OLG Braunschweig zur Aussetzung einer (Über-)Haftsache "zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus"

von Dr. Jörn Patzak, veröffentlicht am 16.04.2020
Rechtsgebiete: StrafrechtStrafverfahrensrechtCorona|2256 Aufrufe

Das OLG Braunschweig hat auf die Beschwerde eines Angeklagten einen Haftfortdauerbeschluss des Landgerichts und einen Haftbefehl des Amtsgerichts vom 4.4.2019 aufgehoben (Beschl. v. 25.3.2020, 1 Ws 47/20, BeckRS 2020, 4624). Der Angeklagte verbüßt aufgrund eines rechtskräftigen Urteils aus dem Jahr 2017 eine langjährige Freiheitsstrafe. Mit Datum vom 4.4.2019 erließ das Amtsgericht Haftbefehl u.a. wegen bandenmäßigen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in der JVA. Aufgrund dieses Haftbefehls ist für den Angeklagten Untersuchungshaft als Überhaft notiert. Am 31.7.2019 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage, mit Beschluss vom 19.12.2019 ließ das Landgericht die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete unter Aufrechterhaltung des Haftbefehls das Hauptverfahren. Die Hauptverhandlung begann am 30.1.2020, Hauptverhandlungstermine waren bis zunächst 17. Juni 2020 terminiert. Mit Beschluss vom 17.3.2020 setzte das Landgericht die Hauptverhandlung zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus aus. Eine weitere Begründung enthält die Aussetzungsentscheidung nicht. Die Haftbeschwerde des Angeklagten war - nicht nur wegen der Aussetzung des Verfahrens zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus - erfolgreich, wie sich aus den amtlichen Leitsätze des OLG Braunschweig ergibt:

 1. Das Beschleunigungsgebot in Haftsachen findet grundsätzlich auch dann Anwendung, wenn die Untersuchungshaft nicht vollzogen wird und lediglich Überhaft notiert ist. Allerdings erfährt das Beschleunigungsgebot in solchen Fällen wegen der geringeren Eingriffsintensität eine Abschwächung.

 2. Der Grad dieser Abschwächung richtet sich stets nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalles. Entscheidend ist insoweit, in welchem Maße der Gefangene in der Strafhaft Beschränkungen nach § 119 StPO unterliegt und ob die Überhaftnotierung der ansonsten denkbaren Unterbringung im offenen Vollzug und/oder der Gewährung von Lockerungen entgegensteht. 

 3. Der Verweis auf die angespannte Terminslage der Verteidiger eines Angeklagten in Untersuchungshaft kann allenfalls eine kurzfristige Verzögerung des Verfahrensfortgangs rechtfertigen. Denn das Recht eines Angeklagten, sich von einem Anwalt seines Vertrauens vertreten zu lassen, gilt nicht uneingeschränkt, sondern kann durch wichtige Gründe begrenzt sein. Ein solcher Grund kann in bestimmten Situationen auch das Beschleunigungsgebot in Haftsachen sein. 

 4. Das Hinausschieben der Hauptverhandlung wegen Terminsschwierigkeiten der Verteidiger ist infolgedessen kein verfahrensimmanenter Umstand, der eine Verzögerung von mehreren Monaten rechtfertigen könnte. Vielmehr muss zwischen dem Recht eines Angeklagten, in der Hauptverhandlung von einem Verteidiger seines Vertrauens vertreten zu werden, und seinem Recht, dass die Untersuchungshaft nicht länger als unbedingt nötig andauert, sorgsam abgewogen werden. Dabei hat auf Grund der wertsetzenden Bedeutung des Grundrechts der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) das Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist regelmäßig Vorrang.

 5. Die Aussetzung der Hauptverhandlung in einer (Über-)Haftsache „zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus“ ist jedenfalls dann nicht gerechtfertigt, wenn sie ohne jegliche Begründung ergeht und der erneute Verhandlungsbeginn ungewiss ist. Der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten und Dritter kann gegenüber dem Recht des Angeklagten auf Aburteilung binnen angemessener Frist vielmehr nur dann überwiegen, wenn die Aussetzung der Hauptverhandlung tatsächlich erforderlich ist, weil ihre Fortführung auch unter Schutzvorkehrungen nicht verantwortbar wäre.

Zum letzten Punkt führt das OLG Braunschweig in seinen Entscheidungsgründen Folgendes aus:

"Das Landgericht Braunschweig hat die am 30. Januar 2020 begonnene Hauptverhandlung durch Beschluss vom 17. März 2020 ,zum Schutz vor der Ausbreitung des Corona-Virus' ohne weitere Begründung ausgesetzt. Ein erneuter Prozessbeginn ist zurzeit nicht absehbar.

Damit ist eine weitere erhebliche Verfahrensverzögerung eingetreten, die aus den unter (2) aa. angeführten Gründen der Aufrechterhaltung des - nicht vollzogenen -Haftbefehls entgegensteht.

Die Aussetzungsentscheidung der Kammer lässt die Aufrechterhaltung des Haftbefehls vom 4. April 2019 (in der Fassung der Haftfortdauerentscheidung vom 19. Dezember 2019) bereits deshalb als unverhältnismäßig erscheinen, weil sie jegliche Begründung vermissen lässt. Insbesondere lässt sich der Aussetzungsentscheidung nicht entnehmen, dass der Schutz der Gesundheit der Verfahrensbeteiligten diese Maßnahme tatsächlich erfordert und eine Fortführung der bereits fortgeschrittenen Hauptverhandlung auch bei denkbaren Schutzvorkehrungen - z.B. ein größerer Abstand zwischen den einzelnen Sitzplätzen der Verfahrensbeteiligten und das Tragen von Schutzkleidung für Wachtmeister - nicht möglich gewesen wäre (vgl. insoweit Beschluss des Verfassungsgerichtshof des Freistaates Sachsen vom 20. März 2020, Vf. 39-IV-20, juris, Rn. 23; keine Haftsache). Schließlich rechtfertigt die Verfahrensaussetzung auch nicht, dass Rechtsanwalt S. aufgrund seiner gesundheitlichen Situation sicherlich die weitere Teilnahme an der Hauptverhandlung derzeit nicht hätte zugemutet werden können. Denn der Beschwerdeführer hat noch zwei weitere Verteidiger, wobei jedenfalls in Bezug auf den erfahrenen Strafverteidiger V. ein besonders erhöhtes Risiko für einen schweren Verlauf bei einer Infektion mit Covid-19 nicht zu erkennen ist."

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