BVerfG zur Pflicht zur Teilnahme an einer strafrechtlichen Hauptverhandlung trotz abstrakter Infektionsgefahr mit dem Corona-Virus

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 16.04.2020
Rechtsgebiete: StrafrechtStrafverfahrensrechtCorona5|3840 Aufrufe

Nach den vielen gesetzgeberischen Aktivitäten folgen nur die ersten Entscheidungen mit strafprozessualen Fragen zum Umgang mit der Corona-Krise. Ich beginne mit einer einstweiligen Anordnung des Bundesverfassungsgerichts vom 1.4.2020 zur Pflicht zur Teilnahme an der strafrechtlichen Hauptverhandlung trotz der abstrakten Gefahr einer Infektion mit dem Corona-Virus (Aktenzeichen 2 BvR 571/20, BeckRS 2020, 4898). Der Beschwerdeführer wendete sich in mehreren Instanzen erfolglos gegen eine Ladung zur Hauptverhandlung, zuletzt an das Bundesverfassungsgericht. Der Tenor der Entscheidung lautet wie folgt:

1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt, da die zugleich erhobene Verfassungsbeschwerde gegen die Ablehnung der Aufhebung zweier Hauptverhandlungstermine - nach derzeitigem Stand - unzulässig ist.

 2. Soweit eine Verletzung des Grundsatzes des fairen Verfahrens und der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung geltend gemacht wird, ist die Verfassungsbeschwerde wegen des Verstoßes gegen den Grundsatz der Subsidiarität unzulässig. Insoweit ist der Beschwerdeführer auf das fachgerichtliche Verfahren zu verweisen; eine Überprüfung der Terminsladung als gerichtliche Zwischenentscheidung durch das Bundesverfassungsgericht kommt nicht in Betracht (vgl. BVerfGE 21, 139 <143>).

 3. Soweit der Beschwerdeführer sich mit der Rüge, ihm drohe im Rahmen der Hauptverhandlung eine gegen Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG verstoßende Gesundheitsgefahr durch die Infektion mit dem Corona-Virus, gegen die Bestätigung der Terminsladung und die im Beschwerdeweg ergangenen Entscheidungen des Landgerichts München II und des Oberlandesgerichts München wendet, steht dem der Grundsatz der Subsidiarität zwar nicht entgegen, weil die behaupteten Gesundheitsgefahren im Wege des nachgelagerten fachgerichtlichen Rechtsschutzes nicht mehr behoben werden könnten (vgl. BVerfGE 51, 324 <342 f.>). Jedoch genügt die Antragsschrift des Beschwerdeführers - nach derzeitigem Stand - den Begründungs- und Substantiierungserfordernissen der § 23 Absatz 1 Satz 2, § 92 BVerfGG nicht. Sie setzt sich weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht mit den vom Landgericht durchgeführten Schutzvorkehrungen auseinander (vgl. BVerfGE 105, 252 <264>; BVerfGK 14, 402 <417>), sondern behauptet pauschal und ohne hinreichenden Beleg, nur ein "absolutes Kontaktverbot" könne eine Infektion verhindern. Insbesondere hat der Beschwerdeführer nicht hinreichend substantiiert dargelegt, dass die getroffenen Schutzmaßnahmen für einen Infektionsschutz offensichtlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind oder erheblich hinter dem Schutzziel zurückbleiben (vgl. BVerfGE 77, 170 <215>; 92, 26 <46>; 125, 39 <78 f.>; 142, 313 <337 f. Rn. 70>).

 

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5 Kommentare

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Genau eine solche, hier dem ASt auferlegte, konkretisierende Schutz- und Gefahrenpräzisierung  incl. daraus folgender Abwägung hätte genau diesem Gericht bei seiner Schandentscheidung 1 BvQ 31/20 obgelegen. Hier ist das Geschwätz vom "nur ein totales Verbot hilft"  zutreffend als Propagandahetze entlarvt worden - in 1 BvQ 31/20 betreibt das Gericht solchen Unfug selbst.

Zitat des Dr. Peus:

Hier ist das Geschwätz vom "nur ein totales Verbot hilft"  zutreffend als Propagandahetze entlarvt worden - in 1 BvQ 31/20 betreibt das Gericht solchen Unfug selbst.

Zitat aus der Entscheidung  1 BvQ 31/20 :

Die Grundentscheidung, ein solches Szenario trotz aller damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Probleme möglichst zu vermeiden, wurde im Übrigen entgegen der Annahme der Antragsteller nicht durch „die Wissenschaft“ getroffen, sondern durch die politisch hierfür Verantwortlichen.

Der überaus schwerwiegende Eingriff in die Glaubensfreiheit zum Schutz von Gesundheit und Leben ist auch deshalb derzeit vertretbar, weil die Corona-Verordnung Berlin und damit auch das hier in Rede stehende Verbot öffentlicher Gottesdienste bis zum 19. April 2020 befristet ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Hierbei ist – wie auch bei jeder weiteren Fortschreibung der Verordnung – hinsichtlich des im vorliegenden Verfahren relevanten Verbots von öffentlichen Gottesdiensten eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen und zu untersuchen, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter – gegebenenfalls strengen – Auflagen zu lockern (vgl. bereits Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 10. April 2020 – 1 BvQ 28/20 -, www.bundesverfassungsgericht.de).

Gleiches gilt mit Blick auf andere Religionsgemeinschaften, die in vergleichbar schwerwiegender Weise betroffen sind, weil für sie die gemeinsame Zusammenkunft ihrer Gläubigen ebenfalls zentraler Bestandteil ihres Glaubens ist.

https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2020/04/qk20200410_1bvq003120.html

Wer hier "Propagandahetze" betreibt, das kann doch dem mündigen Leser überlassen werden.

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Ich respektiere , dass "Gast" (m/w/d) 16.4.     23:21 Uhr immerhin direkt auf die Entscheidung verlinkt hat. Es wird kaum Zufall sein, dass er etwa Tz 14 - deren Erwägungen des VG das BVerfG augenscheinlich kritiloks übernimmt - ncht wieergibt, so etwa: nicht "zuverlässig verhindert", "nicht ausgeschlossen sei" ( im Baumarkt ja wohl auch  nicht), man verlangt "verlässlich sichergestellt " - wie ich sagte: ttal, total, sototal dass es nicht totaler geht. Verbot. Die später selbst in Rede gestellte "Prüfung der Verhältnismäßigkeit", gar eine "strenge", unterbleibt. InTz 14 am 15.4.2020, 1 BvR 828/20, kommt das BVerfG immerhin dazu, einer Stadt wegen eines minderrangigen ( nämlich mit Gesetzesvorbehalt versehenen )  Grundrechts  vorzuhalten und zu beanstanden,  dss sie "nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden hat". Konkret - des Einzelfalls!!!!  Es  ging konkret um die Gemeinde St. Afra, Berlin Propst Dr. Goesche. Missa latina in forma extraordinaria!

  Die Dauer von mehr als  15 Minuten bei Abstand kann es nicht recht sein,  wird ja auch im Bundestag laufend überschritten.   Leider haben die Gemeinde und der Antragsteller das eventuell nicht präzise genug vorgetragen. Aus dem Karlsruher Terrorweistum Tz 14: “beim gottesdiensttypischen gleichzeitigen Sprechen (Beten) und Singen von den Teilnehmern vermehrt potenziell virushaltige Tröpfchen in die Luft abgegeben werden dürften”.   Man hätte als “glaubwürdige” Sachverhaltszeugen engagierte Postkonziliaristen hinzuziehen sollen! Mit grenzenlosem Schauder wäre vorgetragen worden, dass der Priester zum Altar gewendet zelebriert, oder wie die Polem-Argumentateure des Postkonziliaren gern sagen: mit dem Gesicht zur Wand und dem Hintern ( die Edleren: mit dem Rücken )  zum Volk, mit Ausnahme der Lesungen und Schlusssegen. Die Gläubigen haben fast nix, absolut nix zu sagen ( vom Pater noster nur den Schlusssatz: sed libera nos a malo, kein pseudokonziliaroides Patschhändchenhalten,  oder Patschhändchenfriedensgruß, überhaupt nix Taizeroidales ) oder zu singen. Mit den modernen Mitteln von CD hätten sich wunderbar die Gesänge des Ordinariums und des Propriums vortragen lassen. Festlich bis dorthinaus! Selbst das viralgefährdende “Amen” beim Kommunionempfang unterbliebe.  Schlechterdings NICHTS davon stellt das BVerfG in 1 BvQ 31/20 in irgendeine , erst recht keine STRENGE Prüfung der Verhältnismäßigkeit nach den KONKRETEN Umständen des Einzelfalls.  

In meinem Mandantenkreis haben zwar nicht die Mehrheit, aber doch vereinzelte Personen, eine derartige große Angst vor Corona, daß sie, wenn sie gezwungen würden einen geschlossenen Raum mit mehreren fremden Menschen zu betreten, aufgrund ihrer panischen und lähmenden Angst nicht verhandlungsfähig wären.

Ob die Angst der Mandanten tatsächlich sachlich berechtigt ist, oder ob sie objektiv gesehen zu große Angst haben, ist aus meiner Sicht nicht entscheidend, denn ihr psychologischer Ausnahmezustand macht sie objektiv verhandlungsunfähig.

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