OLG Hamm zur eingeschränkten Akteneinsicht der Nebenklägerin bei "Aussage-gegen-Aussage"

von Carsten Krumm, veröffentlicht am 28.10.2021
Rechtsgebiete: Verkehrsrecht|2833 Aufrufe

Aussagen-gegen-Aussage-Situationen sind schwierig zu behandeln. Gerade bei oft lang zurückliegenden Ereignissen und mehrfachen Vernehmungen oder anderweitigen Aussagen des Tatofers im Laufe der Zeit ist auch die Entwicklung der Aussage vom Gericht zu prüfen. Gleichzeitig müssen Angeklagter und Gericht befürchten, dass eine Akteneinsicht des Tatopfers dazu führen kann, dass Aussagen auswendig gelernt oder später im Rahmen einer Vernehmung in der Hauptverhandlung (z.B. durch Korrekturen oder Ergänzungen) "geradegezogen" werden. Insoweit spricht Vieles dafür, dem Nebenkläger in derartigen Konstellationen keine Akteneinsicht zu geben. Zumindest sollte sie beschränkt werden. So sieht das auch das OLG Hamm. Es weist dabei ganz richtig darauf hin, dass doch nach der Vernehmung in der Hauptverhandlung ergänzende Akteneinsicht in die vorenthaltenen Aktenbestandteile genommen werden könne:

 

Der Senat kann dahinstehen lassen, ob in Konstellationen, in denen Aussage gegen Aussage steht, bei Gewährung von Akteneinsicht an die Nebenklägervertreterin generell eine Gefährdung des Untersuchungszwecks i.S.v. § 406e Abs. 2 S. 2 StPO zu gewärtigen ist (OLG Hamburg, Beschl. v. 21.03.2016 – 1 Ws 40/16 – juris; Eisenberg JR 2016, 390, 394; Hinderer StraFo 2016, 76 ff.) oder ob eine solche erst nach Betrachtung der Umstände des Einzelfalls angenommen werden kann (so etwa: KG Berlin StraFo 2019, 116 f.; OLG Braunschweig StraFo 2016, 75, 76; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 05.02.2021 – 2 Ws 27/21 – juris). Auch wenn man der zweiten Auffassung folgt, führt die Ausübung des durch die Norm eingeräumten Ermessens, zu dessen Überprüfung der Senat mangels gesetzlicher Beschränkung der Überprüfungskompetenz (wie etwa in § 453 Abs. 2 StPO) in vollem Umfang berufen ist (vgl. § 309 Abs. 2 StPO), dazu, im vorliegenden Fall nur eine eingeschränkte Akteneinsicht in dem vom Landgericht vorgenommenen Umfang zu gewähren. Der Angeklagte bestreitet die Tat und es liegt eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation vor. Es wird daher im Hauptverfahren auf eine eingehende Würdigung der den Angeklagten belastenden Aussage der Nebenklägerin einschließlich ihrer Entstehungsgeschichte und Aussagekonstanz ankommen. Zwar drängt die Kenntnis der Verfahrensakten nicht zur Annahme der Unrichtigkeit von Aussagen und mit der Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts geht nicht typischerweise eine Entwertung des Realitätskriteriums der Aussagekonstanz einher (BGH JR 2016, 390 und BGH JR 2016, 391). Auch ist vorliegend angesichts des geringen Alters der Nebenklägerin und der Zusicherung der Nebenklägervertreterin, ihr den Akteninhalt nicht zugänglich zu machen, nicht zu gewärtigen, dass die Nebenklägerin ihre verschriftlichte Aussage bzw. Teile der verschriftlichen Aussage ihrer Mutter gleichsam „zum Auswendiglernen“ erhält. Andererseits war die Aussage der Nebenklägerin im Ermittlungsverfahren bei der Polizei so detailarm (und Angaben zum Tatgeschehen erfolgten eher mühsam und auf immer erneute Vorhalte), dass die Kenntnis der Akteninhalte – und sei dies auch nur durch entsprechende Vorhalte im Rahmen eines vorbereitenden Gesprächs mit der Nebenklägervertreterin – sehr wohl die Würdigung der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben im Hauptverfahren erschweren und damit den Untersuchungszweck gefährden könnte. Demgegenüber ist die Beeinträchtigung der Rechte der Nebenklägerin gering, denn – wie der Nichtabhilfebeschluss zutreffend ausführt – ihrer anwaltlichen Vertreterin kann unmittelbar nach ihrer Vernehmung bzw. der Vernehmung ihrer Mutter und noch vor Entlassung dieser Zeugen Akteneinsicht gewährt werden, so dass diesen entsprechende Vorhalte - nach einer zunächst von etwaigen Kenntnissen der Akteninhalte unbeeinflussten Aussage - gemacht werden können. Sollte eine längere Verhandlungspause innerhalb eines Verhandlungstages für die Wahrnehmung der Akteneinsicht nicht ausreichen, wird das Landgericht ggf. auch die Anberaumung eines weiteren Fortsetzungstermins in Erwägung ziehen müssen.

  OLG Hamm, Beschl. v. 6.9.21 - 4 Ws 153/21 bei nrwe
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