Bindung des Berufungsgerichts an verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen?

von Dr. Oliver Elzer, veröffentlicht am 23.08.2020
Rechtsgebiete: Zivilverfahrensrecht|2629 Aufrufe

Das Problem

In einer WEG-Streitigkeit geht es beim BGH ua um die Frage, wann der Verwalter vom Ausscheiden eines Gesellschafters aus einer GbR erfahren hatte. Die Revisionsanwälte des Gesellschafters rügen, das LG habe insoweit als Berufungsgericht § 529 I Nr. 1 ZPO falsch angewendet. Dies sieht der BGH auch so!

Die Grundsätze

Anders als vom LG angenommen, sei es an eine Beweiswürdigung des erstinstanzlichen Gerichts nicht schon dann gebunden, wenn diese vollständig und rechtlich möglich sei und nicht gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstoße. Auch verfahrensfehlerfrei getroffene Tatsachenfeststellungen seien nämlich für das Berufungsgericht nicht bindend, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür bestünden, dass die Feststellungen unvollständig oder unrichtig seien (Hinweis ua auf BGH NJW 2019, 3147 Rn. 65). Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der erstinstanzlichen Feststellungen könnten sich insbes. auch daraus ergeben, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdige als das Gericht der Vorinstanz. Wenn sich das Berufungsgericht von der Richtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung nicht überzeugen könne, so sei es an die erstinstanzliche Beweiswürdigung, die es aufgrund konkreter Anhaltspunkte nicht für richtig halte, nicht gebunden, sondern zu einer erneuten Tatsachenfeststellung nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet (Hinweis ua auf BGH NJW 2019, 3147 Rn. 65).

Die etwas überraschende Lösung

Der LG-Fehler habe sich aber nicht ausgewirkt! Es erscheine ausgeschlossen, dass das LG bei Anlegung des zutreffenden Maßstabes zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. Denn die Revision zeige keine Umstände auf, die für das Berufungsgericht Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der Feststellungen des AG hätten begründen können. Eine Kenntnis des Verwalters vor Ablauf der Fünf-Jahres-Frist des § 160 HGB sei nämlich nicht feststellbar gewesen (warum es auf die Kenntnis des Verwalters ankommt, bleibt leider unausgeführt, obwohl es um eine Kenntnis im Jahr 2002 ging).

Anhaltspunkte iSv § 529 I Nr. 1 ZPO

Anhaltspunkte iSv § 529 I Nr. 1 ZPO sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGH NJW-RR 2018, 651 Rn. 15).

Zweifel können sich insbes. aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem erstinstanzlichen Gericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Ein Verfahrensfehler liegt namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil den Anforderungen nicht genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 I ZPO entwickelt worden sind (BGH NJW-RR 2017, 219 Rn. 10). Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist, oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt.

Zweifel können sich ferner ergeben, wenn das erstinstanzliche Gericht Tatsachenvortrag der Parteien übergangen hat (BGH NJW-RR 2017, 219 Rn. 10).

Zweifel können sich schließlich aber auch - was der BGH im Fall erneuert - aus der bloßen Möglichkeit unterschiedlicher Wertung ergeben (BGH NJW-RR 2017, 75 Rn. 24), insbes. daraus, dass das Berufungsgericht das Ergebnis einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme anders würdigt als das Gericht der Vorinstanz (stRspr, vgl. ua BGH NJW-RR 2017, 219 Rn. 11, BGH NJW 2016, 3015 Rn. 26 und BGH NJW-RR 2016, 982 Rn. 16). Bestehe aus der für das Berufungsgericht gebotenen Sicht eine gewisse – nicht notwendig überwiegende – Wahrscheinlichkeit dafür, dass im Fall der Beweiserhebung die erstinstanzliche Feststellung keinen Bestand haben werde, sei es zu einer erneuten Tatsachenfeststellung verpflichtet (BGH NJW-RR 2017, 219 Rn. 10, BGH NJW-RR 2017, 75 Rn. 24 und BGH NJW 2016, 3015 Rn. 26).

Dieser Maßstab ist nicht frei von Bedenken. Denn bei eigentlich jeder erstinstanzlichen Beweisaufnahme kann man zweifeln, es für denkbar und jedenfalls nicht für unwahrscheinlich halten, ob das bisherige Beweisergebnis, stellten die Parteien, die Parteivertreter und die Kammer oder der Senat seine eigenen Fragen, ein anderes wäre. Hier setzt die aktuelle Entscheidung an und bietet etwas "Hoffnung". Denn der BGH meint, selbst beurteilen zu können, wie das LG - hätte es § 529 I Nr. 1 ZPO nicht missverstanden - die Sache beurteilt hätte. Er meint, dass LG hätte dann nicht gezweifelt. Denn die Revision zeige nichts auf, was Zweifel hätte begründen können. Hierauf mag die Praxis aufbauen und ihre Schlüsse ziehen.

Im Übrigen

Im Ergebnis musste ein Ex-Gesellschafter (er schied im Jahr 2002 aus der GbR aus) für GbR-Verbindlichkeiten aus dem Jahr 2013 und 2014 haften. Aufgrund einer Klage, die im Jahr 2018 erhoben wurde. Warum?

  • Weil der BGH Rz. 17 für § 160 HGB erstens meint, die Rechtsgrundlage für die Beitragsverbindlichkeiten des Wohnungseigentümers sei bereits mit dem Erwerb des Wohnungseigentums gelegt worden (der lag vor dem Jahr 2002, auch wenn die GbR niemals Sondereigentum erlangt hatte: ihr Raum wurde nie gebaut :-).
  • Und weil er zweitens meint, bei der GbR sei - anders als bei einer Personenhandelsgesellschaft - für den Beginn der Fünfjahresfrist nach § 160 I 2 HGB nicht an die Publizität durch Registereintragung des Ausscheidens anzuknüpfen, sondern an die positive Kenntnis des jeweiligen Gläubigers von dem Ausscheiden des Gesellschafters aus der Gesellschaft.

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