz.bayern.de/gerichte-und-behoerden/oberlandesgerichte/muenchen/) heißt es inhaltlich gleichlautend:
„Zum Schutz Ihrer Gesundheit und der unseres Personals bitten wir Sie, in den kommenden Wochen von nicht zwingend erforderlichen Besuchen unseres Hauses abzusehen.“
Presseöffentlichkeit allein reicht nicht!
Soweit das Bayerische Justizministerium in seinem Internetauftritt unter dem Gesichtspunkt der "Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes trotz Ausgangsbeschränkungen“ darauf hinweist, dass „Gerichtsreportern und Journalisten eine Teilnahme an Gerichtsverhandlungen weiterhin möglich“ und dadurch eine „“Unterrichtung der Öffentlichkeit sichergestellt“ sei, so vermag dieses Argument einen etwaigen Verstoß gegen den Öffentlichkeitsgrundsatz nicht zu heilen. So ist Kern des in Art. 6 I 2 EMRK bzw. § 169 GVG normierten Öffentlichkeitsgrundsatzes ausdrücklich die Gewährleistung einer unmittelbaren Öffentlichkeit (jede Person), nicht lediglich einer durch Medien vermittelten mittelbaren Öffentlichkeit.
Gesetzliche Vorschriften der §§ 171a ff. GVG bieten keinen Ausweg aus dem Dilemma!
Soweit die §§ 171a, 171b, 172, 173 Abs. 2 und 175 GVG dem Gericht die Möglichkeit geben, den Öffentlichkeitsgrundsatz in einzelnen Fällen einzuschränken, sind diese in der hier vorliegende Konstellation erkennbar nicht einschlägig. Dies gilt insbesondere für § 172 Nr. 1a GVG, der nach seinem Wortlaut einen Ausschluss der Öffentlichkeit vorsieht, wenn eine Gefährdung des Lebens, des Leibes oder der Freiheit eines Zeugen oder einer anderen Person zu besorgen ist. So muss nach dieser Vorschrift, die 1992 im Rahmen der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität in das GVG eingeführt wurde, die Gefahr für den Zeugen oder eine andere Person daraus resultieren, dass „wahrheitsgemäße Angaben in öffentlicher Hauptverhandlung gemacht werden“ (BeckOK GVG/Walther GVG § 172 Rn. 5).
Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
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63 Kommentare
Kommentare als Feed abonnierenalfons peus kommentiert am Permanenter Link
Diese Erwägung , 10-03 17:53, hält einer verfassungsrechtlichen Prüfung nicht stand. Art. 2 II GG steht unter Gesetzesvorbehalt, Art. 4 GG nicht. Letzteres erweist sich damit als höherrangig, und jedenfalls nicht nachrangig zu Art. 2 II GG.
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Auch das ist doch Quark.
Der Art. 3 (1) steht auch nicht unter Gesetzesvorbehalt, trotzden greifen jede Menge Gesetz da ein.
Peus und seine Glaubenssätzchen sind schon lustig.
alfons peus kommentiert am Permanenter Link
Welche, 10-03 22:18 ? Eingriff ist nicht, Ungleiches ungleich zu behandeln. Daher ist wohl auch ein progressiver Steuersatz nicht wegen Art. 3 I GG zu beanstanden, oder?
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Kennen Sie nicht z.B. die Arbeitschutzgesetze bzw. -Verordnungen, auch die mit den Höchstlasten?
1. Grenzhublast in kg bei gelegentlichem Heben und Tragen
(weniger als zweimal je Stunde; bis zu 3-4 Schritten)
Lebensalter Frauen Männer
15-18 J. 15 kg 35 kg
19-45 J. 15 kg 55 kg
> 45 J. 15 kg 45 kg
2. Grenzhublast in kg bei häufigem Heben und Tragen
Lebensalter Frauen Männer
15-18 J. 10 kg 20 kg
19-45 J. 10 kg 30 kg
> 45 J. 10 kg 25 kg
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Gilt auch noch für schwächliche Männer und athletische Frauen, Peus.
alfons peus kommentiert am Permanenter Link
Gast 10-04 00:07 - schon mal was von Typisierung gehört? Aber insoweit mögen Sie Recht haben, - ich kenne jenen Rechtsbereich nicht so genau - , eine stattliche Dame könnte eventuell eine Ausnahmegenehmigung erwirken. Manche Frauen trauen sich ja viel zu und haben auch großen Bedarf, wie wohl Frau Claudia R. - die laut BT-Protokoll 70 Millionen hereinlassen will - wieviele davon bei sich? Dann freilich würde sie haben, was laut LG Berlin und Debatte zu sein man mancher anderen Grünen nicht so recht sagen sollte.
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Peus am Sa, 2020-10-03 um 22:01 Uhr:
"Art. 2 II GG steht unter Gesetzesvorbehalt, Art. 4 GG nicht. Letzteres erweist sich damit als höherrangig, und jedenfalls nicht nachrangig zu Art. 2 II GG."
Quark, Art. 4 (3) steht ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt !
Und wenn eine Flüchtlingsmutter mit Kindern sagt:
Art. 6 (4) steht nicht unter Gesetzesvorbehalt, dann sagt Peus wohl, das ist dann höherrangig als Art. 16a (1) i.V.m. (2) - (5).
Genau so wird dann Peus argumentieren, oder ???
alfons peus kommentiert am Permanenter Link
Als ob ich Ihnen, 10-03 03:22 hierzu die Antwort schuldig bliebe ( wie umgekehrt meinem Hinweis auf progressive ESt-Sätze). Man müsste wohl damit beginnen, ob Art. 6 Abs 4 GG dem Inhalt nach eine Weltrechtsregelung sein soll. Sie,"m/w/d", können ja einmal damit hervortreten, ob Sie daraus eine wortlautgemäße Förderung aller "Mütter" - weltweit??!! - ableiten wollen. Klären Sie dann bitte auch gleich die Finanzierungsfrage, bitte. Ich neige bei erster Betrachtung dazu, aus dem enthaltenen Begriff "Gemeinschaft" abzuleiten, dass nur Mütter, die in hiesiger Gemeinschaft hier leben, begünstigt sein sollen. Wenn, dann angesichts des typisch bei Müttern und eben den damit implizit angesprochenen - auch Ungeborenen - Kindern gegebenen Schutzbedarfs. Das gilt dann für alle rechtens hier Lebenden und Weilenden. Art. 16a Abs 2 ff. GG betreffen hingegen Fragen dazu, wer denn eigentlich in solchem Sinne hier in der Gemeinschaft soll weilen und verbleiben dürfen. Hierzu überzeugt mich aus dem ansonsten problematischen Urteil des BVerfG durchaus die dort verfochtene rigorose Abgrenzung Deutschlands und der deutschen Rechtsordnung und Ausgrenzung von Außerdeutschem.
alfons peus kommentiert am Permanenter Link
Korrektur: bezieht sich auf 10-03 22:35 Uhr.
Gast kommentiert am Permanenter Link
Was Sie ansprechen um 08:30 Uhr zeigt doch nur, dass Jura kein Fach ist, in dem es eine Klarheit und Wahrheit und Widerspruchsfreihet geben kann, auch das GG gehört dazu.
Und Ihre Auslegungen des GG sind sowieso irrelevant, denn das steht dem BVerfG alleine zu.
alfons peus kommentiert am Permanenter Link
Mit Ihrem letzten Satz schneiden Sie 11:10 die formelle Verbindlichkeitszuordnung zutreffend an. Klären Sie aber angesichts Ihrer Relevanzbeschränkung mit Herrn Meißner einmal, ob anwaltliches Vorbringen, bzw. mit Herrn Prof. Müller, ob Lehrstuhltätigkeit nun deswegen "irrelevant" sind.
Gast kommentiert am Permanenter Link
Beides sind nur Mosaik-Steinchen für eine hM, mehr aber auch nicht.
Was Prof. Müller dazu vorträgt, ist ein etwas grösseres Mosaiksteinchen für eine hM als andere Beiträge.
Das ganze Mosaik von hM jedoch ergibt immer noch keine Klarheit, absolute Wahrheit und Widerspruchsfreiheit.
Gast kommentiert am Permanenter Link
Auch ist alles, womit sich Jura doch beschäftigt, dem Wirken des Gesetzgebers und der wieder vom Souverän, dem deutschen Volk abhängig. Wie soll denn daher Klarheit, absolute Wahrheit und Widerspruchsfreiheit entstehen können ???
Das ist also per se schon völlig ausgeschlossen.
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