Gedanken zu Afghanistan und Schutzpflicht der Bundesrepublik Deutschland

von Dr. Michael Selk, veröffentlicht am 28.08.2021
Rechtsgebiete: Öffentliches RechtStaatsrechtRechtspolitik4|3923 Aufrufe

Wenn man seit Tagen und bald Wochen die Ereignisse in Afghanistan verfolgt, stellen sich m.E. auch grundrechtsrelevante Fragen von nicht unerheblicher Brisanz.

Wir erinnern noch das Schleyer-Urteil des BVerfG, BVerfGE 46, 160. Das BVerfG hielt seinerzeit den Eilantrag des entführten Arbeitgeberpräsidenten für zulässig, in der Sache aber wegen des Spielraums der Entscheidungsmöglichkeiten und der Entscheidungsverantwortung der staatlichen Gewalt für unbegründet. Zwar könne sich die Entscheidung bei der Wahl der Mittel auf eine einzige richtige reduzieren, das sei aber da nicht der Fall. Spätestens seit diesem Urteil steht indes fest, dass auch der Einzelne in sehr engen Grenzen einen Anspruch auf staatliches Einschreiten und staatliche Hilfe erhalten kann, insbesondere dann, wenn es um die unmittelbar bevostehende Beeinträchtigung des Rechtsguts Leben geht, Art. 1 I i.V.m. Art. 2 II GG.

Zwar richtet sich die so abgeleitete Schutzpflicht primär gegen den Gesetzgeber. Aber auch die anderen Staatsgewalten sind ihr verpflichtet, Art. 1 III GG, also auch die Exekutive, s. nur BVerfGE 56,64. 

Für die deutschen Staatsangehörigen in Afghanistan steht auch nach den Erklärungen der Bundesregierung der letzten Tage fest, dass diese viel zu spät aus dem Land herausgeflogen worden sind. Die Wahrscheinlichkeit für eine Beeinträchtigung von Leib und Leben durch die Taliban ist unstreitig hoch (gewesen). Verfassungsrechtlich wird man angesichts dieser Ausnahmesitutation von einer Verletzung der staatlichen Schutzpflicht ausgehen können, zumal nicht ersichtlich ist, warum eine andere Entscheidung als das rechtzeitige Ausfliegen der deutschen Staatsangehörigen richtig gewesen sein soll. Will man an der Zuständigkeit der Exekutive zweifeln, so hätte die Legislative rechtzeitig Normen für diese Situation schaffen müssen. An der Schutzpflichtverletzung ändert dies nichts.

Interessanter ist die rechtliche Situation für die afghanischen "Ortskräfte" - bislang war hier stets nur von einer moralischen Pflicht die Rede, diesen zu helfen und sie "herauszuholen".  Andere Möglichkeiten der Hilfe, auch der Selbsthilfe, sind in tatsächlicher Hinsicht nicht ersichtlich (vgl. BVerfG NJW-RR 2016, 193). Wichtig ist zunächt die Erkenntnis, dass Art. 1, 2 II GG sog. "Jedermann"-Grundrechte sind - auch die staatliche Schutzpflicht ist nicht auf deutsche Staatsangehörige beschränkt. Klar ist, dass eine allgemeine Rundumverantwortung des deutschen Staates für Gefährdungen von Ausländern weltweit gewiss verfassungsrechtlich nicht besteht. Anders aber könnte die Lage dann sein, wenn die deutschen Staatsorgane durch ihr Verhalten die Gefährdungslage - auch mit Zustimmung der betroffenen Nichtdeutschen, hier also der "Ortskräfte" - gerade erst "geschaffen" haben. Die Figur der Ingerenz - Garantenstellung durch vergangenes Tun - ist aus dem Strafrecht bekannt; sie kommt auch bei rechtmäßigen Vorverhalten in Frage. Verfassungsrechtlich wird dies tatsächlich bislang, soweit ersichtlich, noch nicht diskutiert. Allerdings spricht viel dafür, dieses Vorverhalten als begrenzendes Korrektiv gegen eine sonst allumfassende Schutzpflicht zu bejahen. Auch das BVerfG hat im sog. Klimaschutzurteil die Verursachung durch die menschenverursachte Erderwärmung und daraus zu ziehende Folgen auch für die staatliche Schutzpflicht betont (vgl. BVerfG, NJW 2021ff Rn 108) betont - Folgen eben auch eines Vorverhaltens. 

Es spricht also viel dafür, auch eine verfassungsrechtliche Verantwortung der Bundesrepublik gegenüber den "Ortskräften" in Afghanistan zu bejahen. Eine ganz andere Frage ist nun, wie diese Schutzpflicht heute noch nach dem Abzug der Bundeswehr dort erfüllt werden kann. Angesichts der überragenden Bedeutung des Rechtsguts "Leben" ist auch hier der Entscheidungsspeilraum eingeengt - auf unsichere Maßnahmen darf nicht verwiesen werden. Als Möglichkeiten kommen in Betracht das unverzügliche Hinwirken auf einen gemeinsamen Einsatz ggf. auch unter Führung der NATO, sofern diplomatische Mittel scheitern - letzteres ist angesichts des Umstands, dass man sich auf Versprechen der Taliban nicht verlassen kann, leider eher wahrscheinlich.

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4 Kommentare

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Die Verletzung einer staatlichen Schutzpflicht anzunehmen ist schon etwas gewagt. Jeder, der in Afghanistan war, kannte das Risiko. Es ist ein Land, wo ein Ausländer jederzeit sterben kann, und in dem vor allem der Vormarsch der Taliban nicht über nacht kam genau wie die Abzugspläne bekannt waren. Im Übrigen haben die Taliban die Ausländer zum Flughafen gelassen, nur die Afghanen dürfen nicht verschwinden. Mit einem ausländischen Pass ist man also nicht in erster Linie "gefährdet". Natürlich gibt es viele praktische Probleme, wie z.B. der Transport zum Flughafen, aber ob dafür die deutsche Bundesregierung verantwortlich gemacht werden kann? Das klingt doch ein bisschen nach einer Vollkaskomentalität. Man kann von der Bundesregierung erwarten, dass sie sich bemüht, die restlichen Deutschen (falls es welche gibt), auszufliegen, und ggf. auch mit den Führern in Kabul zu verhandeln, aber mehr zu fordern erscheint von den praktischen Möglichkeiten schwierig zu sein.

Bei den Ortskräften handelt es sich sicherlich um eine Tragödie, allerdings hatte der Bundestag (als noch eine Rettung weit möglich war) das Gegenteil beschlossen. Das ist erstmal hinzunehmen, auch von der Bundesregierung. Dass er es jetzt - wo eine Rettung kaum möglich ist - anders entschieden hat, machts nicht besser. Das ist eine politische Frage also.

Ob man bei den Ortskräften mit dem Grundgesetz argumentieren kann? Afghanistan ist nicht Geltungsbereich des GG und selbst wenn man den Geltungsbereich auf das von den deutschen Soldaten besetzte Gebiet in Afghanistan ausdehnen würde, würde es an den Kapazitäten der Bundeswehr scheitern. Würde man die GG-Lösung weiterdenken, müsste man ja - wenn eine Pflicht bestünde - sogar einen neuen Bundeswehreinsatz (vermutlich dann ein Kampfeinsatz) in einem fremden Land fordern. Ohne Sicherheitsratsbeschluss usw. rechtlich und welt- und außenpolitisch undenkbar. Und dann stellt sich natürlich die Frage, warum man mit dieser Lesart des Grundgesetzes nicht in jedem anderen Land der Erde einmarschiert, um Art. 2 II GG durchzusetzen. Rechtlich geboten ist das natürlich nicht, denn das Grundgesetz gilt natürlich nicht für Afghanistan und jenseits der politisch-moralischen Verpflichtung kann es eine solche Verpflichtung nicht geben. Mehr als ein außenpolitisches Bemühen (=vermutlich Geldzahlungen) wird daher für die Bundesregierung nicht möglich sein und vermutlich auch politisch nicht gewollt sein.

Dass in diesem Zusammenhang gerade das Klimaschutz-Urteil angeführt wird, spricht nicht gerade für die Durchdachtheit dieser BVerfG-Entscheidung. Man kann in der Klimapolitik nicht andere Staaten zwingen beim Klimaschutz mitzumachen, man kann nur Überzeugungsarbeit leisten und sich als ehrlicher Makler oder Kooperationspartner anbieten. Als Deutsche sollte man sich hüten zu denken, man wüsste es besser als die anderen Staaten der Erde. Das gilt dann letztlich auch für außenpolitische Einmischungen in die Angelenheiten anderer Staaten.

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Danke für den Kommentar. Nun, die Kenntnis von der Gefahr spielt aus meiner Sicht grundrechtlich keine Rolle (es sei denn, man bejaht einen wirksamen Verzicht auf Grundrechte auch insofern, aber das wird nicht wirklich vertreten). Richtig ist, dass der Bundestag dem Antrag der Grünen zunächst nicht stattgab - aber die Gefährdungslage hat sich seitdem weiter verdichtet, so dass m.E. dann die Eilkompletenz der Bundesregierung griff. Zur rechtlichen Verpflichtung ist m.E. alles gesagt - die Garantenstellung aus Ingerenz unterscheidet diese Fälle von anderen.

Im Sinne  verfassungsrechtlicher Verantwortung assoziiere ich meinerseits im Hinblick auf die isoweit  aktuelle Diskussion auch die  Einführung einer Impfpflicht zur Bekämpfung der Corona Pandemie: Ist die Begründung einer solchen Impfflicht durch Gesetz nicht eine Rechtspflicht des Staates angesichts der verbreiteten Erkenntnis, dass es ohne die Imfung bis annährend 100% der Bevölkerung  einen wirksamen Schutz gegen die Ansteckung nicht gibt und ohne die Impfpflicht angesichts der Vielzahl der Impfverweigerer dieser Schutz nicht gewährleistet werden kann?  

In der Tat: eine Tragödie. Sie schlagen zur Rettung von Leben einen neuen (NATO-) Einsatz vor. Abseits der schon o.g. rechtlichen Schwierigkeiten (UN-Mandat usw): ein neuer Einsatz kostet unweigerlich ebenfalls Leben. Und irgendwann würde man ihn beenden müssen. Dann stünde man wieder da wie jetzt.

Hier führt Versagen zur Tragödie. Versagen derer, die zu schnell abgezogen sind, wo wohl mit relativ wenig Aufwand wenigstens die großen Städte hätten weiter gesichert werden können. Versagen der dortigen Regierung, die und deren Kräfte einfach in sich zusammengefallen sind. Nach 20 Jahren westl. Präsenz. Und ein Versagen derer, die jene Menschen, die für uns Risiken eingegangen sind, im Stich gelassen haben - in Sonntagsreden Asyl für Jedermann fordernd, aber diejenigen, die es verdienen, sich selbst überlassend.

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