Unterbringung nach § 64 StGB im Jugendstrafrecht: Vorbewährungsregeln gelten auch hier!

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 22.07.2020
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|4991 Aufrufe

Mal wieder ein prozessuales Schmankerl - der Angeklagte erhielt eine so genannte Vorbewährung nach § 61 JGG. Diese Norm lautet:

 

§ 61

 

Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung

 

(1) Das Gericht kann im Urteil die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung ausdrücklich einem nachträglichen Beschluss vorbehalten, wenn  

 

1. nach Erschöpfung der Ermittlungsmöglichkeiten die getroffenen Feststellungen noch nicht die in § 21 Absatz 1 Satz 1 vorausgesetzte Erwartung begründen können und

 

2. auf Grund von Ansätzen in der Lebensführung des Jugendlichen oder sonstiger bestimmter Umstände die Aussicht besteht, dass eine solche Erwartung in absehbarer Zeit (§ 61a Absatz 1) begründet sein wird.

 

(2) Ein entsprechender Vorbehalt kann auch ausgesprochen werden, wenn

 

 

 

1. in der Hauptverhandlung Umstände der in Absatz 1 Nummer 2 genannten Art hervorgetreten sind, die allein oder in Verbindung mit weiteren Umständen die in § 21 Absatz 1 Satz 1 vorausgesetzte Erwartung begründen könnten,

 

2. die Feststellungen, die sich auf die nach Nummer 1 bedeutsamen Umstände beziehen, aber weitere Ermittlungen verlangen und

 

3. die Unterbrechung oder Aussetzung der Hauptverhandlung zu erzieherisch nachteiligen oder unverhältnismäßigen Verzögerungen führen würde.

 

(3) Wird im Urteil der Vorbehalt ausgesprochen, gilt § 16a entsprechend. Der Vorbehalt ist in die Urteilsformel aufzunehmen. Die Urteilsgründe müssen die dafür bestimmenden Umstände anführen. Bei der Verkündung des Urteils ist der Jugendliche über die Bedeutung des Vorbehalts und seines Verhaltens in der Zeit bis zu der nachträglichen Entscheidung zu belehren.

 

 

Bei dem Angeklagten stellte sich dann die Frage, ob eine vollstreckbare Jugendstrafe zu verhängen ist. Zudem stand die Unterbringung nach § 64 StGB in Rede. Problem: Gilt die Vorbewährung auch für die Unterbringung? "Ja", meint der BGH.

 

 

 

 

 

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Geldfälschung in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in zwei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt und die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Sowohl die Entscheidung über die Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung als auch über die Aussetzung der Unterbringung zur Bewährung hat das Landgericht für die Dauer von sechs Monaten zurückgestellt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat nur in Bezug auf die vom Generalbundesanwalt beantragte Änderung des Schuldspruchs im Tatkomplex III. Ziffer 1 der Urteilsgründe Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf insoweit nur Folgendes:   1. Nach den zu Tatkomplex III. Ziffer 1 der Urteilsgründe rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen kaufte der Angeklagte A. gemeinsam mit dem Mitangeklagten M. und dem anderweitig Verfolgten U. bei dem Mitangeklagten F. insgesamt 200 Gramm Marihuana für 2.000 Euro und bezahlte dieses überwiegend mit Falschgeld, das sie zuvor im Darknet bestellt hatten. Nicht ausschließbar war das Marihuana zum Eigenkonsum der Angeklagten A. und M. bestimmt. Da die damit erworbene Eigenverbrauchsmenge oberhalb des Grenzwertes für die nicht geringe Menge lag, hat sich der Angeklagte A. insoweit neben Geldfälschung wegen Besitzes von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge gemäß § 29a Abs. 1 Nr. 2 BtMG strafbar gemacht. Als Qualifikation verdrängt diese Vorschrift den Erwerb von Betäubungsmitteln nach § 29 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BtMG (vgl. BGH, Beschlüsse vom 5. Juni 2019 – 3 StR 181/19 Rn. 2 und vom 13. März 2013 – 4 StR 547/12 Rn. 8; Weber, BtMG, 5. Aufl., § 29a Rn. 205; Barrot in BeckOK BtMG, 6. Ed., § 29 BtMG Rn. 406; jeweils mwN). Der Senat ändert den Schuldspruch entsprechend ab. Die Vorschrift des § 265 StPO steht der Schuldspruchänderung nicht entgegen, da sicher auszuschließen ist, dass sich der teilgeständige Angeklagte insoweit bei einem entsprechenden Hinweis anders als geschehen hätte verteidigen können.   2. Auch die vom Landgericht angeordnete Zurückstellung der Entscheidung über die Aussetzung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt und der Jugendstrafe zur Bewährung nach § 61 Abs. 1 JGG ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. a) Hinsichtlich der Zurückstellung der Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung in Bezug auf die Jugendstrafe ist das Landgericht ohne Rechtsfehler von einer Anwendung des § 109 Abs. 2 i.V.m. § 61 Abs. 1 JGG ausgegangen, da beim Angeklagten positive Ansätze in seiner aktuellen Lebensführung durch die Einstellung des bisherigen Konsums von Marihuana vor Beginn der Hauptverhandlung sowie durch die Anmeldung und Vorbereitung für die Prüfungen zum qualifizierenden Hauptschulabschluss bestehen. Diese rechtfertigen nach Überzeugung des Landgerichts in absehbarer Zeit eine günstige Prognose für den Angeklagten, wenn es ihm gelingt, auch über einige Monate hinweg drogenabstinent zu bleiben und einer geregelten Beschäftigung – etwa durch eine Berufsausbildung oder eine Bildungsmaßnahme – nachzugehen (UA S. 134).   b) Dieser Vorbehalt der nachträglichen Entscheidung über die Aussetzung nach § 109 Abs. 2 i.V.m. § 61 Abs. 1 JGG gilt in entsprechender Anwendung dieser Vorschrift auch für den hier vorliegenden besonderen Fall einer gleichzeitigen Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB neben der Ahndung mit einer Jugendstrafe. aa) Die Regelung des § 61 JGG trägt dem Erziehungsauftrag des Jugendstrafrechts aus § 2 Abs. 1 JGG Rechnung. Eine gesetzliche Grundlage für eine sog. Vorbewährung in § 61 JGG wurde erstmals mit Art. 1 Ziffer 9 des Gesetzes zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4. September 2012 (BGBl. I 2012, 1854) geschaffen. Dieser Neuregelung vorausgegangen war eine jugendgerichtliche Praxis, die ihre Handlungsmöglichkeiten – auch ohne gesetzliche Normierung unter Rückgriff auf § 8 Abs. 2, § 10 und § 15 JGG analog – um das Institut der sog. Vorbewährung erweitert hatte, um bei erkennbaren positiven Ansätzen, die eine positive Legalprognose demnächst möglich erscheinen lassen, die Entscheidung über die Aussetzungsfrage zurückzustellen. Mit der gesetzlichen Neuregelung sollte für die als sinnvoll und angemessen erachteten Verfahrensgestaltungen im Kontext der "Vorbewährung" ein gesetzlicher Rahmen geschaffen werden, der rechtsstaatlichen Anforderungen genügt (vgl. BT-Drucks. 17/9389, S. 8 f.). Ziel des Gesetzgebers war es damit letztlich, für die weitere Entwicklung des zu einer Jugendstrafe verurteilten Jugendlichen oder Heranwachsenden schädliche Nebenwirkungen eines jugendstrafrechtlichen Vollzugs möglichst zu vermeiden, wenn die Legalbewährung auch auf anderem Weg erreicht werden kann (vgl. BT-Drucks. 17/9389, S. 8; Radtke in MüKo StGB, 3. Aufl., § 61 JGG Rn. 4).   bb) Diese gesetzgeberischen Ziele können – über den Wortlaut des § 61 Abs. 1 JGG hinaus – bei der hier verfahrensgegenständlichen besonderen Fall8 gestaltung eines Zusammentreffens von Jugendstrafe und Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB nur dadurch erreicht werden, dass eine einheitliche Entscheidung über die "Vorbewährung" für beide jugendgerichtlichen Sanktionsmöglichkeiten getroffen wird. Dies gilt insbesondere auch wegen des durch § 5 Abs. 3 JGG vorgegebenen sachlichen Zusammenhangs zwischen Strafe und Unterbringung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. Dezember 2013 – 2 StR 154/13 Rn. 4 mwN). Von einer geschlossenen Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gehen vergleichbare Wirkungen wie beim Vollzug der Jugendstrafe aus. Eine Beschränkung einer "Vorbewährung" nach § 61 JGG allein auf die Verhängung einer Jugendstrafe würde hier zu Wertungswidersprüchen in Bezug auf die mit der gesetzlichen Regelung verfolgte Zielsetzung führen, einen Vollzug von Jugendstrafe möglichst zu vermeiden. Die nach dem Gesetzeswortlaut bestehende Möglichkeit zur "Vorbewährung" muss daher in dem speziellen Fall einer gleichzeitigen Verhängung von Jugendstrafe und Unterbringung entsprechend ausgedehnt werden. cc) Angesichts der hier ausschließlich begünstigenden Regelung des § 61 JGG steht auch das grundgesetzlich verankerte Analogieverbot im Strafrecht einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs dieser Regelung nicht entgegen (vgl. insoweit Radtke in BeckOK GG, 42. Ed., Art. 103 GG Rn. 39).
 

BGH Beschl. v. 12.5.2020 – 1 StR 569/19, BeckRS 2020, 13936

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