§ 13 Abs. 3a SGB V: Alles Neu macht der Mai

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 09.06.2020
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht7|11347 Aufrufe

Heute mal ein kleiner Ausflug in das Sozialrecht, genauer: das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung. Dort existiert mit § 13 Abs. 3a SGB V seit 2013 eine Vorschrift, deren bisherige Interpretation durch das BSG für viel Verdruss bei den Krankenkassen geführt hat.

(3a)1Die Krankenkasse hat über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des Medizinischen Dienstes, eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden. 2Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und die Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten. 3Der Medizinische Dienst nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung. 4Wird ein im Bundesmantelvertrag für Zahnärzte vorgesehenes Gutachterverfahren gemäß § 87 Absatz 1c durchgeführt, hat die Krankenkasse ab Antragseingang innerhalb von sechs Wochen zu entscheiden; der Gutachter nimmt innerhalb von vier Wochen Stellung. 5Kann die Krankenkasse Fristen nach Satz 1 oder Satz 4 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich mit. 6Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt. 7Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet. 8Die Krankenkasse berichtet dem Spitzenverband Bund der Krankenkassen jährlich über die Anzahl der Fälle, in denen Fristen nicht eingehalten oder Kostenerstattungen vorgenommen wurden. 9Für Leistungen zur medizinischen Rehabilitation gelten die §§ 14 und 24 des Neunten Buches zur Koordinierung der Leistungen und zur Erstattung selbst beschaffter Leistungen.

Der 1. Senat des BSG war hier bislang sehr patientenfreundlich, hat das Fristenregime eng ausgelegt und, wenn die Fristen versäumt wurden, den Versicherten einen Anspruch auf Leistungen schon dann zugestanden, wenn die begehrte Behandlung nur irgendwie in Beziehung zum Leistungssystem der Gesetzlichen Krankenversicherung stand. Möglich war dann auch eine Behandlung, die man landläufig eher als Schönheitsoperation bezeichnen würde, durch einen nicht zugelassenen Leistungserbringer (zB reiner Privatarzt), mit einer nicht zugelassenen Behandlungsmethode und sogar im Nicht-EU-Ausland. Der Versicherte musste auch nicht in Vorleistung treten und sich auf einen Kostenerstattungsanspruch verweisen lassen, sondern konnte direkt auf die begehrte Leistung klagen. Dies alles auf Kosten der Gesetzlichen Krankenkassen, also letztlich der Pflicht-Beitragszahler (statt aller BSG vom 8.3.2016, NZS 2016, 464; vom 11.7.2017, BeckRS 2017, 122324; vom 7.11.2017, NZS 2018, 941; vom 11.9.2018, NZS 2019, 257). Neben viel Zustimmung gab es in Rechtsprechung und Literatur durchaus Kritik an dieser Linie des BSG (vgl. Rolfs/Witschen NZS 2020, 121, 127).

Mit dieser Großzügigkeit ist nun Schluss. Der seit Jahresbeginn personell neu besetzte 1. Senat des BSG hat mit Urteil vom 26.5.2020 gleich mehrere der früheren Entscheidungen über Bord geworfen und zeigt sich nun deutlich restriktiver. Das Gericht selbst fasst in seiner Pressemitteilung wie folgt zusammen:

Stellen Versicherte bei ihrer Krankenkasse einen Antrag auf Leistungen, muss die Krankenkasse hierüber innerhalb kurzer Fristen entscheiden. Versäumt sie diese Fristen, gilt die Leistung als genehmigt (§ 13 Absatz 3a Satz 6 SGB V). Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 26. Mai 2020 (Aktenzeichen B 1 KR 9/18 R) unter Aufgabe seiner früheren Rechtsprechung entschieden hat, begründet die Genehmigungsfiktion keinen eigenständigen Anspruch auf die beantragte Sachleistung.

Sie vermittelt dem Versicherten (nur) eine vorläufige Rechtsposition. Diese erlaubt es ihm, sich die Leistung selbst zu beschaffen. Das bewirkt die vom Gesetzgeber beabsichtigte Verfahrensbeschleunigung und sanktioniert verspätete Entscheidungen der Krankenkasse. Sie muss die Kosten der selbstbeschafften Leistung nämlich auch dann erstatten, wenn nach allgemeinen Grundsätzen der gesetzlichen Krankenversicherung kein Rechtsanspruch auf die Leistung besteht. Dies gilt allerdings nur dann, wenn der Versicherte im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung "gutgläubig" war. Gutgläubig war er dann, wenn er weder Kenntnis noch grob fahrlässige Unkenntnis vom Nichtbestehen des Anspruchs hatte. Die eingetretene Genehmigungsfiktion ist kein Verwaltungsakt und schließt das Verwaltungsverfahren nicht ab. Die Krankenkasse ist deshalb weiterhin berechtigt und verpflichtet, über den Leistungsantrag zu entscheiden. Die durch die Genehmigungsfiktion eröffnete Möglichkeit der Selbstbeschaffung endet, wenn über den materiell-rechtlichen Leistungsanspruch bindend entschieden worden ist oder sich der Antrag anderweitig erledigt hat. Die bestandskräftige Entscheidung über den Leistungsantrag vermittelt dem Versicherten positive Kenntnis darüber, ob er die beantragte Leistung beanspruchen kann. Während eines laufenden Widerspruchs- oder Gerichtsverfahrens bleibt das Recht, sich die Leistung selbst zu beschaffen, erhalten, solange der Versicherte gutgläubig ist.

Dem lag folgender Sachverhalt zugrunde: Der bei der beklagten Krankenkasse versicherte Kläger beantragte zur Behandlung seiner Gangstörung die Versorgung mit dem Arzneimittel Fampyra. Dieses Medikament ist nur zur Behandlung einer Gangstörung bei Multipler Sklerose zugelassen; der Kläger leidet jedoch an einer anderen Krankheit. Die Beklagte lehnte den Antrag erst nach Ablauf der maßgeblichen Frist ab. Der Kläger hat sich das Medikament nicht selbst beschafft, sondern verlangt die zukünftige Versorgung im Wege der Sachleistung auf "Kassenrezept".

Die Vorinstanzen haben - gestützt auf die bisherige Rechtsprechung des 1. Senats zur Genehmigungsfiktion - die Beklagte verurteilt, den Kläger entsprechend ärztlicher Verordnung mit einem Arzneimittel zu versorgen. Das BSG hat das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben, weil sich allein aus der Genehmigungsfiktion kein Sachleistungsanspruch ergibt, und die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Es bleibt nur ein möglicher Anspruch nach den vom Bundessozialgericht entwickelten Grundsätzen zum Off-Label-Use. Dazu hat das Landessozialgericht - nach seiner Rechtsauffassung folgerichtig - bisher keine Feststellungen getroffen.

BSG, Urt. vom 26.5.2020 - B 1 KR 9/18 R, Pressemitteilung hier.

Diesen Beitrag per E-Mail weiterempfehlenDruckversion

Hinweise zur bestehenden Moderationspraxis
Kommentar schreiben

7 Kommentare

Kommentare als Feed abonnieren

Das Urteil hat mich geschockt.

Aus meiner Sicht wird den Krankenversicherungen ein

großes Tor geöffnet und arme Menschen werden benachteiligt.

Menschen, die keine oder nur geringe finanzielle Mittel

haben, schauen in die Röhre. Aus meiner Sicht

eine große Benachteiligung für diese Menschen.

Dies ist alles andere als sozial. Einfach nur traurig.

Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass dieses Urteil

so nicht vor dem Bundesverfassungsgericht bestehen würde.

0

Hallo Sabine,

vorweg: ich arbeite bei einer großen Krankenkasse :-). Ich begrüße ausdrücklich, dass es den entsprechenden Paragraphen gibt. Vielleicht überrascht dies nun den ein- oder anderen Leser. Ich begrüße es daher, da die meisten Leistungen (im sehr hohen 90er-Prozentbereich) weit vor diesen Fristen entschieden werden. Wenn dies nicht so ist, soll der Patient hierdurch in seinen Rechten gestärkt werden - das ist eine wirklich gute Einrichtung.

Eine schnelle Entscheidung der Krankenkassen beruht darauf, dass viele Anträge eigentlich nur "Formanträge" sind, bei denen die Krankenkasse selber die Voraussetzungen prüfen kann. Länger dauert es, wenn der Gesetzgeber die beantragte Leistung entweder ausgeschlossen hat oder sie nur in sehr wenigen Ausnahmefällen bewilligen darf (z.B. Magenband-OP, Geschlechtsangleichung etc.). Bei solchen Anträgen sind viele Dinge seitens des Kunden zu erfüllen UND NACHZUWEISEN (z.B. Ernährungsberatungen, Diättagebücher, Psychotherapie usw.). Ein Großteil diese Anträge ist aber nicht vollständig, selbst eine ärztliche Verordnung fehlt immer wieder. Anschließend müssen solche Anträge vom Medizinischem Dienst geprüft werden. Dieser ist - anders als Gutachter in der Privatwirtschaft - unabhängig von der Krankenkasse.

Leider hat dieser Paragraph zu einer eklatanten Fehlentwicklung geführt. Die Anzahl der - mit gesundem Menschenverstand völlig aussichtslosen - Anträge auf "Leistungen" (Mountainbike bezahlen, Kuren auf Hawai, Übernahme "Bio"-Nahrung) hat enorm zugenommen. Meine Unterstellung: hier wird gehofft, dass die Krankenkasse zu spät entscheidet und dann auch solche Dinge bezahlt werden. Oder aber auch "normale" Anträge, wie eine handschriftliche Notiz "Ich möchte eine Kur machen".

Solche Anträge werden auch gerne mal unter 50 und mehr Quittungen über Eigenanteile Medikamente "platziert" - warum nur? (s.o.). Auf Anschreiben wird dann gar nicht oder erst nach 14 Tagen reagiert (wenn die Krankenkasse dann z.B. einen Kurantrag zuschickt). Die BEWUSSTE Verzögerung schließe ich daraus, dass teilweise am Tag nach Fristablauf sofort ein Hinweis auf die Verfristung kommt und die Kostenzusage gefordert wird. DIES wird natürlich in den einschlägigen Foren nicht behandelt. Offensichtlich haben sich hier - genau wie in der Abmahnszene - bereits einige Anwälte spezialisiert. Leidtragende sind dann übrigens nicht die Krankenkassen, sondern die Versichertengemeinschaft, die diese Kosten über ihren Beitrag tragen muss.

Eine Benachteiligung von armen Menschen wie du schreibst, gibt es hier nicht. Die Entscheidungen werden nicht nach Einkommen, sondern nach medizinischer Notwendigkeit und Grundlage im Gesetz getroffen. Wenn Leistungen nicht bewilligt werden können, dann ist es halt so. Eine Kur auf Hawaii ist eben keine Leistung der Krankenkasse. Wenn eine Kur notwendig ist, bekommt der Kunde diese grundsätzlich auch (manchmal weicht aber die medizinische Notwendigkeit und das Empfinden des Kunden voneinander ab. Wenn der verordnende Arzt dies auch so sieht, gibt es halt den Weg des Widerspruches bzw. Klage).

Da es leider diese schwarzen Schafe bei den Kunden gibt, die die Leistung nur über diesen Paragraphen von Anfang an wollen, blieb den Krankenkassen im Zweifelsfall halt nur eine Ablehnung. Dies immer dann, wenn der Kunde einfach nicht reagiert und fehlende Unterlagen nicht einreicht (weil er halt nur über diese Verfristung eine Chance hätte, die Leistung zu bekommen). Am Anfang haben wir dies aus Kundenfreundlichkeit nicht getan, mussten aber lernen, dass es leider solche Menschen gibt. Eine Ablehnung bedeutete dann ein für den Kunden aufwändigeres Verfahren im Rahmen des Widerspruches.

Daher begrüße ich beides: Den Grundsatzgedanken des § 13 aber auch die modifizierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts. BEIDES trägt letztendlich zu einer besseren Versorgung der Kunden bei.

0

Meine Erfahrungen sind andere. M. E. werden Krankenkassen wir Wirtschaftsunternehmen geführt und diejenigen Leistungen willkürlich versagt, die nicht explizit im Katalog stehen; auch weil ein § 2 Abs. 1a SGB V unbekannt ist, bzw. Krankenkassen glauben, es müsste eine diesbezüglichen Nichtanwandungserlass geben. Daneben gehe ich davon aus, dass auch die Krankenkassen unter dem allgegenwärtigen Fachkräftemangel leiden. Das Anspruchsdenken ist von den Patienten auf die Krankenkassen übergegangen. Wozu noch ein mpMRT wenn der Patient eh am Prostatakarzinom stirbt?

0

Ja ja, das Tempo von Verwaltungsentscheidungen! Wenn mir ein Fachmannsagt: im Fläschchen sind 2,5 ml, man braucht für eine Impfdosis 0,3 ml, - ein Arzt kriegt davon auch 6 DOsen heraus- dann brauchte ich ca 8 Sekunden, um zum Schluss zu kommen: ja, passt. Also  sechs zulässig. Insgesamt 15 Minuten, um den Verwaltungsakt mit Unterschrift und Stempel zu fertigen. Die glückbringende EU-Behörde - schafft das nicht so schnell. Daher wohl auch haben die freiheitsliebenden  Briten sich der weiteren Teilhabe an solcher Beglückung entsagt. Dabei darf man Gutes aus demEUlichen Walten nicht übersehen: Fusionskontrollanmeldung - nach ca 3 Wochen: entweder beschieden  oder gilt als genehmigt. Ach, wäre das im deutschen Baurecht herrlich! - Freilich - im Massengeschäft von Krankenkassen ............  Angesichts der debattierten Fatenvaanten wär eigentlich die Anordnung einer Missbrauchsgebühr - wie beim BVerfG - sinnvoll. 

0

Die Krankenkasse verzögert absichtlich einen Antrag, schiebt Fristen immer weiter raus. sind jetzt schon 9 Wochen seit Rezeptbeantragung für Hilfsmittel durch Sanitätshaus.  Unverschämtheit

0

Das ist für die Krankenkassen sehr hübsch, allerdings frage ich mich, welche Konsequenzen es für die Nichteinhaltung der Fristen seitens der Krankenkassen gibt. Ohne Konsequenzen bleibt das Gesetz nicht einmal das Papier wert, auf dem es steht. 

0

Es gibt keine Konsequenzen für die Krankenkassen, dieses gilt insbesondere auch deshalb, weil das SGB V - jedenfalls nach Wertung meiner Krankenkasse - überbewertet ist. So habe ich einen Antrag auf Therapiekostenübernahme gestellt, der nach 18 Tagen erstmals durch Übersendung eines "abzuarbeitenden" 10 Punkteplans bearbeitet wurde und nach weiteren 6 Tagen endgültig abgelehnt wurde. So sollte ich eine Bescheinigung eines Facharztes beibringen. Von 10 kontaktierten Fachärzten haben vier erst gar nicht geantwortet und die anderen sechs wollten mir ggf. eine Bescheinigung erst nach Begutachtung bei Wartezeit von mehr als einem halben Jahr ausstellen. 

0

Kommentar hinzufügen