"Wir wollen den Diskurs über virtuelle Beschlussfassungen vorantreiben"

von Tobias Fülbeck, veröffentlicht am 23.03.2021
Rechtsgebiete: Handels- und Gesellschaftsrecht|2195 Aufrufe

Das Thema virtuelle Beschlussfassungen ist durch die Corona-Krise stark in den Fokus gerückt. Welche Erfahrungen haben Kapitalgesellschaften mit den neuen Möglichkeiten gesammelt? Und weshalb sind Vereine so zurückhaltend gewesen? Ein Gespräch mit Rechtsanwältin Dr. Petra Schaffner und Rechtsanwalt Dr. Hendrik Schindler über die Sorgen der Gesellschaften und Vereine und mögliche Nachschärfungen des gesetzgeberischen Rahmens.

Jahrelang gab es Bedenken, die gegen rein virtuelle Abstimmungen geäußert wurden. Diese wurden durch die COVID-19-Gesetzgebung in kürzester Zeit notgedrungen über Bord geworfen. Wie wurden die neuen Regelungen in der Praxis genutzt?

Dr. Petra Schaffner: Diese Bedenken bezogen sich in der Vergangenheit insbesondere auf Aktiengesellschaften, bei denen im Rahmen des geltenden Rechts nach allgemeiner Meinung Hauptversammlungen ohne physische Präsenz der Aktionäre ausgeschlossen sind. Während der Kontaktbeschränkungen aufgrund der Pandemie waren die Unternehmen froh, dass sie ihre Hauptversammlungen überhaupt abhalten konnten. Insofern wurde das Angebot genutzt und die Hauptversammlungen fast aller großen Publikumsgesellschaften nach Februar 2020 fanden virtuell statt. Aber der dogmatische Streit darüber, ob eine rein virtuelle Versammlung überhaupt dem Wesen der Aktiengesellschaft entsprechen kann, dauert an. Von den Aktionären und anderen Stakeholdern wurden die virtuellen Versammlungen unterschiedlich angenommen. Aktionärsvertreter haben deutliche Kritik geäußert.

Weshalb?

Dr. Petra Schaffner: Den Kritikern fehlt zum einen bei einer rein virtuellen Veranstaltung die Interaktion der Gesellschaft mit den Aktionären. Zum anderen wurde kritisiert, dass die Aktionärsrechte zu stark begrenzt worden seien, das sei auf Dauer nicht hinnehmbar. Letzterem ist sicher zuzustimmen: Die im vergangenen Jahr innerhalb kürzester Zeit geschaffene COVID-19-Gesetzgebung trug der Pandemie Rechnung und sollte die Unternehmen in die Lage versetzen, ihre Hauptversammlungen überhaupt durchführen zu können. Damit die Möglichkeit der virtuellen Versammlung auch tatsächlich in Anspruch genommen wird, hat man die Rechte der Aktionäre relativ stark beschränkt. So sollten Anfechtungsrisiken ausgeschlossen werden. Und um unnötige Risiken zu vermeiden, wurde dies von den Unternehmen überwiegend durch Erfüllung der gesetzlichen Mindestvorgaben umgesetzt ohne insbesondere in als kritisch angesehenen Punkten darüber hinauszugehen. Soweit ersichtlich, hat beispielsweise kaum eine Publikumsgesellschaft Fragen noch während der Versammlung zugelassen, andererseits haben viele Gesellschaften fast alle gestellten Fragen beantwortet.

Was sind weitere kritische Punkte?

Dr. Petra Schaffner: Der Gesetzgeber hatte nicht geklärt, wie mit Gegenanträgen umzugehen ist, die normalerweise mündlich in der Versammlung gestellt werden müssen. Hier sind viele Gesellschaften den Aktionären entgegengekommen und haben eine Fiktion angenommen: Sofern veröffentlichungspflichtige Gegenanträge eingegangen waren, wurden diese behandelt, als ob sie in der Hauptversammlung mündlich gestellt worden seien. Dies wurde mittlerweile auch gesetzlich so geregelt. Außerdem hat der Gesetzgeber nunmehr die Fragemöglichkeit zu einem Fragerecht gestärkt und die Frist zur Einreichung von Fragen von zwei Tagen auf einen Tag vor der Versammlung verkürzt.

Welche Reaktionen gibt es von den Gesellschaften auf die Kritik?

Dr. Petra Schaffner: Einige Unternehmen veröffentlichen die Rede des Vorstands bereits vorab, so dass in den Fragen, die vor der Versammlung eingereicht werden müssen, bereits auf die Rede Bezug genommen werden kann. Auch gibt es Überlegungen, sogenannte Nachfragen noch während der Hauptversammlung zu ermöglichen. Die Sorgen sind immer dieselben: Anfechtungsrisiken und chaotische Zustände. So wurde immer die Befürchtung geäußert, dass es bei Live-Zuschaltungen von Aktionären zu unangemessenem Verhalten kommen könne, etwa zu politischen Äußerungen, die dort nicht hingehören, bis hin zu Hetzreden. Bei Präsenzversammlungen steht dem Versammlungsleiter ein gewohntes Instrumentarium zu Verfügung, etwa, dass man äußerstenfalls das Mikrofon des Redners abschaltet. Im virtuellen Raum gab es hier Unsicherheiten.

Wo sollte der Gesetzgeber nachschärfen?

Dr. Petra Schaffner: Bei der virtuellen Hauptversammlung besteht Unsicherheit auf Seiten der Gesellschaften, wie der Versammlungsleiter eingreifen darf, um bestimmte Aktionärsrechte zu begrenzen – etwa wenn elektronische Fragen noch während der Versammlung zugelassen werden. Wenn einzelne Aktionäre die Gesellschaft so sehr mit Fragen bombardieren, dass die anderen Aktionäre nicht mehr zum Zuge kommen, dürfte das im Interesse der wenigsten Stakeholder sein. Der Versammlungsleiter muss daher auch bei virtuellen Teilnahmeformen durchgreifen können und Möglichkeiten haben, Missbrauch zu verhindern.

Noch ein Blick nach vorn: Hat sich 2022 das Thema virtuelle Hauptversammlung erledigt?

Dr. Petra Schaffner: Nein, es ist davon auszugehen, dass virtuelle Teilnahmemöglichkeiten bleiben werden, die über die bisherigen Regelungen des Aktiengesetzes hinausgehen. Die fortschreitende Digitalisierung und EU-Einflüsse werden diese Entwicklung verstärken. Ein zentraler Punkt wird sicherlich das Fragerecht sein. In einigen Ländern in der EU gibt es bereits jetzt die Möglichkeit, einen Teil der Fragen ins Vorfeld der Hauptversammlung zu verlegen. Das könnte unter Umständen die Qualität der Fragenbeantwortung steigern und die Kommunikation untereinander verbessern. In Deutschland ist das bisher noch nicht vorgesehen. Hier könnte es beispielsweise noch Bewegung geben.

Nun ein Perspektivwechsel und zu Ihnen, Herr Dr. Schindler. Wie ist die Situation bei der GmbH und bei Vereinen?

Dr. Hendrik Schindler: Der Gesetzgeber hat durch die COVID-19-Gesetzgebung bei den Aktiengesellschaften eine relativ große Rechtssicherheit geschaffen, weshalb die virtuellen Versammlungen dort auch gut angenommen wurden. Die GmbH, immerhin die häufigste Rechtsform in Deutschland, taucht in der Diskussion um virtuelle Beschlussfassungen hingegen kaum auf. Der Gesetzgeber hat hierzu auch im Zuge der COVID-19-Gesetzgebung nichts geregelt, sondern nur das schriftliche Verfahren erleichtert. Jetzt kann man natürlich nicht nur auf den Gesetzgeber warten. Wenn virtuelle Versammlungen genutzt werden sollen, ist es Aufgabe beratender Anwälte und Notare, sie als moderne Entscheidungsform in den Satzungen zu verankern. Wegen der weitreichenden Satzungs- beziehungsweise Privatautonomie betrifft dies neben der GmbH, auch die Kommanditgesellschaft, die OHG, die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und den Verein.

Blicken wir auf Großvereine, die jeder kennt: Die Fußball-Bundesliga-Vereine. Wie ist die Situation dort?

Dr. Hendrik Schindler: Dass von den Vereinen der Bundesliga und der 2. Liga mit einer Ausnahme bislang kein einziger Verein kraft seiner Satzung eine teilvirtuelle Versammlung ermöglicht zeigt, dass fast alle auf diese Situation nicht vorbereitet waren. Ich habe eine ganze Reihe größerer Vereine und Verbände zum Thema virtuelle Mitgliederversammlung während der Corona-Pandemie beraten. Die meisten haben hinterher von einer virtuellen Versammlung Abstand genommen, weil durch die bisherige Gesetzeslage eine erhebliche Rechtsunsicherheit besteht. Der Umstand, dass der FC Bayern München e.V. jetzt seine Jahreshauptversammlung 2020 in das nächste Geschäftsjahr verlegt, um eine virtuelle Versammlung zu vermeiden, halte ich angesichts der derzeitigen Gesetzeslage aber ebenfalls für problematisch, da ein Verlegen nur im Falle der Unzumutbarkeit für Mitglieder und Verein erfolgen kann. Es zeigt aber, dass es auch bei großen Vereinen bislang keinen starken Willen gibt, die Möglichkeit der virtuellen Versammlung zu nutzen, um einen größeren Kreis an Mitgliedern zu erreichen. Und dies, obwohl die virtuelle bzw. teilvirtuelle Mitgliederversammlung für solche Vereine geradezu ideal wäre, möglichst viele Mitglieder zu erreichen. So aber entscheiden in den großen Vereinen in der Regel nur ein paar Prozent der Mitglieder über wichtige Fragen des Vereinslebens wie beispielsweise die Wahl des Vorstands.

Neben der fehlenden Vorbereitung: Was waren weitere Sorgen?

Dr. Hendrik Schindler: Eine entscheidende Frage war die Sicherstellung der wesentlichen Mitgliedschaftsrechte während der Versammlung Das sind neben dem Stimmrecht vor allem das Fragerecht und  das Rederecht – also das, was Frau Schaffner zutreffend mit Interaktion beschrieben hat. Wer schon einmal auf einer großen Versammlung von Bundesligavereinen war, der weiß, wie es da abläuft. Es kann turbulent werden, manchmal kochen die Emotionen hoch. Bei der Präsenzversammlung ist das Vorgehen dann eingespielt. Bei der virtuellen Versammlung stellt sich aber die Frage, wie man damit umgeht, wenn bei Nutzung von Chat- und Videofunktion sehr viele Mitglieder Fragen stellen wollen, der Vorstand bzw. Versammlungsleiter aber gleichzeitig bei der Beantwortung keine Auswahl treffen darf. Muss man die Versammlung dann auf mehrere Tage ausdehnen? Außerdem wurde die Frage diskutiert, welche Folgen es hat, wenn eine Person eine Frage stellt, diese angesichts der Vielzahl der Fragen aber nicht beantwortet wird. Im schlimmsten Fall könnte dies die Nichtigkeit der in der Versammlung gefassten Beschlüsse zur Folge haben. Anders als bei der Aktiengesellschaft hat der Gesetzgeber für den Verein auch während der Pandemie ja gerade keine Beschränkung der Mitgliedschaftsrechte vorgesehen.

Was für gesetzgeberische Initiativen hätten Sie sich in dieser Situation gewünscht?

Dr. Hendrik Schindler: Das Vereinsrecht hätte an das Aktienrecht angepasst werden können, was leider nicht geschehen ist. Der Gesetzgeber könnte außerdem den Versammlungsbegriff erweitern. Der vereinsrechtliche Versammlungsbegriff wird bislang noch sehr traditionell verstanden und umfasst nach der herrschenden Meinung allein die reine Präsenzveranstaltung. Hier würde es reichen, wenn der Gesetzgeber vorgibt, dass eine Versammlung im Rechtssinne auch dann gegeben ist, wenn Mitglieder in Echtzeit mittels elektronischer Übertragung an der Versammlung teilnehmen und ihre Rechte ausüben können. Dann hätten Vereine auch ohne ausdrückliche Satzungsermächtigung die Möglichkeit, eine virtuelle Versammlung abzuhalten. Dies sollte im digitalen Zeitalter eigentlich selbstverständlich sein.

Sie haben zu den Themen dieses Gesprächs gemeinsam mit Frau Dr. Schaffner ein Fachbuch veröffentlicht. An wen richtet es sich?

Dr. Hendrik Schindler: Wir wollen den Diskurs über das Thema virtuelle Beschlussfassung vorantreiben – und zwar rechtsformübergreifend. Wir haben das Werk für eine breite Zielgruppe geschrieben, etwa Rechtsanwälte und Richter, vor allem aber für Juristen, Vorstände und Geschäftsführer in Aktiengesellschaften, Gesellschaften mit beschränkter Haftung und Vereinen, die sich derzeit mit dieser sehr aktuellen Frage befassen. Dabei ist die COVID-19-Gesetzgebung nur ein kleiner Teilaspekt, da wir glauben, dass uns die virtuelle Beschlussfassung auch nach dem Ende der Pandemie weiter intensiv beschäftigen wird.

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