BAG: Urteilsgründe in Sachen "Crowdworking" liegen vor

von Prof. Dr. Christian Rolfs, veröffentlicht am 20.04.2021
Rechtsgebiete: Bürgerliches RechtArbeitsrecht4|4211 Aufrufe

Mit Urteil vom 1.12.2020 hat das BAG entschieden, dass "Crowdworker" Arbeitnehmer sein können, auch wenn vertraglich eine selbständige Tätigkeit vereinbart wurde. Die Entscheidungsgründe dieses vielbeachteten Urteils (siehe schon hier im BeckBlog) sind jetzt veröffentlicht worden:

Wichtig ist zunächst einmal der Tatbestand: Im Vertrag zwischen der beklagten Plattformbetreiberin und dem Kläger war ausdrücklich vereinbart, dass mit der Annahme des über die Plattform ausgeschriebenen Auftrags ein Vertragsverhältnis zwischen diesen Parteien zustande kommt. Die "eigentlichen" Auftraggeber blieben in Hintergrund. Sie standen lediglich zu der Beklagten in einem Vertragsverhältnis, die ihre Aufträge "atomisierte" und über die Plattform als "Kleinstaufträge" an die Crowdworker, darunter den Kläger, vergab. Gegenstand der Aufträge war die Kontrolle, ob bestimmte Markenprodukte im Einzelhandel und an Tankstellen vertragsgemäß präsentiert wurden. In einem Zeitraum von 11 Monaten führte der Kläger fast 3.000 Kontrollen im Rahmen (vermeintlicher) Einzelaufträge durch.

Zwar blieb der Kläger mit seinem Kündigungsschutzantrag erfolglos. Die vom Streitgegenstand des § 4 Satz 1 KSchG mitumfasste Frage, ob er im Zeitpunkt der Kündigung in einem Arbeitsverhältnis gestanden hat, bejahte das BAG aber:

(Rn. 45) Die nach § 611a Abs. 1 Satz 5 BGB vorzunehmende Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass der Kläger im Rahmen der tatsächlichen Vertragsdurchführung in arbeitnehmertypischer Weise weisungsgebundene und fremdbestimmte Arbeit leistete. Dafür fällt maßgeblich ins Gewicht, dass der Kläger zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet war (1), die geschuldete Tätigkeit ihrer Eigenart nach einfach gelagert und ihre Durchführung inhaltlich vorgegeben waren (2). Von besonderer Bedeutung ist zudem die konkrete Nutzung der App als Mittel der Fremdbestimmung bei der Auftragsvergabe (3).

Wegen des vom Kläger geltend gemachten Anspruchs auf Annahmeverzugslohn (§ 615 Satz 1 BGB) hat das BAG den Rechtsstreit an das LAG München zurückverwiesen.

BAG, Urt. vom 1.12.2020 - 9 AZR 102/20, BeckRS 2020, 41799

*Aktenzeichen nachgetragen

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4 Kommentare

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Ein Aktenzeichen im Text wäre schon nützlich. Mit der schlichten Verweisung auf BeckRS kann nicht jeder etwas anfangen.

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Thüsing hat das Urteil kürzlich kritisiert:

"Der Arbeitsrechtler horcht auf: Die Lenkung ersetzt die Weisung... Wenn es künftig tatsächlich nicht mehr auf die Weisung ankommt, sondern die Lenkung genügt, wird es schwierig sein zu bestimmen, welche Lenkung unzulässig ist und welche nicht... Der Schritt ist also folgenreich, wenn er tatsächlich als grundsätzliche Neujustierung und weniger als einzelfallbezogene Suche nach gerechten Ergebnissen zu verstehen ist..."

(Thüsing, Der gelenkte Arbeitnehmer - Das Bundesarbeitsgericht definiert in seinem Urteil zu Crowdworkern den Arbeitnehmerbegriff neu, FAZ vom 14.4.2021)

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Lieber Prof Rolfs,

schön, dass Sie die Entscheidung diskutieren. Die Entscheidung wird als "Rechtsfortbildung" meines Erachtens fehlinterpretiert und der Begriff "Lenkung" ist in Bezug auf den Fall zu unbestimmt. Ich habe sie als Bestätigung des bestehenden Rechts erlebt und besser passt der Begriff "Steuerung". Es ging um Subsumption entlang des Leitgedankens, dass sich Dauerschuldverhältnisse durch ihre Umsetzung konkretisieren. Bei den Crowdworkern gibt es gelegentliche Nutzer und "Poweruser." Wenn Arbeitgeber zur Steuerung ihrer Belegschaft neue Techniken nutzen, ist das nachvollziehbar, aber ohne Einfluss auf die Leistungsbeziehung. Die Weisungsdichte war in dem konkreten Fall hoch. Die Vorinstanz zog ein Arbeitsverhältnis ernsthaft in Erwägung, prüfte dies aber nicht abschließend, weil sie von eine Befristung ausging und die für Entfristungsklagen relevante Klagefrist nicht gewahrt war. Der sorgfältig herausgearbeitete Tatbestand der Vorinstanz umfasste zehn Seiten Sitzungsprotokoll. Dies mag bei Erstellung des Artikels für die FAZ unbekannt gewesen sein. Bei Plattformarbeit geht es um „regulation by design.“ Weisungen können sich auch aus Auftragsbeschreibungen, AGBs und Verträgen ergeben. Das ist gerade bei Routinearbeiten für Plattformbetreiber der Regelfall. Dann liegt aber ein Arbeitsverhältnis nahe, wie es das BAG schon für die Zeitungszusteller so beurteilt hat. Crowdwork ist die Nutzung einer technischen Möglichkeit, nicht der Abschied von das Arbeitsverhältnis prägender Merkmale. Das Arbeitsrecht ist zukunftsfester, als manchmal angenommen wird. Man darf Schutzbedarfe für Randbereiche nicht übersehen. Bei Crowdwork geht es im Regelfall darum Weisungs- und Fremdbestimmungsmerkmale digitalisiert dem Arbeitnehmer zu übermitteln. Das muss in Klagen heraus gearbeitet werden. Denn es fehlen ausreichende Fallstudien darüber, wie tatsächlich gearbeitet wird. Aber neue Techniken verändern keine Leistungsbeziehungen, sie lassen diese aber jedenfalls solange wie man mit den neuen Techniken nicht ausreichend vertraut ist, weniger transparent erscheinen. Dennoch finden unselbständige Produktionsschritte und Mitwirkungshandlungen an Dienstleistungsangeboten in aller Regel im Arbeitsverhältnis und nicht auf dem freien Markt statt.

Die erste Kündigung wurde als unwirksam angesehen, zur weiten Kündigung wurde eine Anhörungsrüge eingereicht. Das Urteil vom 1.12.2020 übersieht, dass die Revision nicht nur die Formmängel (darauf geht die Entscheidung ein), sondern auch die Sozialwidrigkeit der Kündigung gerügt hat,

Beste Grüße

Rüdiger Helm

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